James Fenimore Cooper: Der letzte Mohikaner

Cooper wird von den meisten deutschen Lesern als eine Art von us-amerikanischem Karl May angesehen. Das liegt natürlich daran, dass ihn viele nur als Autor des „Lederstrumpf“ kennen und das zumeist noch aus für die heranreifende Jugend bearbeiteten Ausgaben, die das fünfbändige Werk zumeist auf das irokesischste grausamste zusammenstreichen und auf den reinen Abenteuerplot reduzieren. Hanser hat nun vor knapp zehn Jahren den in Deutschland bekanntesten Roman des Zyklus als Klassiker neu herausgegeben, das heißt, neu übersetzt und philologisch ordentlich ediert und kommentiert, wie sich das für einen klassischen Text gehört. Dabei hat die Herausgeberin und Übersetzerin Karen Lauer ganze Arbeit geleistet: Sie macht die Unterschiede der drei zu Lebzeiten Coopers entstanden Ausgaben (1826, 1831 und 1850) sichtbar, nimmt den Text in all seinen Details und Tendenzen ernst und liefert ein kenntnisreiches Nachwort und ebensolche Anmerkungen zum Text.

Der Plot ist kurz erzählt und für ein Abenteuer-Buch genau richtig: Die Handlung spielt im Jahr 1757, also während des Siebenjährigen Krieges, in der Gegend um Fort William Henry am Südufer des Lake George im nördliche Teil des Staates New York. Im Zentrum steht eine kleine Gruppe von Weißen: ein Major Duncan Heyward, der versucht, die beiden Töchter, Alice und Cora, des kommandierenden Offiziers von Fort Henry, Oberst George Munro, in aller Stille zu ihm zu bringen. Dieser Gruppe schließt sich der fromme Sänger David Gamut an, der nicht nur als ebenso gottgläubiger wie vorerst unnützer Vorzeigechrist fungiert, sondern in der späteren Handlung durchaus eine Schlüsselrolle zugespielt bekommt. Geführt wird die Gruppe von einem Indianer, Magua, der sich nur allzu bald als der Hauptbösewicht des Textes erweisen soll. Die Gruppe trifft nach kurzer Reise auf Natty Bumppo, genannt Falkenauge, und seinen indianischen Freund Chingachgook und dessen Sohn Uncas. Natty Bumppo und Chingachgook verbinden den Roman mit dem 1823 erschienen Die Ansiedler, dessen Handlung allerdings deutlich später spielt und die beiden Freunde als alte Männer vorführt.

Natürlich gerät die Gruppe bald in Gefahr durch feindliche Indianer, vor denen sie sich zwar eine Weile verstecken können, von denen sie aber schließlich angegriffen und zum Teil gefangen genommen werden. Ebenso natürlich entziehen sich die drei Helden des Romans dem feindlichen Zugriff und nehmen die Verfolgung auf. Am Ende spitzt sich das Geschehen zu auf die Befreiung einer der Töchter Munros, die der Schurke des Romans unbedingt zu seiner Squaw machen will.

Eingebettet in diesen Abenteuer-Plot findet sich die Beschreibung des historischen Massakers, das 1757 an der abziehenden englischen Besatzung von Fort William Henry durch feindliche Indianer unter Duldung des französischen Militärs verübt wurde. Dieses grausame Abschlachten von Menschen, denen freies Geleit zugesichert worden war, stellt eines der Kriegsverbrechen in der Auseinandersetzung zwischen den Engländern und Franzosen in der Zeit des Siebenjährigen Krieges in Nordamerika dar. Mit der Darstellung dieses Ereignisses macht Cooper seinen Letzten Mohikaner zum ersten us-amerikanischen Beispiel für den kurz zu vorher erst erfundenen Historischen Roman.

Zudem wird der Abenteuer-Plot durch eine weitgehend un­vor­ein­ge­nom­me­ne Schilderung indianischer Bräuche und Sitten ergänzt, ja Cooper versucht tatsächlich so etwas wie ein objektives Bild vom Leben in der Wildnis der Staaten vor Gründung der USA zu liefern. Sicherlich war auch er nicht frei von Vorurteilen und das für die Spannung der Handlung erforderliche Schwarz-Weiß seiner Darstellung ist ebenfalls nicht unbedingt förderlich, aber alles in allem liefert er ein wirklichkeitsnahes und durchweg informatives Portrait der in den Krieg der Weißen verwickelten Indianerstämme.

Allen, die daran interessiert sind, warum Cooper eben nicht nur ein amerikanischer Karl May, sondern bedeutend mehr war, sei dieses sorgfältig gemachte und gut ausgestatteten Buch empfohlen.

James Fenimore Cooper: Der letzte Mohikaner. Ein Bericht aus dem Jahre 1757. Aus dem Englischen von Karen Lauer. München: Hanser, 2013. Leinen, bedruckter Vorsatz, Fadenheftung, Lesebändchen, 656 Seiten. 34,90 €.

Fjodor Dostojewskij: Weiße Nächte

Doch noch ein Nachklapp zu meiner Dostojewskij-Lektüre: Weiße Nächte ist im Schicksalsjahr Dostojewskijs 1848 entstanden und erschienen, in dem er später verhaftet und in der Folge zum Tode verurteilt, begnadigt und nach Sibirien strafverschickt wurde. Das kleine Büchlein trägt die Genre-Bezeichnung „Ein empfindsamer Roman“; seiner Länge entsprechend hat es sein früherer Übersetzer Alexander Eliasberg ganz richtig als Novelle eingeordnet. Erzählt wird von vier Nächten im Hochsommer in Sankt Petersburg, wo es bekanntlich in dieser Zeit nicht mehr richtig dunkel wird. Dort trifft ein romantisch-verträumter Flaneur auf ein junges, eher praktisch veranlagtes Mädchen, das er vor einer unschicklichen Belästigung beschützen kann; so macht er seine Bekanntschaft.

Wie junge Leute so sind, erzählen sie einander ihr Leben: Der junge Mann von seiner Realitätsflucht in die Phantasie, das junge Mädchen von seinem Leben an der Seite ihrer blinden Großmutter und von ihrer Liebe zu einem ehemaligen Untermieter, der nach Moskau gegangen sei, um Geld für eine gemeinsame Zukunft zu verdienen, aber bislang nicht zu ihr zurückgekommen ist. Doch nun wird der namenlose Ich-Erzähler plötzlich selbst sehr praktisch und nötigt die junge Frau, sich in einem Brief an den Vermissten zu wenden; und alles andere kommt dann so, wie es kommen muss.

Die Erzählung ist ganz nett, bewegt sich aber durchaus im Rahmen dessen, was man als romantische Epigonie bezeichnen darf. Die „weißen Nächte“ und die beiderseits vorhandene Armut bleiben nur Staffage, die erzählerischen Motive sind wenig originell und auch die abschließende Zuspitzung der Frau zwischen zwei Männern bringt nichts wirklich Eigenständiges hervor. Dostojewskijs Bücher nach seiner Rückkehr aus Sibirien sind dann wirklich schon sehr anders geraten.

Fjodor Dostojewskij: Weiße Nächte. Ein empfindsamer Roman. Aus den Erinnerungen eines Träumers. Aus dem Russischen von Johannes von Guenther. RUB 14237. Stuttgart: Reclam, 2021. (Neuausgabe des Bandes von 1969). Broschur, 123 Seiten. 4,40 €.

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen

Langweilig ist’s auf dieser Welt, Herrschaften!

Der Band umfasst das gesamte erzählerische Werk Gogols mit Ausnahme der Toten Seelen. Dies sind vier Sammelbände, die eine deutliche Entwicklung des Erzählers Gogol erkennen lassen, und eine fragmentarische Erzählung mit dem Titel Rom. Die Erzählungen der frühesten beiden Sammlungen, Die Abende auf einem Weiler bei Dikanka (1831 und 1832) und Mirgorod (1835), sind in Gogols Heimat, der Ukraine lokalisiert, und hatten sowohl wegen des geschilderten bäuerlichen Milieus als auch wegen des Schauer-Genres (besonders in der ersten Sammlung vorherrschend) einen großen Erfolg beim Publikum. Gogols russische Variation des Schauermotivs arbeitet hauptsächlich mit Hexen und dem Teufel, wobei diese als wirkende Mächte in einer sonst idyllischen, bäuerlichen Welt vorgestellt werden. Oft ist es eine Liebesgeschichte, die den anekdotisch aufgereihten Episoden ein Rückgrat geben.

In Mirgorod tritt das Schauerliche dann schon deutlich zurück: Die Sammlung beginnt mit der Erzählung Altväterliche Grundbesitzer, die kaum eine konkrete Handlung besitzt, sondern hauptsächlich das idyllische Leben und Sterben eines älteren Ehepaars schildert. Dies wird dann unmittelbar mit einer Kriegserzählung aus dem 15. Jahrhundert kontrastiert, die von Männlichkeitsgehabe und Kriegsverherrlichung nur so strotzt; auch hier wird der eigentliche Handlungsknoten erst spät und wieder mittels einer Liebesgeschichte geschürzt. Den Abschluss bildet die Geschichte, wie sich Iwan Iwanowitsch mit Iwan Nikoforowitsch zerstritt, eine hübsche Dorf-Farce, die es verdient hätte, bekannter zu sein.

Es folgen noch zwei Sammlungen: Novellen und Arabesken. Hier finden sich unter anderem die bekanntesten Sachen Gogols wie Die Nase, Der Mantel oder Der Newskijprospekt. Reizvoll sind hier besonders auch die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, die versuchen, das langsame Abrutschen in den Wahn aus der Perspektive des Erkrankten darzustellen.

Das Fragment Rom zeigt stilistisch und thematisch am deutlichsten den Einfluss, den E. T. A. Hoffmann auf Gogol gehabt hat, kommt über Ansätze zu einer phantastischen Erzählung aber nicht hinaus.

Über die zurecht bekannten Stücke hinaus ist kaum eine Entdeckung zu machen; wer an Gogol als Erzähler interessiert ist, findet hier eine halbwegs chronologische Darstellung seiner Entwicklung bis hin zu den Toten Seelen.

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen. Aus dem Russischen von Josef Hahn. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1961. Leinen, Dünndruck, Fadenheftung, 882 Seiten. Nur noch antiquarisch lieferbar.

Nikolai Gogol: Tote Seelen

… die Bauern hatten alle gescheite Gesichter; das Hornvieh war von bester Güte; sogar die Schweine der Bauern sahen aus wie Aristokraten.

Gogols einziger Roman, der zudem Fragment geblieben ist. Von den drei geplanten Teilen erschien 1842 der erste; der zweite soll wohl fertiggestellt worden sein, aber Gogol verbrannte das Manuskript kurz vor seinem Tod unter dem Einfluss eines religiösen Fanatikers. So sind vom zweiten Teil nur einige Kapitel erhalten, aus denen sich aber kein geschlossener Handlungsverlauf ablesen lässt und die zudem Lücken und leichte Unstimmigkeiten aufweisen. Trotzdem ist dem Roman anhaltender Erfolg beschieden gewesen: Nach seinem Erscheinen kontrovers diskutiert, wurde er für die nachfolgende Schriftsteller-Generation zu einem wichtigen Orientierungspunkt, sowohl in der Nachfolge als auch in der Opposition.

Erzählt wird die Geschichte des ehemaligen Zollbeamten Pawel Iwanowitsch Tschitschikow, der irgendwann nach 1812 in die Provinzstadt N. einfährt, die irgendwo zwischen Moskau und Petersburg liegt. Tschitschikow weiß mit seinen Schmeicheleien rasch die gesamte Oberschicht des Städtchens für sich einzunehmen, und beginnt, nachdem er sich so eingeführt hat, mit einer Rundfahrt zu diversen, im Umland gelegenen Güter. Dort kommt er zumeist recht direkt zu seinem eigentlichen Anliegen: Er möchte jene leibeigenen Bauern kaufen, die auf der aktuellen, staatlichen Revisionsliste verzeichnet, seit Erstellung dieser Liste aber verstorben sind. Für diese „toten Seelen“ hofft Tschitschikow, kaum etwas bezahlen zu müssen, da er die Gutsbesitzer von der Verpflichtung zur Zahlung der Kopfsteuer für diese Verstorbenen bis zur Erstellung der nächsten Revisionsliste befreit. Zwar stößt dieses Ansinnen bei allen Gutsbesitzern auf Kopfschütteln, aber angesichts der Aussicht auf einen, wenn auch noch so geringen Gewinn einer- und die Einsparung der Abgaben andererseits gehen nahezu alle darauf ein. Auch der Abschluss der entsprechenden Kaufverträge bei Gericht geht reibungslos über die Bühne, so dass sich Tschitschikow nach wenigen Tagen im Besitz einer stattlichen Anzahl von Leibeigenen sieht, die nur den winzig kleinen Fehler aufweisen, dass sie verstorben sind.

Wozu Tschitschikow diese toten Seelen benötigt wird im gesamten ersten Teil des Romans nicht ausdrücklich gesagt. Da das elfte Kapitel aber seine bisherige Karriere als Beamter zusammenfasst, die eine Abfolge von Korruption und betrügerischer Bereicherung darstellt, lässt sich zumindest vermuten, dass es sich um einen weiteren Betrug handeln dürfte. Anstatt nun N. auf dem schnellsten Weg zu verlassen, verkuckt sich Tschitschikow in die blonde Tochter des Gouverneurs, und weil ihn am Ort alle so sympathisch finden, bleibt er noch einige Tage. Doch kommt es in diesen wenigen Tagen zu einem Sturm der Klatsches und wilder Gerüchte, ausgelöst durch den einzigen Gutsbesitzer, dem Tschitschikow seine toten Seelen nicht hatte abkaufen können. Und ausgerechnet dieser Gutsbesitzer warnt Tschitschikow auch, dass ihm Ärger ins Haus stehe, was zu Tschitschikows fluchtartiger Abreise aus N. führt. Damit endet der erste Teil des Romans.

Der zweite Teil zeigt einen etwas gealterten Tschitschikow, der aber immer noch dasselbe Projekt verfolgt. Es wird nun klar, dass er die Bauern, die in einem verwaltungstechnischen Sinne immer noch am Leben sind, verpfänden möchte, um genug Kapital zu erwerben, um selbst ein Gut zu kaufen. Die Handlung des zweiten Teils bleibt rudimentär: Einerseits erwirbt Tschitschikow, begeistert über die ökonomische und höchst erfolgreiche Führung eines Gutes durch seinen Besitzer, selbst ein heruntergekommenes Gut zu einem Spottpreis, andererseits verwickelt er sich offenbar in einen Erbschaftsbetrug zu Lasten des Vorbesitzers seines gerade erworbenen Landgutes. Auch der zweite Teil sollte mit der Flucht Tschitschikows enden, allerdings diesmal aus wesentlich ernsterer Gefahr als zum Ende des zweiten Teils.

Es ist nur zu selbstverständlich, dass ein solcher Roman, der die Honoratioren der Provinz als eine Gruppe etwas eitler, um sich selbst kreisender Dummköpfe darstellt, die mit einigen Schmeicheleien gefügig, durch einige Gerüchte aber ebenso leicht kopfscheu gemacht werden können, als Satire gelesen wurde. Und sicherlich ist es auch so, dass in vielen Verfassern satirischer Schriften ein Moralist am Grunde ruht, der aufgeschreckt, wenn man seine Hervorbringung als Satire liest und entsprechend belacht. Wie sehr das bei Gogol der Fall war, lässt sich leicht aus den moralisierenden und überhaupt belehrenden Passagen des zweiten Teils ersehen, die wohl zum Ziel hatten, Tschitschikows letztendliche Läuterung in die Wege zu leiten. Es ist daher verständlich, dass sich Gogol von der allgemeinen Rezeption seines Romans missverstanden fühlte. Das ändert aber wenig an der Tatsache, dass die Satire die gelungenste Ebene des gesamten Romans ist. Von daher ist es vielleicht ein Glück, dass es dem Autor verwehrt geblieben ist, diesen Eindruck durch die nachfolgenden Romanteile zunichte zu machen.

In der Übersetzung Vera Bischitzkys ein frisches und humoristisches Buch auf der Höhe der europäischen Literatur seiner Zeit. Und man darf getrost die Lektüre mit dem Ende des ersten Teils einstellen; das Übrige dient nur literarhistorischen Zwecken.

Nikolai Gogol: Tote Seelen. Ein Poem. Aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky. dtv 14263. München: dtv, 52021. Broschur, 637 Seiten. 14,90 €.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Zum vorläufigen Abschluss meiner Dostojewskij-Lektüre noch einmal eine Rückkehr fast ganz zum Anfang: Im Januar 2019 hatte ich hier die vor der Reihe der letzten sechs Romane entstandenen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch in der damals aktuellsten Übersetzung Swetlana Geiers besprochen. Dieser vergleichsweise kurze Text, der eine Mischung aus essayistischer Reflexion und fiktiver autobiografischer Erinnerung des Erzähler liefert, war bei seinem Erscheinen nur wenig beachtet worden und wurde in seiner Bedeutung als thematische Vorschule zahlreicher Themen, die dann in den „fünf Elefanten“ entfaltet werden sollten, erst viel später begriffen. Ich selbst habe es als die Eröffnung des psychologischen Labors Dostojewskijs bezeichnet.

Im Jubiläumsjahr legt nun Manesse in seiner Bibliothek eine Neu­über­set­zung des Textes durch Ursula Keller vor. Zum Inhalt des Buches sei auf die frühere Besprechung verwiesen; das muss hier nicht wiederholt werden. Was Stil und Wortwahl angeht, unterscheiden sich die beiden Über­­­set­­­zun­­gen allerdings deutlich. Gleich auf den ersten Blick erscheint die Übersetzung Kellers oft konkreter und bildhafter im Ausdruck:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z. B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten, daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem sonst.
Und dennoch, wenn ich nichts für meine Gesundheit tue, so geschieht es aus Bosheit, und ist die Leber krank, dann mag sie noch ärger krank werden!

Geier, S. 7 f.

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich. Ich glaube ich bin leberkrank. Eigentlich habe ich nicht die geringste Ahnung, woran ich erkrankt bin, und weiß nicht einmal sicher, worunter ich leide. Ich bin nicht in Behandlung und war auch nie in Behandlung, obwohl ich Medizin und Ärzten Respekt entgegenbringe. Zugleich bin ich über die Maßen abergläubisch; nun, wenigstens so sehr, dass ich der Medizin Respekt entgegenbringen. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, und doch bin ich abergläubisch.) Nein, mit Verlaub – ich will mich aus reinem Trotz nicht in Behandlung begeben. Und genau das werden sie wohl nicht verstehen wollen. Nun, aber ich verstehe es. Ich vermag Ihnen, selbstredend, nicht zu erklären, wem ich mit diesem Trotz das Leben schwer machen; ich weiß sehr genau, dass ich den Ärzten ja damit, dass ich nicht bei ihnen in Behandlung bin, «keinen Haufen vor die Tür» setze; ich weiß selbst am besten, dass sich mit alledem nur mir ganz allein schade und niemandem sonst. Und trotzdem – wenn ich nicht in Behandlung bin, so ist das reiner Trotz. Die Leber ist krank, soll sie doch noch kränker werden!

Keller, S. 9 f.

Von der Frage des zusätzlichen bzw. fehlenden Absatzes abgesehen, erscheint es schon als deutlicher Unterschied, ob der Erzähler sich aus Bosheit oder Trotz der ärztlichen Behandlung verweigert, ob er den Ärzten dadurch nicht schadet oder ihnen keinen Haufen vor die Tür setzt. Solche Unterschiede finden sich kontinuierlich durch den ganzen Text hindurch, begleitet von weiteren seltsamen Phänomenen wie zum Beispiel Klammern, die an unterschiedlichen Stellen des Textes geschlossen werden. Leider hindert mich meine Unkenntnis des Russischen daran, mehr zu tun, als auf diese durchaus eklatanten Unterschiede hinzuweisen. Ein kritisches Urteil muss andernorts gefällt werden. (Für Hinweise auf ein kompetentes Urteil sei gleich hier im Voraus gedankt!)

Wenigstens muss der Neuübersetzung von Ursula Keller attestiert werden, dass sie den Text an zahlreichen Einzelstellen und im Ganzen ver­ständ­li­cher und differenzierter zu übersetzen scheint, dass die durchweg außergewöhnlichen Gedankengänge des Erzählers in ihr weniger obskur und dunkel erscheinen.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Aus dem Russischen von Ursula Keller. München: Manesse, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 312 Seiten. 25,– €.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

Meistens sind die Menschen, sogar Bösewichte, wesentlich naiver und einfältiger, als wir annehmen. Wir sind ja auch nicht anders.

Der letzte der „fünf Elefanten“, im Jahr 1880 als letzter und zugleich umfangreichster Roman Dostojewskijs erschienen. Die Handlung lässt sich in zwei klar voneinander zu unterscheidende Abschnitte teilen: Im ersten Abschnitt geht es hauptsächlich um den jüngsten der drei (eventuell auch vier) Brüder Karamasow, Alexej, der zu Anfang des Romans noch in einem Kloster in seiner Heimatstadt in der russischen Provinz lebt. Dort ist er Vertrauter und Faktotum eines Einsiedlers, um dessen letzte Lebenstage und Sterben die Ereignisse angeordnet sind. Dostojewskij schafft sich damit Gelegenheit, in ausführlicher Breite seine Sicht des russischen Christentums auszubreiten, er geht sogar soweit, dass das komplette sechste Buch der Lebensbeschreibung und den Ansichten des Einsiedler gewidmet ist. Aber auch hier lässt Dostojewskij wieder mehr als nur eine Stimme vernehmen: So wird die über den Roman hinaus bekannte Erzählung Der Großinquisitor in den Roman eigeflochten, die der zweitälteste Bruder Iwan Karamasow seinem jüngeren Bruder Alexej erzählt und die eine eher skeptische Sicht auf die Kirche allgemein, die römisch-katholische Kirche im Speziellen präsentiert.

Mit dem achten von zwölf Büchern beginnt dann die Geschichte Dmitrij Karamasows, des ältesten Bruders, der aus der ersten Ehe des Vaters Fjodor Pawlowitsch stammt. Dmitrij hat den unsteten Charakter seines Vaters geerbt, ist Soldat geworden und hat das Erbe seiner Mutter weitgehend durchgebracht. Er befindet sich mit dem Vater in einem Streit darüber, ob ihm aus diesem Erbe noch eine Restzahlung zusteht; außerdem konkurrieren die beiden Männer trotz ihrem unterschiedlichen Alter um dieselbe Frau, Gruschenka, die ihre Unabhängigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass sie beide Bewerber auf Distanz hält. Dmitrij ist zudem verschuldet: Er hat Geld, das ihm seine ehemalige Verlobte – in die wiederum Iwan Karamasow unglücklich verliebt ist – anvertraut hat, veruntreut und damit ein rauschendes Fest mit der umworbenen Gruschenka finanziert, ohne dass ihn das seinem Ziel irgendwie näher gebracht hätte. Nun sucht er verzweifelt nach jemandem, der ihm 3.000 Rubel leiht, damit er dieses veruntreute Geld zurückgeben kann.

Es kommt nun zu einer Reihe von Ereignissen, in deren Verlauf der Vater Fjodor Karamasow erschlagen und beraubt wird, wobei eine überwältigende Kette von Indizien auf Dmitrij als den Täter hinweist: Er ist plötzlich wieder zu Geld gelangt, hat das Fest für Gruschenka wiederholt, war in der Nacht zuvor nachweislich zumindest im väterlichen Garten und hat dort flüchtend den alten Diener des Hauses niedergeschlagen. Dmitrij wird verhaftet, ausführlich befragt und schließlich angeklagt. Der Mordprozess bildet den Höhepunkt und Abschluss des Romans. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Erzählerisch variiert Dostojewskij hier noch einmal das Erfolgsmuster aus Böse Geister: Ein Ich-Erzähler, der von Teilen der Handlung unmittelbarer Zeuge war, berichtet das Geschehen, wobei er wechselweise als auktorialer Erzähler oder distanzierter Beobachter auftreten kann. Nach einer langen Phase, die ganz anderen Themen gewidmet zu sein scheint und die nur ganz nebenbei die Kriminal-Handlung des zweiten Teils Stück für Stück vorbereitet, rückt ein Verbrechen und – diesmal – seine polizeiliche und juristische Behandlung in den Mittelpunkt, hier mit dem Schwergewicht auf dem Problem, das wirkliche Geschehen aus einer Reihe von Indizien herleiten zu können. Sowohl das Bild, das der Staatsanwalt von dem Geschehen entwirft als auch die epistemische Kritik des Verteidigers an diesem Bild verfehlen das tatsächliche Geschehen, das dem Leser zwar mitgeteilt wird, in der Welt des Romans aber unbeweisbar bleibt. Besonders diese zweite Hälfte des Romans brilliert mit dem, was man Dostojewskijs „Psychologie“ zu nennen beliebt.

Insgesamt ein zu langer Roman, dem man aber dennoch eine gewisse Balance nicht ganz abstreiten kann. Während das Hauptthema des ersten Teils heute weitgehend obsolet geworden sein dürfte, ist der zweite Teil des Romans durchweg interessant, wenn hier auch einige Elemente deutlich zu dramatisch geraten sind. Allerdings ist der zweite Teil ohne die vorbereitenden Elemente des ersten nicht wirklich zu verstehen, so dass man nur die Wahl „ganz oder gar nicht“ hat.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Ammann, 2003. Leinenband, Fadenheftung, 1279 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 18,– €.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren

Es wäre ein Fehler, in all dem hier etwas anderes zu sehen als die Nörgeleien einen armen Irren. Ein Irrer!
Und Sie, Leser – Sie haben vielleicht vor kurzem geheiratet oder Ihre Schulden bezahlt?

Nachdem ich Elisabeth Edls Übersetzung der Éducation sentimentale vorerst übersprungen habe – zum einen, weil es zeitlich nicht passte, zum anderen aber sicherlich auch, weil ich über die Übersetzung des Titels mit Lehrjahre der Männlichkeit doch etwas erschrocken war –, folgt nun also, im Jahr seines 200. Geburtstages, die Neuübersetzung von Flauberts erstem ernsthaften Versuch, einen Roman zu schreiben. Der Text, der keine 100 Druckseiten umfasst, ist zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht worden, und man darf davon ausgehen, dass sich Flaubert seiner Schwächen sehr bewusst war.

… Mir ist alles so zuwider, dass ich einen tiefen Ekel davor empfinde weiterzuschreiben, nachdem ich das Vorangehende gelesen habe.
Können die Werke eines gelangweilten Mannes die Leser amüsieren?

S. 40

Aber natürlich zeigt sich die Wichtigkeit eines Autors eben auch darin, dass nach seinem Tod sein Nachlass herausgegeben wird.

Im Falle der Memoiren eines Irren geschah dies zuerst Ende 1900, 20 Jahre nach dem Tod Flauberts. Die Erzählung, die nur ehrenhalber die Bezeichnung Roman verdient, ist deshalb interessant, weil hier schon einige der Motive durchgespielt werden, die in den späteren Werken eine Rolle spielen. Zentral dürfte dabei die Beschreibung der ersten Verliebtheit des Erzählers in eine ältere, verheiratete Frau sein, die deutlich auf die Liebe Frédéric Moreaus aus L’Éducation sentimentale vorausweist. Außer diesen einzelnen Motiven ist der Text weitgehend lamoyant, verbunden mit einer für einen 17-Jährigen doch recht künstlichen Welt- und Menschenfeindlichkeit. Der Erzähler tut sich selbst unendlich leid, was den Leser ungefähr so kalt lässt, wie es Flauberts spätere Erzähler sind. Literarisch ist das beste am Text, dass er nicht länger ist.

Um dem Band etwas mehr Umfang zu geben, hat man eine Auswahl früher Briefe Flauberts hinzugefügt, die – wie Flauberts Briefe überhaupt – immer interessant und lebendig sind. Die wichtigste Stelle im Buch aber ist diese:

Wolfgang Matz hat auch diesen Band als Lektor begleitet; dass er der Einladung folgte, zum (wenigstens vorläufigen) Abschluss dieser Flaubert-Jahre auch das Nachwort beizusteuern, …

S. 200

Es wird also auf absehbare Zeit keine Übersetzung von Bouvard et Pécuchet durch Elisabeth Edl geben. Fassen wir uns also in Geduld.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2021. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 28,– €.

Michel Winock: Flaubert

Die Worte schienen ihm durchaus nicht zuzuströmen, für einen, dessen bürgerlicher Beruf das Schreiben ist, kam er jämmerlich langsam von der Stelle, und wer ihn sah, mußte zu der Anschauung gelangen, daß ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten.

Thomas Mann

Der Hanser Verlag hat im Vorfeld des 200. Geburtstages von Gustave Flaubert die in Frankreich hochgelobte Biographie des Historikers Michel Winock aus dem Jahr 2013 ins Deutsche übertragen lassen. Winock ist zweifellos das, was man einen Fan nennen könnte, aber sein Buch bewahrt dennoch eine weitreichende Obejktivität, nicht nur, was Flaubert selbst angeht, sondern auch die vorhergehende Literatur über ihn betreffend. Es kommt dem Buch sicherlich sehr zugute, dass Winock kein Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler ist und so bei einigen der umstrittenen Themen der Flaubert-Forschung die gegensätzlichen Auffassungen schlicht einander gegenüberstellen und dann auf sich beruhen lassen kann. Ebenso ist seine souveräne Position zu Sartres überbordener Interpretation Flauberts erfrischend.

Gustave Flaubert ist ein erstaunlicher Autor: Sein Werk besteht im Wesentlichen aus drei schwierigen Romanen und drei Erzählungen, ergänzt durch das Fragment eines vierten Romans, der bis heute Leser eher irritiert als fasziniert. Zu seinen Lebzeiten scharfer Kritik ausgesetzt, stieg er im 20. Jahrhundert zu einem der Gründungsväter der modernen und Klassiker der französischen Literatur auf; sein Einfluss auf Schriftsteller seiner und nachfolgender Generationen kann kaum überschätzt werden.

Im Vergleich mit seine Kollegen hat Flaubert auf der einen Seite ein weitgehend einsiedlerisches Leben in der Provinz geführt, das der Arbeit an seinen Romane gewidmet war, die langsam und unter den größten stilistischen Skrupeln entstanden sind. Er musste stets seine juvenile Neigung zum Romantizismus und zum sprachlichen Überschwang im Zaum halten, und sein Glaube, dass ein Erzähler sich jedes Urteils über seine Figuren und deren Handlungen enthalten müsse, hat zu seinem bemerkenswert kühlen und distanzierten Stil geführt. Seine Stoffe entstammen einerseits unmittelbar seiner Gegenwart, andererseits einer phantastisch imaginierten Antike, in die er alle seine andern Orts unterdrückten Leidenschaften und schwarzen Gedanken projizierte.

Auf der anderen Seite war er ein aktiver Promoter und Regisseur der Theaterstücke seines Kollegen Louis Bouilhet, der ohne die Freundschaft mit Flaubert heute vollständig vergessen wäre, ein unermüdlicher Briefschreiber, der auf diese Weise durchaus intensive Freundschaften auch zu bedeutenden Kolleginnen und Kollegen (Georg Sand, Iwan Turgenew) unterhielt. Er hat eine Wohnung in Paris unterhalten und gehörte zum Künstlerkreis um die Brüder Goncourt, die in ihren Tagebüchern einige der schönsten und gehässigsten Porträts seiner Persönlichkeit geliefert haben. Er hat Nordafrika, Ägypten, den Nahen Osten und Istanbul bereist und war regelmäßig in England, wahrscheinlich um eine heimliche Geliebte zu treffen – tatsächlich so heimlich, dass auch heute noch nur darüber spekuliert werden kann. Zu diesen persönlichen Widersprüchen treten Flauberts soziologische und politische Vorurteile hinzu, die alles andere als ein einheitliches Weltbild ergeben und zu denen auch noch seine allgemeine Misanthropie und seine tiefe Verachtung der menschlichen, besonders aber der bürgerlichen Dummheit hinzutreten. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Winocks resümierendes, letztes Kapitel sich weitgehend in einer Auflistung dieser Gegensätze erschöpft. Flaubert war alles andere als eine gerundete und in sich geschlossene Persönlichkeit, und so erscheint er auch in Winocks Erzählung.

Was die sachliche Ebene angeht ist das Buch, soweit ich sehe, bis auf eine Winzigkeit fehlerfrei. In der ersten Hälfte habe ich als Leser ein wenig zu oft gedacht, das hätte ich so auch schon bei Maxime Du Campe oder Guy de Maupassant gelesen, aber das muss einen anderen Leser durchaus nicht stören. Die Interpretationen der Werke sind durchweg gut bis herausragend – wer sich einen Eindruck von der Qualität des Buches verschaffen will, lese die der Education sentimental gewidmeten Kapitel XVIII bis XX. Bei der Analyse von Leben und Werk wird nebenbei eine kurze Geschichte Frankreichs von der Juli-Revolution bis in die frühen Jahre der Dritten Republik hinein mitgeliefert. Zudem finden sich knappe biographische Portraits etwa von Louis Bouilhet, George Sand oder Maxime Du Camp.

Alles in allem eine runde, gut lesbare und ausgewogene Biographie, nach deren Lektüre man sich als ausreichend informiert und gerüstet für die Lektüre der Werke Flauberts fühlen darf.

Michel Winock: Flaubert. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim. München: Hanser, 2021. Pappband, Lesebändchen, 655 Seiten. 36,– €

Heinrich Seidel: Phantasiestücke

Nun aber wußte der Teufel nichts mehr …

Noch einmal Heinrich Seidel, diesmal zum Abgewöhnen. Es handelt sich um eine eher uneinheitliche Sammlung mit Erzählungen und Märchen im Volkston, Nachahmungen von Hoffmann, Hauff, Eichendorff, Fritz Reuter und Jean Paul, alle im ironischen Ton mehr oder weniger gelungen, dafür inhaltlich ganz flach und uninspiriert erfunden. Mit dem Titel legt sich Seidel dabei selbst eine Latte auf, die er dann mühelos zu unterspringen versteht.

Das Märchen Das Zauberklavier geht zum Beispiel so: In einem weit entlegenen Königreiche leben hauptsächlich Büchermenschen und Gelehrte. Dann zieht jemand zu, der ein Klavier mitbringt. Das Klavierspielen wird rasch Mode; alle machen Musik, keiner will mehr Gedichte lesen. Die Denker werden beim Denken gestört. Der König verbietet das Klavierspielen. Eine Prinzessin wird geboren. Als sie achtzehn Jahre alt ist, findet sie im Wald ein Klavier. Weil sie nie etwas von Klavieren gehört hat, beginnt sie zu spielen. Alle sind entzückt. Der König erlaubt das Klavierspiel wieder.

Seine Faust-Variation aber geht so: Die Wirtin von Bornau will die beste Köchin und Tänzerin in der Gegend sein. (Was sollte ein weiblicher Faust auch sonst für Ambitionen haben?) Aber da gibt es eine andere, die beides besser kann. Also erscheint ihr der Teufel. Sie schließt einen Pakt und wird die beste Köchin und Tänzerin der Gegend. Als der Teufel kommt, um ihre Seele zu holen, wird er von einem frommen Pfarrer um seinen Preis gebracht. Er fährt vor Wut durch die Wand. Das Loch kann man heute noch sehen.

Und so strampelt Seidel sich ab am Melusinen-Motiv, an Gespenster-Geschichten, einer Allegorie der Monate, ja, es findet sich sogar eine üble Polemik gegen die USA und ihre Bewohner. Das soll wohl alles lustig sein, ist aber immer wieder nur ungeschickt und grob gearbeitet. Hier begreift man, warum Seidel inzwischen fast vollständig vergessen ist.

Leider auch in geringer Dosierung nicht mehr zu empfehlen.

Heinrich Seidel: Phantasiestücke. In: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe in 5 Bänden. Band V. Stuttgart: Cotta u. Berlin: Klemm, o. J. (ca. 1925). Bedruckter Leinenband, Fadenheftung. 267 (von 446) Seiten.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen

Als mein Freund Bornemann einmal gefragt wurde, welcher Vogel den größten poetischen Reiz auf ihn ausübe, antwortete er ohne Zögern: „Die Bratgans.“

Heinrich Seidel (1842–1906) ist ein beinahe ganz vergessener, erfolgreicher Un­ter­hal­tungs­schrift­stel­ler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Leberecht Hühnchen hat es – zumindest in meiner Familie, aber ich glaube wohl auch darüber hinaus – zur Sprich­wört­lich­keit gebracht für das kleinbürgerlich-idyllische Glück im kleinen Winkel. Nun steht eine kleine Seidel-Auswahl („Gesammelte Werke“ in fünf Bänden; es werden ungefähr 2500 Seiten sein) seit vielen Jahren ungelesen in meinem Bücherschrank, und als neulich ein Getwitter auf den Hans Dampf in allen Gassen von Zschokke kam, fiel mir auch gleich mein ungelesenes Hühnchen wieder ein.

Seidel war von Haus aus Ingenieur – er ist der Vater des vielzitierten „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“ – und gehörte auch, neben dem später viel berühmteren Theodor Fontane, zu den Mitgliedern des Tunnels über der Spree. Neben der Dichterei, die er durchaus mit finanziellem Erfolg betrieb, war er ein Vereinsmensch und Hobbygärtner mit Hang zu exotischen Blumen. Stilistisch steht er ganz anspruchslos in den Traditionslinien Jean Pauls, Hoffmanns, Fritz Reuters und wohl auch in denen Kellers und Storms, ohne deren Ernst und Hintergründigkeit je erreichen zu wollen. Er selbst wird sich wohl als Realist begriffen haben, doch steht er eher einer seichten Pseudo-Romantik nahe, die viele Romantiker wahrscheinlich mit einiger Verachtung betrachtet hätten.

Sein Leberecht Hühnchen ist von Beginn an Held einer lockeren Reihe anekdotischer Erzählungen, in denen es immer um Lebensfreude, Menschlichkeit und das Glück der kleinen Existenz geht. Das alles geht ganz leicht von der Hand und ist – bei aller gewollten Naivität; der Name Leberecht ist natürlich alles andere als ein Zufall – niemals in Gefahr, ins Kitschige abzurutschen. Der Ich-Erzähler ist ein Studienfreund Hühnchens, der diesen nach einigen Jahren zufällig in Berlin wiedertrifft. Hühnchen hat inzwischen eine kleine Familie mit seiner leicht behinderten, aber herzensguten Ehefrau, zwei immer entzückende Kinder und den rechten Lebenssinn: sich stets gutgelaunt nie vom Geschick einschüchtern zu lassen. Die Figur war sofort beliebt, und Seidel hat der ersten Erzählung noch zahlreiche, ganz ähnlich gestrickte nachfolgen lassen.

Wie schon gesagt: Das ganze ist die Art von Unterhaltungsliteratur, wie sie zu dieser Zeit die Familienblätter füllte, aber sie ist gut geschrieben und auch heute noch vergnüglich zu lesen, wenn man Maß hält und nicht zu viel auf einmal zu sich nimmt. Das eine oder andere gibt es auch aktuell noch im Druck; eine üppige Auswahl aber findet sich für kleines Geld in An­ti­qua­ria­ten oder eBooks.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen. In: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe in 5 Bänden. Band I. Stuttgart: Cotta u. Berlin: Klemm, o. J. (ca. 1925). Bedruckter Leinenband, Fadenheftung. 266 (von 524) Seiten.