Bernhard Shaw: Die heilige Johanna

Shaw-Effendi, der Töpfer, der mit leeren Tongefäßen gute Geschäfte machte, …

Kurt Tucholsky

Johanna von Orléans bzw. Jeanne d’Arc ist eine jener Figuren des Mittelalters, die im 19. Jahrhundert als Symbolfiguren einer neu empfundenen nationalen Identität aufgebaut wurden. So wie man sich in Deutschland ideologisch etwa unter der Fahne eines steinernen Friedrich Barbarossa sammelte, so schossen in Frankreich marmorne und eherne Denkmäler der Jungfrau aus dem Boden, die die moderne Einheit der Nation mittels der historischen Heldin feiern und festigen sollten. Voltaire hatte sich wenige Jahrzehnte zuvor noch über das Mädchen aus Domrémy lustig gemacht. Es ist daher kein großes Wunder, dass Shaw während einer Frankreich-Reise auf diese historische Figur aufmerksam wurde, von der er zu Recht feststellte, dass sie trotz ihrem erheblichen Einfluss auf die englische Geschichte in der Literatur seines Landes praktisch nicht vorkam. Einzig in Shakespeares König Heinrich VI., bei dem Shaw aber eher zweifelte, ob es überhaupt von Shakespeare stamme, trat sie auf, doch wurde ihr diese Darstellung nur wenig gerecht.

Als Shaw Anfang 1923 nach einem neuen Stoff suchte, war es seine Ehefrau, die ihn an das alte Projekt eines Stücks über Johanna erinnerte. Das Stück war dann im August 1923 bereits fertig und wurde Ende desselben Jahres in New York uraufgeführt. Es war ein großer internationaler Erfolg, hatte bereits 1924 in Deutschland und ein Jahr später auch in Frankreich Premiere. Es ist unzweifelhaft einer der Hauptgründe gewesen, warum Shaw 1925 der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde.

Die Buchausgabe setzt vor das Stück eine gut 70-seitige Abhandlung Shaws, in der er seine Auffassung Jeanne d’Arcs und ihrer geschichtlichen Rolle nicht nur umständlicher, sondern auch deutlich langweiliger als im Stück erörtert. Interessant an Shaws Zugriff ist, dass er Johanna nicht nur als Symbolfigur einer nationalen Einigung begreift, sondern sie als Vorschein zweier geschichtlicher Entwicklungen deutet: der Reformation und des Absolutismus. Der Reformation insoweit Johanna ihre direkte Beziehung zu Gott und seinen Boten durch ihre Visionen über die Autorität der Kirche stellt und hartnäckig jede Belehrung über den Charakter dieser Visionen verweigert, des Absolutismus, da sie den König, nicht den Adel, zum Machtzentrum Frankreichs erklärt, dem von Gott alles französische Land geschenkt worden sei. Im Stück erkennen die Vertreter von Kirche (Bischof Cauchon) und Hochadel (Graf Warwick) diese Gefahren und werden so zu natürlichen Verbündeten beim Kampf gegen das vermeintlich gefährliche Mädchen. Shaw hat dieser Zugriff nachträglich viel Kritik eingebracht, da er den anachronistischen Terminus Protestantismus im Stück verwendet, den man ihm aber für die notwendige Klarheit bei der Darstellung seiner Position schlicht zugestehen sollte.

Das Stück selbst erzählt in sechs in sich abgeschlossenen Szenen die Entwicklung von Jeannes erstem Auftreten 1429 bei Robert von Baudricourt, der sie zum Dauphin bringen lässt, bis zu ihrer Verbrennung 1431 nach. Die Dialoge sind in der Übersetzung Wolfgang Hildesheimers erfrischend unprätentiös – Karl Kraus hatte dem früheren Shaw-Übersetzer Siegfried Trebitsch bescheinigt, er übersetze „die […] Stücke des Herrn Shaw aus dem Englischen in eine ihm gleichfalls fremde Sprache“ – und das Stück trotz seinem historischen Stoff sehr eingängig. Angehängt wird ein Epilog, in dem Shaw in einer Traumsequenz Karls VII. (des früheren Dauphins) die Nachwirkung Johannas von ihrer Rehabilitation 1453 bis zur Heiligsprechung im Jahr 1920 wenigstens aufblitzen lässt; das Stück kommt sicherlich gut auch ohne diesen Wurmfortsatz aus. Auch Shaw setzt sich wie sein Vorgänger Schiller nicht groß mit dem Status der Visionen Jeannes auseinander; für ihn hat sie einfach eine lebhafte Phantasie und diese Erklärung muss hinreichen. Bei Shaw erwächst die Stellung Jeannes im Heer nicht ihrem göttlichen Auftrag, sondern schlicht der Tatsache, dass die französischen Befehlshaber keine Alternative mehr sehen und Johanna nach dem Motto folgen, dass es schlimmer auch nicht mehr werden könne. Insbesondere der Dauphin ist bei Shaw eigentlich gar nicht mehr bereit zu kämpfen, sondern will sich mit den Engländern auf einen Frieden einigen, der ihm seine Ruhe garantiert; nur widerwillig lässt er sich auf die von Jeanne initiierte Kampagne zur Befreiung Orléans ein.

Worin Shaw sich sicherlich irrt, ist zum einen, dass der Prozess gegen Johanna in irgend einem Sinne fair gewesen sei – das ist bei jeglichem Religionsprozess schlicht unmöglich – und dass er unpolitisch gewesen sei. Hier unterdrückt er das historische Faktum, dass das erste Urteil gegen Johanna – lebenslange kirchliche Haft – nicht auf den Widerstand der Verurteilten, sondern im Gegenteil auf den des englischen Hofes traf. Von daher ist auch seine Darstellung, es sei Johanna selbst gewesen, die sich am Ende für den Scheiterhaufen entschieden habe, als historisch falsch abzulehnen.

Sieht man davon ab, dass Shaw am Mythos Johannas ebenso scheitert wie seine Vorgänger, ist es ein flottes und amüsantes Stück eines alten Mannes um die Verbrennung eines 19-jährigen Mädchens, die in ihrer jugendlichen Naivität glaubte, es genüge das Gute zu wollen, um in der Welt bestehen zu können, durch eine Gruppe von Männern, die der Zufall in eine Position der Macht gespült hat. Es muss dann jede und jeder selbst schauen, wie sie oder er damit zurecht kommt.

Bernhard Shaw: Die heilige Johanna. Aus dem Englischen von Siegfried Trebitsch (Essay) und Wolfgang Hildesheimer (Drama). st 1861. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 82016. Broschur, 237 Seiten. 11,– €.

Hubert Wolf: Index

wolf-indexDie vatikanischen Archive, die unter anderem auch die Unterlagen der Zensurbehörden und ihrer Entscheidungen enthalten, sind erst seit 1998 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Hubert Wolfs ist wohl die erste populäre deutschsprachige Darstellung der Tätigkeit der Index-Kongregation überhaupt. Wolf ist Kirchenhistoriker und leitet eine Arbeitsgruppe, die damit beschäftigt ist, die Akten der Indexkongegration zu edieren und zum Druck zu befördern. Er sitzt also an der Quelle, was man dem Buch leider auch an einigen Stellen anmerkt.

Die Darstellung ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil liefert Wolf eine kurze Geschichte des katholischen Index und einen Überblick über den gewöhnlichen Ablauf eines Verfahrens bei der Indexkongregation. Der zweite Teil liefert anhand von neun Autoren Beispiele für die Art und Weise, wie Indizierungsverfahren von der Anzeige bis zum Urteil und der eventuellen Publikation des Verbotes abliefen. Nur ein Teil dieser Exempel betreffen belletristische Autoren: Knigge (nicht indiziert), Heine (indiziert), Beecher Stowe (nicht indiziert) und Karl May (ebenfalls nicht indiziert). Die anderen behandeln theologische oder kirchengeschichtliche Werke. Besonders diejenigen Fallbeispiele, bei denen es nicht zu einer Indizierung der verhandelten Werke gekommen ist, sind von Interesse, da von ihnen bislang wenig oder nichts bekannt war. Nur die Fälle eines Verbots wurden publiziert; Anzeigen, die entweder gar nicht erst zugelassen wurden (Karl May) oder die nicht zu einem Verbot führten (Beecher Stowe), blieben dagegen bis zur Öffnung der Archive weitgehend unbekannt.

Insgesamt ein gut lesbares Buch, wenn auch der erste Teil deutlich besser gelungen scheint als der zweite. Die Fallbeispiele leiden passagenweise unter einer Neigung des Autors zur zu breiten Darlegung der Aktenlage. So findet sich etwa in den Unterlagen zum Fall Karl May ein Zeitungsausschnitt, der der anonymen Anzeige beilag. Hubert Wolf gelingt es, mit Hilfe der auf der Rückseite abgedruckten lokalen Zeitungsmeldungen Erscheinungsort und -datum zu identifizieren. Allerdings verzichtet er großzügig darauf, uns das Ergebnis schlicht mitzuteilen; stattdessen erfahren wir zuerst, was die beiden Spalten enthalten, aus denen sich nichts schließen lässt, dann den Inhalt der dritten Spalte, aus der sich der Ort wenigstens eingrenzen lässt, und dann erst wird die Katze aus dem Sack gelassen. Dabei handelt es sich wohl um die Vorstellung eines Archivars von Spannung. Leider sind nahezu alle Fallbeispiele von dieser Art der Gründlichkeit geprägt.

Abgerundet wird der Band durch zwei Auswahllisten: zum einen bekannterer indizierter Bücher, zum anderen zwar verhandelter, aber nicht verbotener Bücher.

Wegen des historischen Überblicks im ersten Teil auf jeden Fall zu empfehlen. Dem Freund der schönen Literatur wird es danach genügen, die vier »literarischen« Fälle kurz zur Kenntnis zu nehmen und die ermüdenden und nicht ohne Redundanzen auskommenden übrigen Beispiele auf sich beruhen zu lassen.

Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. Beck’sche Reihe 1749. München: C.H. Beck, 2007. 303 Seiten. 12,95 €.