Johannes Willms: Der Mythos Napoleon

Der Bestand des napoleonischen Empire zeigt die Stabilität eines Kartenhauses. Deren Ursache hat dessen Schöpfer bis zuletzt nicht verstanden.

Cover

Johannes Willms ist in Juli 2022 im Alter von 74 Jahren verstorben. Ich habe über viele Jahre hinweg beinahe alle seine Bücher mitverfolgt und hier vorgestellt; allein bei seiner de-Gaulle-Biographie (Beck, 2019) habe ich nach einem Viertel des Buches gestreikt, nicht weil das Buch schlecht wäre, sondern weil ich einfach das Interesse für diesen machtversessenen Heini nicht weiter aufbringen konnte.

Im Jahr 2019 ist Willms wohl letztes Buch über Napoleon erschienen, der spätestens seit der großen Biographie von 2005 ein immer wiederkehrender Fixpunkt in Willms Beschäftigung mit der Geschichte Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert war. Zumindest dem Untertitel Verheißung * Verbannung * Verklärung nach, handelt es sich bei diesem Buch um so etwas wie eine erweiterte Neufassung seines Buches Napoleon. Verbannung und Verklärung (Droemer, 2000), doch weist nichts in dem neuen Buch auf einen solchen Rückbezug hin. Da ich das frühere Buch nicht kenne, muss ich es (vorerst?) bei diesem Hinweis belassen.

Erzählt werden, wie der Untertitel es andeutet, drei Phasen der Entstehung des Napoleon-Mythos: der Beginn seines militärischen Ruhms als junger General in Italien, die letzten Jahre als französischer Kaiser und die Jahre der Verbannung und schließlich sein Nachleben im Frankreich des 19. Jahrhunderts, als sein Ruhm und seine Leiche als politisches Kapital fungieren. Das Buch schließt mit einem sehr schmalen Exkurs zu den französischen Napoleon-Biographien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts; leider fehlt ein Ausblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz und eine Erörterung der Frage, warum der Mythos Napoleon bis heute immer noch wirksam ist, obwohl die mediokren Seiten dieser Figur inzwischen gut dokumentiert sind.

Willms ist natürlich ein exzellenter Kenner des Materials, und er versteht es, Napoleons Selbst- und Fremdinszenierungen stringent und einleuchtend nachzuerzählen. Dabei fehlt es nicht an kritischer Distanz, auch wenn zumindest ich mir gewünscht hätte, dass die napoleonische Selbstüberhöhung hier und da ein wenig schärfer beurteilt werden würde.

Ein sehr gut lesbares Buch, das trotz seiner Konzentration auf bestimmte Phasen eine gute Alternative zu den umfangreicheren Napoleon-Biographien liefert. Im März 2023 soll dann als Willms letztes Buch seine Biographie über Louis XIV erscheinen.

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon. Verheißung * Verbannung * Verklärung. Stuttgart: Klett-Cotta, 2022. Pappband, 382 Seiten. 26,– €.

Helge Hesse: Die Welt neu beginnen

Valeris: Do you not recognize that a turning point has been reached in the affairs of the Federation?
Spock: History is replete with turning points, Lieutenant. You must have faith.

Eine sehr gut geschriebene Geschichte des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die entstehenden Vereinigten Staaten von Amerika, England, Frankreich und Deutschland. Den Auftakt bildet der Beginn der Amerikanischen Revolution, den Schlussstein Napoleons Erklärung, die Französische Revolution sei beendet. Zwischen diesen beiden Punkten verfolgt Hesse die Biographien von etwa drei Dutzend Personen; eine genaue Grenze zwischen diesen Haupt- und den zahlreichen Nebenfiguren lässt sich kaum ziehen. Auswahl und Gewichtung des Hauptpersonals sind recht traditionell; einzig das prominente Auftreten von Captain William Bligh überrascht vielleicht. Dabei darf betont werden, dass Bligh in erstaunlich fairer und neutraler Weise dargestellt wird; er fungiert durchaus nicht als der Bösewicht seiner eigenen Geschichte. Andererseits hat mir persönlich Johann Gottfried Seume gefehlt, dessen Biographie ein zusätzliches Licht auf die Zwangswerbungen und Verschleppung deutscher Bürger als Soldaten für Amerika hätte werfen können. Aber ein Buch kann natürlich nie alles leisten, was man sich wünscht.

Es ist keine leichte Sache, eine vergangene Epoche so interessant und lebendig zu beschreiben, als sei es die Gegenwart der Leser. Das ist hier durchweg gelungen. Es wird vermittelt, dass und wie sich in dieser Zeit moderne Menschen um die Gestaltung ihrer Welt bemühen oder der Beschreibung eben dieser Welt widmen. Dabei werden die Biographien in nach Jahren eingeteilten Kapiteln parallel erzählt und – wo es sich so ergeben hat – miteinander verflochten. Abgesehen von der sehr typischen geographischen Beschränkung entsteht so ein rundes und durchaus schlüssiges Bild einer Zeit, in der sowohl die politischen als auch die technischen Fundamente unserer heutigen Welt gelegt wurden. Sicherlich könnte man hier und da einwenden, dass der Autor den Fortschritt ein wenig zu optimistisch anschaut, die Vernunft etwas zu sehr für eine überaus tolle Sache hält, aber immerhin gibt er auch der pessimistischen Sicht Georg Forsters Raum:

Die Tyrannei der Vernunft, vielleicht die eisernste von allen, steht der Welt noch bevor. Wenn die Menschen erst die ganze Wirksamkeit dieses Instruments kennen werden, welche Hölle um sich her werden sie dann schaffen! Je edler das Ding und je vortrefflicher, desto teuflischer der Missbrauch.

S. 309 f.

Leider muss bei aller Anerkennung des Gelungenen auch festgestellt werden, dass das Buch im Detail sehr flüchtig und oberflächlich gearbeitet ist. Überall, wo ich mich ein wenig auskenne, finden sich zahlreiche Fehler, die mit etwas mehr Sorgfalt einfach zu vermeiden gewesen wären. Auch scheint die naturwissenschaftliche Bildung des Autors lückenhaft zu sein, und selbst in der Philosophie, einem Fach, dass der Autor studiert hat, finden sich grobe Fehler. In den Details sollte man dem Buch also eher nicht trauen. Mag sein, in einer nächsten Auflage lässt sich das eine oder andere verbessern.

Trotzdem eine sehr lesbare und lesenswerte Darstellung des Auftakts der modernen Welt. Besonders für jene Leser geeignet, die einen leichten, nicht akademischen Zugang zu dieser Zeit suchen und denen die Fehler ohnehin nicht auffallen.

Helge Hesse: Die Welt neu beginnen. Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 bis 1799. Stuttgart: Reclam, 2021. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 431 Seiten. 25,– €.

Orlando Figes: Die Europäer

Da Turgenew durch das schlechte Wetter ans Haus gebunden war, setzte er sich an den Schreibtisch in seinem Zimmer und begann ein Meisterwerk. Er hatte nichts anderes zu tun.

Das Unglück mit diesem Buch beginnt schon im Untertitel: Aus dem Three Lives and the Making of a Cosmopolitan Culture des Originals macht die deutsche Übersetzung Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung der europäischen Kultur. Nun ist die Entstehung der europäischen Kultur sicherlich nicht im 19. Jahrhundert zu verorten, und was ein kosmopolitisches Leben sein soll, ist auch nicht so leicht auszudenken. Wahrscheinlich ist dieser Missgriff nicht dem Übersetzer anzulasten, aber auch ohne das steht es um dessen Arbeit nicht überall zum Besten.

Die drei Leben, von denen das Buch angeblich in der Hauptsache handelt, sind die der Sängerin Pauline Viardot und des Schriftstellers Iwan Turgenew. Das dritte, von dem das Buch definitiv nicht handelt, ist das von Paulines Ehemann Louis Viardot, von dem zwar hier und da die Rede ist, der es aber – allein was die reine Textmenge angeht – zum Beispiel nicht mit der Entstehung und Nutzung des europäischen Eisenbahnnetzes im 19. Jahrhundert aufnehmen kann. Nun ist es sicherlich möglich, auf 560 Seiten eine solide Doppelbiographie zu liefern, doch wenn man gleichzeitig versucht, eine Geschichte der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts – und zwar der Musik, Literatur und Malerei; einzig die Bildende Kunst und Architektur kommen zu kurz –, des Einflusses der Eisenbahn auf die Entwicklung dieser Kultur, der Entstehung des Tourismus und nicht zuletzt der „Schaffung eines europäischen Marktes für die Künste im 19. Jahrhundert“, wie es das Vorwort in aller Bescheidenheit ankündigt, zu liefern, so kann es schon einmal geschehen, dass keiner dieser Aspekte anmessen behandelt werden kann.

So ist denn aus dem allem ein ganz amüsantes Pottpüree geworden, ein Durcheinander unterschiedlichster Ansätze und Absichten, was zum Teil zu Kapiteln führt, die als gelungene Illustration der Hilflosigkeit des Autors gelten können (ich empfehle zur Probe den Abschnitt 2 des 4. Kapitels (S. 260–284) zu lesen). Bei Themen, mit denen sich der Leser auskennt, wimmelt das Buch von Oberflächlichkeiten und Fehlern, die anderen nimmt er amüsiert zur Kenntnis nach dem Motto „So stellt sich also der kleine Orlando das europäische 19. Jahrhundert vor“. Wer sich aber dafür interessiert, welche Schriftsteller und Komponisten es „gelernt haben“, während einer Eisenbahnfahrt zu arbeiten, wird aufs Beste bedient.

Für Leser mit zu viel Zeit oder zu wenig Ahnung sicherlich eine amüsante Lektüre. Für alle anderen Zeitverschwendung. Leider das zweite Buch von Orlando Figes, dem ich ein solches Urteil ausstellen muss.

Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung der europäischen Kultur. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin: Hanser Berlin, 2020. Pappband, Lesebändchen, 640 Seiten. 34,– €.

Klaus-Jürgen Bremm: 70/71

In diesem Jahr jährt sich der Kriegsbeginn des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 zum 150. Mal. Dieser Krieg ist der bedeutendste in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, da aus ihm unmittelbar die Gründung des Deut­schen Reiches unter der Führung Preußens hervorgegangen ist.

Klaus-Jürgen Bremm legt mit diesem Buch eine Geschichte dieses Krieges, seiner Vorgeschichte und seinen Auswirkungen aus der Sicht eines Militärhistorikers vor. Dementsprechend breit und detailliert ist die Beschreibung der militärischen Operationen geraten. Dagegen ist die Darstellung der politischen Prozesse auf das unbedingt Nötige reduziert, oberflächlich und pauschal. Bremm neigt hier zu kli­schee­haf­ter Einordnung – Bismarck prima, Marx und Engels besserwisserisch – und merkwürdig scharfen historischen Urteilen etwa über Frankreichs Rolle im 20. Jahrhundert. Über die politischen Inhalte zum Beispiel der Pariser Kommune erfährt der Leser so gut wie nichts; ebensowenig werden die Schwierigkeiten bei der Einholung der süddeutschen Staaten in das Bismarcksche Reich ausreichend thematisiert.

Wer sich für die militärischen Operationen und die Organisation dieses Krieges interessiert, ist mit diesem Buch sicherlich gut bedient. Wer eine politische Geschichte der Reichsgründung oder der Voraussetzungen der Opposition zwischen dem Deutschen Reich und dem Erzfeind Frankreich sucht, wird enttäuscht werden.

Klaus-Jürgen Bremm: 70/71. Preußens Triumph über Frankreich unf die Folgen. Darmstadt: wbg Theiss, 2019. Pappband, 335 Seiten. 25,– €.

Bernhard Shaw: Die heilige Johanna

Shaw-Effendi, der Töpfer, der mit leeren Tongefäßen gute Geschäfte machte, …

Kurt Tucholsky

Johanna von Orléans bzw. Jeanne d’Arc ist eine jener Figuren des Mittelalters, die im 19. Jahrhundert als Symbolfiguren einer neu empfundenen nationalen Identität aufgebaut wurden. So wie man sich in Deutschland ideologisch etwa unter der Fahne eines steinernen Friedrich Barbarossa sammelte, so schossen in Frankreich marmorne und eherne Denkmäler der Jungfrau aus dem Boden, die die moderne Einheit der Nation mittels der historischen Heldin feiern und festigen sollten. Voltaire hatte sich wenige Jahrzehnte zuvor noch über das Mädchen aus Domrémy lustig gemacht. Es ist daher kein großes Wunder, dass Shaw während einer Frankreich-Reise auf diese historische Figur aufmerksam wurde, von der er zu Recht feststellte, dass sie trotz ihrem erheblichen Einfluss auf die englische Geschichte in der Literatur seines Landes praktisch nicht vorkam. Einzig in Shakespeares König Heinrich VI., bei dem Shaw aber eher zweifelte, ob es überhaupt von Shakespeare stamme, trat sie auf, doch wurde ihr diese Darstellung nur wenig gerecht.

Als Shaw Anfang 1923 nach einem neuen Stoff suchte, war es seine Ehefrau, die ihn an das alte Projekt eines Stücks über Johanna erinnerte. Das Stück war dann im August 1923 bereits fertig und wurde Ende desselben Jahres in New York uraufgeführt. Es war ein großer internationaler Erfolg, hatte bereits 1924 in Deutschland und ein Jahr später auch in Frankreich Premiere. Es ist unzweifelhaft einer der Hauptgründe gewesen, warum Shaw 1925 der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde.

Die Buchausgabe setzt vor das Stück eine gut 70-seitige Abhandlung Shaws, in der er seine Auffassung Jeanne d’Arcs und ihrer geschichtlichen Rolle nicht nur umständlicher, sondern auch deutlich langweiliger als im Stück erörtert. Interessant an Shaws Zugriff ist, dass er Johanna nicht nur als Symbolfigur einer nationalen Einigung begreift, sondern sie als Vorschein zweier geschichtlicher Entwicklungen deutet: der Reformation und des Absolutismus. Der Reformation insoweit Johanna ihre direkte Beziehung zu Gott und seinen Boten durch ihre Visionen über die Autorität der Kirche stellt und hartnäckig jede Belehrung über den Charakter dieser Visionen verweigert, des Absolutismus, da sie den König, nicht den Adel, zum Machtzentrum Frankreichs erklärt, dem von Gott alles französische Land geschenkt worden sei. Im Stück erkennen die Vertreter von Kirche (Bischof Cauchon) und Hochadel (Graf Warwick) diese Gefahren und werden so zu natürlichen Verbündeten beim Kampf gegen das vermeintlich gefährliche Mädchen. Shaw hat dieser Zugriff nachträglich viel Kritik eingebracht, da er den anachronistischen Terminus Protestantismus im Stück verwendet, den man ihm aber für die notwendige Klarheit bei der Darstellung seiner Position schlicht zugestehen sollte.

Das Stück selbst erzählt in sechs in sich abgeschlossenen Szenen die Entwicklung von Jeannes erstem Auftreten 1429 bei Robert von Baudricourt, der sie zum Dauphin bringen lässt, bis zu ihrer Verbrennung 1431 nach. Die Dialoge sind in der Übersetzung Wolfgang Hildesheimers erfrischend unprätentiös – Karl Kraus hatte dem früheren Shaw-Übersetzer Siegfried Trebitsch bescheinigt, er übersetze „die […] Stücke des Herrn Shaw aus dem Englischen in eine ihm gleichfalls fremde Sprache“ – und das Stück trotz seinem historischen Stoff sehr eingängig. Angehängt wird ein Epilog, in dem Shaw in einer Traumsequenz Karls VII. (des früheren Dauphins) die Nachwirkung Johannas von ihrer Rehabilitation 1453 bis zur Heiligsprechung im Jahr 1920 wenigstens aufblitzen lässt; das Stück kommt sicherlich gut auch ohne diesen Wurmfortsatz aus. Auch Shaw setzt sich wie sein Vorgänger Schiller nicht groß mit dem Status der Visionen Jeannes auseinander; für ihn hat sie einfach eine lebhafte Phantasie und diese Erklärung muss hinreichen. Bei Shaw erwächst die Stellung Jeannes im Heer nicht ihrem göttlichen Auftrag, sondern schlicht der Tatsache, dass die französischen Befehlshaber keine Alternative mehr sehen und Johanna nach dem Motto folgen, dass es schlimmer auch nicht mehr werden könne. Insbesondere der Dauphin ist bei Shaw eigentlich gar nicht mehr bereit zu kämpfen, sondern will sich mit den Engländern auf einen Frieden einigen, der ihm seine Ruhe garantiert; nur widerwillig lässt er sich auf die von Jeanne initiierte Kampagne zur Befreiung Orléans ein.

Worin Shaw sich sicherlich irrt, ist zum einen, dass der Prozess gegen Johanna in irgend einem Sinne fair gewesen sei – das ist bei jeglichem Religionsprozess schlicht unmöglich – und dass er unpolitisch gewesen sei. Hier unterdrückt er das historische Faktum, dass das erste Urteil gegen Johanna – lebenslange kirchliche Haft – nicht auf den Widerstand der Verurteilten, sondern im Gegenteil auf den des englischen Hofes traf. Von daher ist auch seine Darstellung, es sei Johanna selbst gewesen, die sich am Ende für den Scheiterhaufen entschieden habe, als historisch falsch abzulehnen.

Sieht man davon ab, dass Shaw am Mythos Johannas ebenso scheitert wie seine Vorgänger, ist es ein flottes und amüsantes Stück eines alten Mannes um die Verbrennung eines 19-jährigen Mädchens, die in ihrer jugendlichen Naivität glaubte, es genüge das Gute zu wollen, um in der Welt bestehen zu können, durch eine Gruppe von Männern, die der Zufall in eine Position der Macht gespült hat. Es muss dann jede und jeder selbst schauen, wie sie oder er damit zurecht kommt.

Bernhard Shaw: Die heilige Johanna. Aus dem Englischen von Siegfried Trebitsch (Essay) und Wolfgang Hildesheimer (Drama). st 1861. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 82016. Broschur, 237 Seiten. 11,– €.

Johannes Willms: Waterloo

Willms-NapoleonNur wenige Monate nach seiner Geschichte der Französischen Revolution legt Johannes Willms rechtzeitig zum 200-jährigen Jubiläum der Schlacht ein Buch zu Waterloo vor. Willms beginnt mit den Verhandlungen zum ersten Exil Napoleons auf Elba im Jahr 1814, berichtet dann über das Exil selbst, Napoleons Rückkehr und den Beginn der Herrschaft der 100 Tage und schließt seine Darstellung mit der Schlacht selbst und ihrer Rezeption in Frankreich, England, Preußen sowie Belgien und den Niederlanden ab. Wer sich über Napoleons letzten Jahre informieren möchte, wird Willms Napoleon-Biographie zur Hand nehmen müssen.

Willms verteilt seine Geschichte der Herrschaft der 100 Tage, was vielleicht der bessere Untertitel für das Buch gewesen wäre – etwa gleichwertig auf die politischen und die militärischen Aspekte des Endes der Napoleonischen Herrschaft. Die eigentliche Schlacht bei Waterloo und ihre unmittelbaren Vorbedingungen – die Schlachten bei Quatre Bras und Ligny am 15. und 16. Juni 1815  – werden auf 90 der 250 Seiten des Textes dargestellt. Auch hier geht es wesentlich immer auch um persönliche und politische Motive der Protagonisten (be­son­ders Napoleons und Wellingtons), so dass Leser nicht mit einer haupt­säch­lich militärhistorischen Geschichte der Schlacht rechnen sollten.

Inhaltlich befindet sich der Text auf dem von Willms gewohnten Niveau, was heißt, dass er Lesbarkeit und historische Differenziertheit gut miteinander in Einklang bringt. Allerdings scheint das Buch unter hohem Zeitdruck produziert worden zu sein, denn es finden sich für Willms sonst eher ungewöhnliche sprachliche Patzer im Text:

Also galt es, zunächst die Einheiten zu ordnen, Waffen und Montur zu reinigen, die Pferde zu tränken und zu füttern, abzukochen und zu essen. [S. 209]

Sicherlich nicht Willms inspiriertestes Buch, was man aber auch weder bei diesem Thema noch einer solchen Gelegenheitsarbeit erwarten sollte.

Johannes Willms: Waterloo. Napoleons letzte Schlacht. München: C. H. Beck, 2015. Leinen, 288 Seiten, eine Karte in Einstecktasche. 21,95 €.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter

Ich denke, dass der Wandel der Einstellung gegenüber dem Kaufmann der wichtigste Ausgangspunkt für diese psychische wie kulturelle Wende war.

978-3-608-94693-2Es ist immer angenehm, wenn Historiker unumwunden zugeben, dass für eine ausreichende Darstellung der verhandelten Sache keine ausreichende Quellenlage vorhanden ist, so auch für einen bedeutenden Teil des von Jacques Le Goff in diesem Buch abgedeckten Zeitraums. Zumindest während des Früh- und weiten Teilen des Hochmittelalters hat Geld – sowohl Münzgeld als auch Buchgeld – keine bedeutende Rolle gespielt, ja der exzessive Umgang mit Geld wurde mit Misstrauen, wenn nicht gar mit Abscheu betrachtet. Zinsnahme galt als unchristlich und moralisch verwerflich, wobei wirtschaftlicher Gewinn im neuzeitlichen Sinne überhaupt unter dem Generalverdacht stand, nur eine Form von Wucher zu sein.

Worauf Le Goffs kurze, bis zum 14. Jahrhundert aber wohl dennoch erschöpfende Darstellung der Geschichte des Geldes im Mittelalter wesentlich abzielt, ist der Nachweis, dass sich von einem mittelalterlichen Kapitalismus nicht sprechen lässt. Dazu stellt er im letzten Teil des Buchs ausführliche den Gedanken der Caritas dar, der im Zentrum mittelalterlich-wirtschaftlichen Denkens gestanden hat. Was Le Goffs Buch sehr deutlich werden lässt, ist, dass neuzeitliche Konzeptionen von Ökonomie im Mittelalter höchstens rudimentär vorhanden waren und im gesellschaftlichen Selbstverständnis eine diametral andere Wertung erfahren haben. Vielleicht ist deshalb gerade das Paradigma des Geldes gut geeignet, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie gänzlich anders mittelalterliche Menschen sich und die Welt begriffen haben.

Ein knappes, informatives und zuverlässiges Buch, das allerdings gerade in den frühen darstellenden Passagen aufgrund der dünnen Quellenlage etwas sprunghaft wirkt. Man sollte daher etwas Geduld mit ihm haben.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Pappband, 279 Seiten. 22,95 €.

Johannes Willms: Talleyrand

Von den drei Möglichkeiten, die Talleyrand zwischen 1789 und 1814/15 aufgrund seines aristokratischen Herkommens hatte, Emigration, Passivität oder die Bereitschaft, dem Staat, sprich dem jeweiligen Regime, zu dienen, entschied er sich immer für das Letztere.

978-3-406-62145-1Johannes Willms setzt die Reihe seiner französischen Biographien fort, diesmal mit einem Seitenstück zu seiner umfangreichen Napoleon-Biographie. Talleyrand ist wohl eine der schillerndsten politischen Figuren der Wendezeit zur europäischen Moderne. Er hat es verstanden sowohl vor und während der Französischen Revolution als auch unter Napoleon und der auf ihn folgenden Restauration bedeutende politische Positionen einzunehmen. Keine seiner politischen Niederlagen hat ihn wirklich zu Fall gebracht, jeder seiner Rücktritte markiert nur eine Phase des Übergangs bis zum nächsten Aufstieg in Amt und Würden. Selbst als er sich mit guten Gründen und aus freien Stücken endgültig ins Privatleben zurückziehen wollte, erwies sich sein Drang zu Macht und Einfluss als zu stark, und er betrat binnen Kurzem wieder die politische Bühne. Dabei muss er im persönlichen Umgang ein bestrickender Gesprächspartner voller Esprit gewesen sein.

Johannes Willms zeigt sich mit diesem Buch einmal mehr als ein vorzüglicher Biograph, der nicht nur exzellent schreibt, sondern es auch versteht, den richtigen Abstand zu seinem Objekt einzunehmen: Weder verherrlicht er Talleyrand noch stimmt er in die Kritik ein, die in diesem Mann hauptsächlich einen schamlosen Opportunisten der Macht erkennen will. Sein Blick auf Talleyrand ist differenziert und von einem tiefen Verständnis für dessen Person und die gesellschaftliche, soziale und politische Situation Frankreichs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert getragen. Dabei scheut er sich nicht vor starken, eigenständigen Urteilen, die zum Teil so ausfallen, dass ihm die historische Forschung kaum wird folgen wollen, was nicht heißen soll, dass diese Urteile falsch sind. Und da Willms spätestens seit seiner Napoleon-Biographie als ausgewiesener Kenner der französischen Geschichte gelten darf, hat das Buch zudem den Vorteil, dem Leser wie nebenbei eine kleine Historie der Französischen Revolution und ihrer Folgen für Frankreich und Europa zu liefern.

Nicht nur wer Willms »Napoleon« goutiert hat, sollte dieses Buch nicht an sich vorbeigehen lassen, sondern auch all jene, die sich für die Französische Revolution als einem der Keime der heutigen westlichen Welt interessieren.

Johannes Wilms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, Lesebändchen, 384 Seiten. 26,95 €.

Robert Louis Stevenson: St. Ives

Einer der letzten Romane Stevensons, den er nicht hat zu Ende schreiben können. Wie unentdeckt Stevenson insgesamt im deutschen Sprachraum noch ist, zeigt sich auch daran, dass der Verlag weitgehend ungestraft behaupten darf, es handele sich hier um eine deutsche Erstausgabe des Textes. Das trifft nur in einem sehr speziellen Sinne zu: Für den Erstdruck 1896/1897 aus dem Nachlass heraus versuchte man den Roman für den normalen Leser zu retten, indem man die letzten sechs Kapitel von einem anderen Autor, A. T. Quiller-Couch, ergänzen ließ, um der Handlung einen Abschluss zu geben. Dabei handelt es sich immerhin um gute 20 % des Textes. In der Tat handelt es sich allein bei diesem nicht von Stevenson stammenden Nachklapp um eine deutsche Erstausgabe; den Text Stevensons hatte bereits Curt Thesing Anfang der 30er Jahre übersetzt. Ich habe auf die Lektüre des Nachklapps gänzlich verzichtet, da ohnehin klar ist, was geschehen wird, und die zusammengeklapperte Handlung durch eine Verlängerung sicherlich nicht besser wird.

Das Buch erzählt die Abenteuer eines französischen Adeligen, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege in Edinburgh auf der Festung inhaftiert ist. Er verliebt sich, wie es sein muss, in eine mitleidige junge Schottin, kann fliehen, sucht seinen in England im Exil lebenden Onkel auf, der ihm sein Vermögen vermachen will, gerät darüber in Streit mit seinem als Doppelspion arbeitenden Cousin, geht unter Gefahr für Leib und Leben zurück nach Edinburgh, wo er, kurz bevor der Text abbricht, knapp einer Verhaftung entgeht. Dass es am Ende alles gut ausgehen, der etwas eitle und leichtlebige Protagonist sich zum Besseren bekehren und sein Mädchen bekommen wird, ist daher so klar, wie die sprichwörtliche Kloßbrühe.

Stevenson, der damals schon schwer krank war, hat diesen Roman diktiert und wohl nicht mehr abschließend redigieren können, was besonders im ersten Teil einige Verwerfungen erzeugt hat. Ansonsten hangelt sich die Handlung sehr konventionell von Abenteuer zu Abenteuer, und es ist mehr als verständlich, dass sich bis dato niemand entschließen konnte, an diesen Text die Mühe einer erneuten Übersetzung zu wenden. Dass es nun gerade Andreas Nohl ist, der uns zuletzt mit einem glatt gehobelten »Huckleberry Finn« beglückt hat und nun versucht, dieses etwa dünne Fähnchen in den Rang eines bedeutenden Spätwerks zu heben, passt zumindest in mein Bild.

Gesamturteil: Eher enttäuschend. Hervorgehoben werden muss allerdings einmal mehr die exzellente Buchausstattung des Hanser Verlages: ein flexibler Leinenband, Dünndruckpapier mit Fadenheftung, ein passendes Lesebändchen! So sollten alle Bücher aussehen! Wenn nur der Inhalt etwas besser wäre …

Robert Louis Stevenson: St. Ives. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2011. Leinen, Lesebändchen, 520 Seiten Dünndruckpapier. 27,90 €.

Émile Zola: Das Glück der Familie Rougon

zola_rougon Beginn eines Langzeit-Projekts: Nach der begeisternden Lektüre von Germinal hatte ich mir vorgenommen, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen. Leider ist derzeit keine geschlossene Ausgabe des Zyklus im Druck; allerdings ist die Ausgabe des Verlages Rütten & Loening, die zwischen 1952 und 1976 in der DDR gedruckt worden ist und die auch in der BRD mehrere Nachdrucke erfahren hat, im Jahr 2005 als digitale Ausgabe innerhalb der Digitalen Bibliothek erschienen. Diese Ausgabe kann auch heute noch für sage und schreibe 10,– €  erworben werden. Nach der jüngsten Anschaffung eines eBook-Readers wird diese digitale Ausgabe nun peu à peu gelesen werden.

Der Zyklus beginnt mit Das Glück der Familie Rougon, dessen Handlung in der Hauptsache im Jahr 1851 spielt, in dem der französische Staatspräsident Louis Napoleon durch einen Staatsstreich den Weg zum Zweiten Kaiserreich ebnet, das genau in dem Jahr enden sollte, in dem Zola diesen ersten Band seines Zyklus herausgeben wird. In seinem Zentrum steht die Familie Pierre Rougons, der als Sohn aus der Ehe zwischen Adélaïde Fouque und einem Gärtner hervorgeht. Nach dem frühen Tod des Gärtners wählt Adélaïde den Schmuggler Macquart zu ihrem Geliebten, mit dem sie zwei Kinder hat: Antoine und Ursule.

Der heranwachsende Pierre betrügt seine beiden Halbgeschwister um ihren Anteil am Erbe der Mutter, noch bevor diese gestorben ist, und verschafft sich durch das Geld eine Chance zum sozialen Aufstieg: Er heiratet die Tochter eines Kaufmanns, ist aber nur eher schlecht als recht in der Lage, das ererbte Geschäft über Wasser zu halten. Daher versucht er, seine Stellung auf politischem Wege zu verbessern. Die große Chance bietet sich ihm während der Unruhen, die durch den Staatsstreich Louis Napoleons ausgelöst werden, in denen es dem intriganten und im Grunde feigen Pierre schließlich gelingt, sich als Retter seiner Heimatstadt zu inszenieren.

Der Roman ist für den heutigen  Geschmack sicherlich in einigen Passagen zu langatmig, zeigt in seinen Kernpassagen aber schon die erzählerische Präzision und boshafte Beobachtungsgabe, die Germinal zu einem Meisterstück machen werden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.