Der Roman des Freiherrn von Vieren

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Dieses Fragment eines Romans aus dem Jahr 1815 wurde 1926 erstmals aus dem Nachlass Adalbert von Chamissos veröffentlicht. Es umfasst faktisch sieben Kapitel von drei Autoren (Adalbert von Chamisso, Karl Wilhelm Salice-Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué) mit in der vorliegenden Ausgabe knapp 50 Seiten; zwar werden acht Kapitel gezählt, aber das fünfte, das einzige von E. T. A. Hoffmann verfasste, fehlt im Manuskript und scheint überhaupt verloren gegangen zu sein. Hoffmann hat es nach der Aufgabe des Projektes offenbar zurückgefordert und als Grundlage für seine Erzählung „Der Doppeltgänger“ (1821) benutzt. Außer Hoffmann hat auch der mit drei Kapiteln beteiligte, heute nur noch literarhistorisch rezipierte Karl Wilhelm Salice-Contessa (1777–1825) aus seinem Anteil am Fragment eine Veröffentlichung erzeugt: „Das Bild der Mutter“ (1818). Beide Verarbeitungen werden in der vorliegenden Ausgabe dankenswerter Weise mit abgedruckt; so hat man wenigstens nicht nur das kurze Fragment zum Lesen.

Das Fragment selbst kommt kaum über die Exposition der angestrebten Verwicklungen hinaus: Offensichtlich geht es um gleich drei Brüder – eineiige Drillinge, was die Voraussetzung für die angestrebten Verwicklungen bildet –, die, nachdem sie getrennt und ohne Kenntnis voneinander aufgewachsen sind, nun schicksalhaft aufeinandertreffen. Nachdem dem Leser dies klar geworden ist, setzen zwei der Figuren zu einer Verfolgungsjagd auf einen der Brüder und eine in all dies verstrickte junge Dame an, doch bricht das Fragment an dieser Stelle ab. So recht beurteilen kann man den Text nicht; einzig klar wird, dass es keinen groben Entwurf der gesamten Handlung gab, sondern die Autoren sich von Kapitel zu Kapitel vorwärts wurschtelten. Wahrscheinlich war es eine kluge Entscheidung, das Experiment dieses Vierer-Romans aufzugeben; jedenfalls geben die erhaltenen Seiten nicht Anlass zur Erwartung, hier wäre ein großer Wurf verloren gegangen.

„Das Bild der Mutter“ von Contessa ist eine Art Schmonzette, die ohne das Doppelgänger-Motiv auskommt, sondern nur mit dem Brüder-Motiv arbeitet. Die familiären Verwicklungen halten sich daher in Grenzen und werden auf recht banale Weise aufs Glücklichste aufgelöst. Ich selbst habe von Contessa nichts außer diesem Text gelesen, und das wird auch bis auf Weiteres so bleiben. Hoffmanns „Der Doppeltgänger“ gehört ebenfalls nicht zu dessen beliebtesten Erzählungen. Wie der Titel schon verrät, übernimmt Hoffmann das bei ihm mehrfach auftauchende Doppelgänger-Motiv, reduziert die Anzahl der Brüder aber auf zwei. Die beiden sind bereits als Kinder unschuldig in den Streit zweier Fürsten geraten, der ihren Lebensgang geprägt hat. Hoffmanns Erzählung ist angereichert durch zahlreiche unterschiedliche Figurenspiegelungen. Hoffmann ist sich der Trivialität der Fabel sehr bewusst und bricht deren Pathos immer wieder durch burlesk übertriebenen Humor, der dem Text eine unübersehbare ironische Ebene einzieht. Das rettet Hoffmanns Erzählung vor der Banalität der Contessas.

Alles in allem ein etwas obskures Dokument; wirklich lesenswert nur für echte Freunde der deutschen Romantik.

Adalbert von Chamisso / E. T. A. Hoffmann / Friedrich de la Motte Fouqué / Karl Wilhelm Salice-Contessa: Der Roman des Freiherrn von Vieren / Das Bild der Mutter / Der Doppeltgänger. Hg. v. Markus Bernauer. München: dtv, 2018. Pappband, Lesebändchen, 223 Seiten. 22,– €. Nur noch antiquarisch lieferbar.

Michael Köhlmeier: Gedanken, als ob sie zur Mitternacht gedacht worden wären, und ein Gespräch mit einem Freund

Es ist auch für eine kleine, eher unauffällige Buchreihe in einem großen Verlag eher ungewöhnlich, in ihr einen so bekannten und weitverbreiteten Text wie E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf in einer Einzelausgabe neu herauszugeben, umso mehr, wenn es sich um einen einfachen Nachdruck aus einer anderen Ausgabe handelt, es also keine philologisch bemerkenswerten oder wenigstens ungewöhnlichen Abweichungen zu bisherigen Ausgaben gibt. Dennoch ist es hier geschehen, und ich erlaube mir anzunehmen, dass es ausschließlich deshalb geschehen ist, um Michael Köhlmeiers Nachwort – Gedanken, als ob sie zur Mitternacht gedacht worden wären, und ein Gespräch mit einem Freund – beides in Hoffmans Manier abdrucken zu können und dennoch ein Büchlein von nennenswertem Umfang zu erhalten.

Ich erlaube mir daher, hier nicht die Erzählung Hoffmans vorzustellen – das findet man schon anderswo –, sondern mich auf das Nachwort Köhlmeiers zu konzentrieren. Köhlmeier erzählt darin von einem jungen Freund, ebenso Schriftsteller wie er, der zu ihm in einer Art von Schüler-Verhältnis steht, ihn wenigstens als erfahreneren und gebildeteren Mentor ansieht. Diesen jungen Mann habe Köhlmeier gebeten, Hoffmanns Der goldene Topf zu lesen, und Köhlmeier berichtet nun das sich an diese Lektüre anschließende Gespräch. Der junge Mann ist weitgehend unbeleckt von jeglicher Kenntnis der Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und liest den Text nach dem Hinweis Köhlmeiers als ein Märchen, ohne seinen biographischen, kulturellen oder historischen Hintergrund zu kennen.

Es ist nicht verwunderlich, dass der junge Mensch einen – aus der Sicht von jemandem, der mit dem Hintergrund des Textes und der Biographie des Autors etwas vertrauter ist – recht schiefen, aber nicht gänzlich falschen Eindruck von dem Text bekommt. Dem wird in dem Gespräch die Begeisterung und tiefe Verehrung Köhlmeiers entgegengesetzt, so dass wir einerseits einen verstörten Blick auf ein literarhistorisches Fragment, andererseits einen enthusiasmierten Blick auf ein geliebtes Stück der persönlichen Lesegeschichte Köhlmeiers haben, die einander unvermittelt gegenüberstehen. Der Text ist nett zu lesen, er bleibt aber als Essay zu flach und als Erzählung zu ziellos. Und als Werbetext für E. T. A. Hoffmann steht er am falschen Ort.

Es ist zu vermuten, dass es sich um ein Seitenstück zu dem jüngst bei Hanser erschienenen Roman Matou von Michael Köhlmeier handelt, der einen schreibenden Kater in der Tradition des Hoffmannschen Katers Murr erfindet, der seine sieben Leben autobiographisch nacherzählt.

Mich selbst hat der Text einmal mehr neugierig auf den Romanschriftsteller Köhlmeier gemacht, und ich habe sein Abendland mal nach oben auf den SuB gelegt. Mal sehen, was die Zeit bringt.

E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf. Mit einem Nachwort von Michael Köhlmeier. München: Beck, 2021. Bedruckter Pappband, 128 Seiten. 16,– €.

Jahresrückblick 2020

Das Lesejahr 2020 war zum Glück überwiegend positiv. Es waren eigentlich nur zwei Titel, bei denen ich die Lesezeit tatsächlich bereut habe:

  • August Lafontaines Quinctius Heymeran von Flaming wurde aufgrund einer späten Empfehlung Arno Schmidts erneut ediert. Das Buch selbst ist höchstens in historischer Perspektive von Interesse, an sich handelt es sich nur um routiniert geschriebene Unterhaltungsliteratur des 18. Jahrhunderts.
  • Orlando Figes’ Die Europäer ist ein weiteres oberflächliches, populär geschriebenes Buch aus der Feder eines Historikers, der es eigentlich besser wissen sollte.

Dem standen zahlreiche gute Lektüren gegenüber:

  • George Eliots Middlemarch hat das Lesejahr sicherlich überstrahlt: Der Roman, gegen den ich lange Zeit unbestimmte Vorbehalte gehegt hatte, erwies sich in der Neuübersetzung von Melanie Walz als eine große, humorvolle und realistische Erzählung, die die Literatur ihrer Zeit souverän überblickt.
  • Salman Rushdies Quichotte hat mich, nachdem ich eine Zeit gebraucht hatte, mich einzulesen, wahrhaftig überwältigt. Ein grandioser und phantasievoller moderner Roman von einem der wirklich großen Erzähler unserer Zeit.
  • Hinzu kommen die Fortsetzung der Dostojewskij-Lektüre mit Böse Geister und dem mich weniger überzeugenden Ein grüner Junge sowie die Lektüre der restlichen drei Bände der Serapionsbrüder E. T. A. Hoffmanns. Auch bei diesen Autoren wird die systematische Lektüre sicherlich fortgesetzt werden.
  • Als interessante Entdeckung standen am Ende des Jahres zwei Texte von Marguerite Duras, von der ich sicherlich noch das eine oder andere lesen werde.

Allen Lesern ins Stammbuch (136)

Ich meine, daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag. Befindet er sich dann immer höher und höher hinaufgeklettert, in einem phantastischen Zauberreich, so wird er glauben, dies Reich gehöre auch noch in sein Leben hinein, und sei eigentlich der wunderbar herrlichste Teil desselben. Es ist ihm der schöne prächtige Blumengarten vor dem Tore, in dem er zu seinem hohen Ergötzen lustwandeln kann, hat er sich nur entschlossen, die düstern Mauern der Stadt zu verlassen.
Vergiß, sprach Ottmar, vergiß aber nicht, Freund Theodor! daß mancher gar nicht die Leiter besteigen mag, weil das Klettern einem verständigen gesetzten Manne nicht ziemt, mancher schon auf der dritten Sprosse schwindligt wird, mancher aber auch wohl die auf der breiten Straße des Lebens befestigte Leiter, bei der er täglich, ja stündlich vorübergeht, gar nicht bemerkt! – Was aber die Märchen der Tausend und Einen Nacht betrifft, so ist es seltsam genug, daß die mehrsten Nachahmer gerade das übersehen, was ihnen Leben und Wahrheit gibt und was eben auf Lothars Prinzip hinausläuft. All die Schuster, Schneider, Lastträger, Derwische, Kaufleute etc., wie sie in jenen Märchen vorkommen, sind Gestalten, wie man sie täglich auf den Straßen sah und da nun das eigentliche Leben nicht von Zeit und Sitte abhängt, sondern in der tieferen Bedingung ewig dasselbe bleibt und bleiben muß, so kommt es, daß wir glauben, jene Leute, denen sich mitten in der Alltäglichkeit der wunderbarste Zauber erschloß, wandelten noch unter uns. So groß ist die Macht der Darstellung in jenem ewigen Buch.

E. T. A. Hoffmann
Die Serapionsbrüder

Allen Lesern ins Stammbuch (134)

Seine Hauptleidenschaft war – Lesen! – Er ging nie aus, ohne beide Rocktaschen voll Bücher gestopft zu haben. Er las wo er ging und stand, auf dem Spaziergange, in der Kirche, in dem Kaffeehause, er las ohne Auswahl alles was ihm vorkam, wiewohl nur aus der ältern Zeit, da ihm das Neue verhaßt war. So studierte er heute auf dem Kaffeehause ein algebraisches Buch, morgen das Kavellerie-Reglement Friedrich Wilhelms des Ersten, und dann das merkwürdige Buch: Cicero, als großer Windbeutel und Rabulist dargestellt in zehn Reden, aus dem Jahre 1720. Dabei war Tusmann mit einem ungeheuren Gedächtnisvermögen begabt. Er pflegte alles, was ihm bei dem Lesen eines Buches auffiel, zu zeichnen und dann das Gezeichnete wieder zu durchlaufen, welches er nun nie wieder vergaß. Daher kam es, daß Tusmann ein Polyhistor, ein lebendiges Konversations-Lexikon wurde, das man aufschlug, wenn es auf irgendeine historische oder wissenschaftliche Notiz ankam. Traf es sich ja etwa einmal, daß er eine solche Notiz nicht auf der Stelle zu geben vermochte, so stöberte er so lange unermüdet in allen Bibliotheken umher, bis er das, was man zu wissen verlangte, aufgefunden, und rückte dann mit der verlangten Auskunft ganz fröhlich heran. Merkwürdig war es, daß er in Gesellschaft, lesend und scheinbar ganz in sein Buch vertieft, doch alles vernahm was man sprach. Oft fuhr er mit einer Bemerkung dazwischen, die ganz an ihrem Orte stand, und wurde irgend etwas witziges, humoristisches vorgebracht, gab er, ohne von dem Buche aufzublicken, durch eine kurze Lache im höchsten Tenor seinen Beifall zu erkennen.

E. T. A. Hoffmann
Die Serapionsbrüder

Allen Lesern ins Stammbuch (132)

Die scharfsinnigen Untersuchungen darüber kommen mir vor, wie die Abhandlungen der englischen Akademiker, denen der König aufgegeben, zu erforschen, woher es rühre, daß ein Eimer mit Wasser, in den man einen zehnpfündigen Fisch getan, nicht mehr wiege, als der andere bloß mit Wasser gefüllte. Mehrere hatten das Problem glücklich gelöst, und schon wollten sie mit ihrer Weisheit vor den König treten, als einer klugerweise anriet, die Sache selbst erst zu versuchen. Da behauptete denn der Fisch sein Recht, er fiel ins Gewicht, wie er sollte, und siehe, das Ding selbst, worüber die Weisen mittelst scharfsinnigen Nachdenkens die herrlichsten Resultate herausgebracht, existierte gar nicht.

E. T. A. Hoffmann
Die Serapionsbrüder

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder (4. Band)

Auf ein zweites Zeichen des Oberhofmarschalls Turneps ging nun ein tausendstimmiger Jubel los, die Bollenartillerie feuerte ihr Geschütz ab und die Musiker der Karottengarde spielten das bekannte Festlied: Salat-Salat und grüne Petersilie!

Der vierte und abschließende Band der Serapionsbrüder erschien im Mai 1821, also ein gutes Jahr vor Hoffmanns Tod.* Die nun wieder komplett versammelten literarischen Freunde sitzen im Spätherbst beisammen; den Auftakt zum siebten Abschnitt macht ein Gespräch über die Konversationskunst, also darüber, wie man ein gepflegtes Gespräch unterhält. Es folgt als erste Erzählung die umfangreiche Novelle

  • Signor Formica (Ot)**, die mit einer Entschuldigung für ihre Weitschweifigkeit eingeleitet wird, wobei sich Hoffmann als Vorbild auf Boccaccio beruft. Die Erzählung beginnt als Künstlernovelle, in der der schon bekannte Maler Salvator Rosa bei seiner Ankunft in Rom erkrankt und nach einigen Umständen den Wundarzt Antonio Scacciati kennenlernt, der heimlich ebenfalls als Maler arbeitet und eine entsprechende künstlerische Ausbildung bei bedeutenden Meistern durchlaufen hat. Rosa gelingt es durch einen Trick, ein Werk Scacciatis an der römischen Akademie durchzusetzen. Dieses Bild bildet nun den Übergang zu einer Liebesnovelle: In die im Bild als Maria Magdalena portraitierte junge Marianna ist Scacciati selbstredend verliebt, und Rosa verspricht ihm, dass er ihm helfen werde, um diese Geliebte zu werben. Der Rest des Novelle schildert nun die umständlichen Versuche, Marianna aus den Klauen ihres Onkels, der sie ebenfalls heiraten will, zu befreien und am Ende zu entführen.
  • Nach dieser weitgehend klassischen Liebesnovelle und einer sich daran anschließenden Kritik der aktuellen Komödien folgen zwei für die bisherigen Bände der Serapionsbrüder eher ungewöhnliche Stücke: zum einen ein Gespräch über den sehr kontrovers rezipierten zeitgenössischen Dichter [Zacharias Werner] und zum anderen das kurze Fragment Erscheinungen (Cy), das einmal mehr Hoffmanns Erfahrungen bei der Belagerung Dresdens im Jahre 1813 thematisiert. Die Diskussion um Zacharias Werner, mit dem Hoffmann nicht nur eine persönliche Bekanntschaft, sondern auch so manches biographische Detail verband, dürfte für heutige Leser nur noch historischen Wert haben. Die Erscheinungen wiederum liefert Hoffmann gleich in zwei Lesarten: einer phantastischen Erzählung und einer Auflistung jener tatsächlichen Begebenheiten, die in ihr geschildert werden. Man darf getrost davon ausgehen, dass das Fragment für Hoffmann einerseits persönlich sehr wichtig war, ihm aber andererseits klar war, dass kaum jemand mit diesem kurzen Text würde etwas anfangen können. Zu der lange geplanten und immer wieder aufgeschobenen Verarbeitung des gesamten Dresden- Komplexes ist Hoffmann dann nicht mehr gekommen.

Der siebte Abschnitt endet mit der Schilderung einer improvisierten italienischen Nonsens-Oper, die die Freunde „gewaltsam aufgeregt zu toller Lust“ in die Nacht entlässt.

Der achte Abschnitt beginnt nach einer denkbar kurzen Einleitung mit der Erzählung

  • Der Zusammenhang der Dinge (Sy) – in der Rahmenhandlung eine Satire auf das Leben des Adels, das sich in nichtssagenden Ritualen und leeren Gesten erschöpft. Erzählt wird von zwei jungen Baronen, die miteinander aufgewachsen sind. Der eine von ihnen, Ludwig, hat einen etwas exaltierten Charakter und ist ständig in das nächstbeste Frauenzimmer verliebt, wirbt aber zugleich um die Hand der Grafentochter Viktorine. Der andere, Euchar, ist ein stiller, in sich gekehrter junger Mann, der Ludwig zwar die Treue hält, sich im Übrigen aber von der Albernheit der ihn umgebenden Gesellschaft weitgehend fern hält. In einer Binnenerzählung, die Euchar bei einer ästhetischen Teegesellschaft zum Besten gibt und die von den Abenteuern seines vorgeblichen Freundes Edgar im Spanischen Befreiungskrieg berichtet, werden Elend und Not der Wirklichkeit in die isolierte Adelswelt hereingeholt.
  • Nach einem kurzen Gespräch der Serapionsbrüder über historische Romane und dem Lob Walter Scotts, kommen die Freunde auf das Phänomen des [Vampyrismus] zu sprechen. Dazu passend erzählt Cyprian eine kurze, reine Schauergeschichte, in der eine junge Frau nach dem Tod ihrer unheimlichen Mutter selbst dem Schrecklichen verfällt.
  • Es folgt die sehr kurze Parodie [Die ästhetische Teegesellschaft] (Ot), die sich sowohl über die belanglose Mode der zeitgenössischen Laien-Dichtung als auch über die ihr entgegengebrachte Begeisterung eines sich literarisch gebildet dünkenden Publikums lustig macht.
  • Das Prunk- und Abschlussstück des Bandes aber ist Die Königsbraut (Vi), ein zuvor bereits mehrfach angekündigtes Märchen, in dem Hoffmann einmal mehr sein phantastisches und humoristisches Talent spielen lässt. Erzählt wird das Abenteuer des jungen Fräuleins Ännchen von Zabelthau, die mit ihrem etwas vergeistigten Vater in ärmlichen Verhältnissen auf dem väterlichen Gutshof lebt. Verlobt ist sie dem Studenten Amandus von Nebelstern, und es ist auch schon alles geregelt zwischen den jungen Leuten, als Ännchen eines Tages in ihrem Gemüsegarten einen Ring findet, durch den eine Karotte gerade hindurchgewachsen ist. Unbedacht streift sie den Ring über und findet sich unversehens mit dem Gemüsekönig Daucus Carota I. verlobt. Ob und wie sie aus dieser Not aufs Umständlichste gerettet werden kann, soll bitte jede und jeder selbst nachlesen.

Der vierte Band der Serapionsbrüder bringt noch einmal eine breite Palette der Hoffmannschen Erzählkunst von der historischen Künstlernovelle über Satire und Schauergeschichte bis hin zum phantastischen, humoristischen Märchen. Zugleich zeigt sich aber auch einmal mehr, dass Hoffmann nicht nur als Unterhaltungsautor seiner Zeit wahrgenommen werden sollte.

Alles in allem dürften besonders die Märchen, die in den Bänden 1, 2 und 4 jeweils den Abschluss bilden, den Hauptteil des Erfolges tragen, den die Sammlung bis heute hat. Aber natürlich wirken auch weiterhin Stücke wie Die Bergwerke zu Falun oder Das Fräulein von Scuderi nach, ganz abgesehen von Hoffmanns nicht zu unterschätzendem stilistischen Einfluss auf die phantastische Literatur des 19. und 20. Jahrhundert.

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Sämtliche Werke 4. Hg. v. Wulf Segebrecht. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 2001. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1679 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.


* – Grundsätzliches zu Die Serapionsbrüder findet man in der Besprechung des ersten Bandes.

** – Titel in eckigen Klammern tauchen nicht im Original auf; die Kürzel in Klammern hinter den Titeln zeigen an, welcher der Serapionsbrüder die Erzählung vorträgt.

Aus meinem Poesiealbum (XXIV) – Männer von Geist

War, wie der geneigte Leser schon vernommen, der Begriff von Schönheit, wie ihn Herr Dapsul von Zabelthau statuierte, auch himmelweit von dem Begriff verschieden, wie ihn junge Mädchen in sich tragen, so hatte er doch wenigstens so viel irdische Erfahrung, um zu wissen, daß besagte Mädchen meinen, Verstand, Witz, Geist, Gemüt seien gute Mietsleute in einem schönen Hause, und daß ein Mann, dem ein modischer Frack nicht zum besten steht, und sollte er sonst ein Shakespeare, ein Göthe, ein Tieck, ein Friedrich Richter sein, Gefahr läuft, von jedem hinlänglich angenehm gebauten Husarenlieutnant in der Staatsuniform gänzlich aus dem Felde geschlagen zu werden, sobald es ihm einfällt, einem jungen Mädchen entgegen zu rücken.

E. T. A. Hoffmann: Die Königsbraut. SW IV, 1178.

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder (3. Band)

Die Freunde waren darin einig, daß nichts so toll und wunderlich zu ersinnen, als was sich von selbst im Leben darbiete.

Der dritte Band der Serapionsbrüder erschien im September 1820, ein Jahr nach dem zweiten.* Wie um diese Zeitspanne zu thematisieren, lässt Hoffmann den fünften Abschnitt mit dem Hinweis beginnen, dass mehrere Monate seit dem letzten Treffen der Freunde vergangen seien. Theodor war in der Zwischenzeit ernstlich erkrankt und von Lothar gepflegt worden; die andere inzwischen vier Serapionsbrüder waren aus unterschiedlichen Gründen von Berlin abwesend. Nun bietet die Rückkehr Ottmars den Anlass, die Gesundung Theodors zu feiern und einen weiteren literarischen Abend miteinander zu verbringen. Die Rückkehr Cyprians wird vorerst aufgespart, um in die Schauergeschichte Der unheimlich Gast einen kleinen, ironisierenden Knalleffekt einbauen zu können.

Das Gespräch der drei Freunde, diesmal unter freiem Himmel in einer Gartengaststätte, knüpft an Der Kampf der Sänger aus dem vorhergehenden Band an: Lothar habe sich, durch diese Geschichte angeregt, nun selbst mit alten Chroniken befasst und dort vorzüglich auf das Treiben des Teufels – der ja auch im Kampf der Sänger eine nicht unwichtige Rolle spielt – Acht gegeben. Er belegt dies auch sogleich durch die eher anekdotische Erzählung [Aus dem Leben eines bekannten Mannes] (Lo)**, die von einer unglücklichen Geburt und der anschließenden Verleumdung der Hebamme als Hexe und ihrer Verbrennung berichtet. Nach einem kurzen Exkurs über das reale Leid der Hexenprozesse und das Spiel der romantischen Phantasie mit solchen Motiven des Unheimlichen, folgen zwei Geister- bzw. Schauergeschichten:

  • Die Brautwahl (Lo) erzählt in humoristischer und stark ironischer Weise eine verwickelte Liebeskomödie im zeitgenössischen Berlin. Im Zentrum steht der Goldschmied Leonhard, der seinem Schützling Edmund, einem jungen Maler, mit zauberischen Mitteln zu seiner Angebeteten Albertine verhilft, die aber durch ihren Vater schon dem Geheimen Kanzlei-Sekretät Tusmann versprochen ist. Zur Auflösung stiehlt Hoffmann aus Shakespeares Kaufmann von Venedig die Kästchenwahl; er erfindet sogar einen sonst gänzlich unnützen dritten Bewerber um die Gunst Albertines hinzu, um das Motiv vollständig kopieren zu können. Hübsch ist dann auch, dass Hoffmann bei aller Zitierung der Shakespeareschen Komödien seinen Lesern ein Komödienende schließlich verweigert. Stil und Ton der Erzählung dürften später ein wichtiges Vorbild für Bulgakows Der Meister und Margarita geliefert haben.
  • Der unheimliche Gast (Ot) ist eine schauerliche Liebesgeschichte, in der ein Graf in der Familie eines Obristen auftaucht – der Obrist selbst ist dem Grafen durch frühere Gefälligkeiten verpflichtet – und dort durch magnetisch-hypnotischem Einfluss die Gefühle einiger junger Leute durcheinanderbringt. Auch hier versucht Hoffmann, wie oben bereits angedeutet, die schlimmsten Klischees des Genres zu ironisieren, was aber nicht so ganz gelingt. Die literarischen Freunde stellen denn auch fest, dass derlei Figuren wie der fremde Graf schon Überhand genommen haben und man sie leid geworden ist.

Auch der sechste Abschnitt hat als Ort die Gartenwirtschaft; nun sind wieder alle sechs Serapionsbrüder versammelt: Die Rückkehr Sylvesters nach Berlin ist durch die erfolgreiche Uraufführung eines Theaterstücks aus seiner Feder veranlasst. Der Abschnitt beginnt denn auch mit einem Gespräch über die Nöte der Dramatiker, die ihre Stücke an Regisseur und Schauspieler ausliefern müssen. Den Band beschließen drei Erzählungen:

  • Das Fräulerin von Scuderi (Sy) ist eine lange Erzählung, die als erste Kriminalerzählung überhaupt angesehen wird. Auch in diesem Fall ist die ursprüngliche Quelle die Wagenseilsche Chronik – die schon Pate für den Kampf der Sänger gestanden hatte –, die von einer Mord- und Diebesserie im Frankreich Ludwig XIV. berichtet. In Mittelpunkt steht das titelgebende, alte Fräulein von Scuderi, das am Hofe verkehrt und auf merkwürdige Weise in die Verbrechensserie hineingezogen wird. Der Leser darf nach modernen Maßstäben keine zu streng gearbeitete Kriminalhandlung erwarten, aber die eigentliche Spannung des Stücks wird schon aus der falschen Beschuldigung eines Verdächtigen und dem endlichen Nachweis seiner Unschuld gezogen. Das Stück ist aber erzählerisch noch weit von Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue, also der Erfindung des analytischen Detektivs entfernt.
  • Spieler-Glück (Th) ist eine etwas dünn geratene, mehrfach verschachtelte Erzählung über Kartenspieler, die alle von einer unglaublichen Glückssträhne heimgesucht und ins oder wenigstens beinahe ins Verderben gestürzt werden. Da es Hoffmann nicht wirklich gelingt, den psychologischen Typus des Spielers zu erfassen, bleiben die Protagonisten alle etwas vage und schwankend. Hoffmann bemerkte schon, dass in der Spielsucht ein Motiv steckt, dass dem Unheimlichen verbunden ist, aber die Erzählung gelingt letztlich nicht.
  • Den Abschluss bildet die kurze humoristisch-musikalischen Anekdote [Der Baron von B.] (Cy), in der ein reicher Musikkenner und eingebildeter Geigenvirtuose eine große Rolle im Berliner Musikleben spielt.

Wird fortgesetzt …

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Sämtliche Werke 4. Hg. v. Wulf Segebrecht. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 2001. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1679 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.


* – Grundsätzliches zu Die Serapionsbrüder findet man in der Besprechung des ersten Bandes.

** – Titel in eckigen Klammern tauchen nicht im Original auf; die Kürzel in Klammern hinter den Titeln zeigen an, welcher der Serapionsbrüder die Erzählung vorträgt.

Von der Erfindung des idealen eBook-Readers

Tusmann wollte davon, da vertrat ihm aber der Goldschmidt den Weg und sprach: Tusmann, Ihr seid nicht gescheut, kein Schatz kann Euch ersprießlicher sein, als der, den Ihr gefunden! […] Tut mir den Gefallen und steckt das Buch, das Ihr aus dem Kästchen nahmt, in die Tasche. – Tusmann tat es. –
Nun, fuhr der Goldschmidt fort, nun denkt Euch ein Buch, das Ihr gern in diesem Augenblick bei Euch tragen möchtet.
O Gott, sprach der Geheime Kanzlei-Sekretär verdutzt, o Gott, unbesonnener unchristlicher Weise warf ich Thomasii kurzen Entwurf der politischen Klugheit in den Froschteich! –
Faßt in die Tasche, zieht das Buch hervor, rief der Goldschmidt.
Tusmann tat, wie ihm geheißen, und siehe – das Buch war eben kein anderes, als Thomasii Entwurf.
Ha, was ist das, rief der Geheime Kanzlei-Sekretär ganz außer sich, o Gott, mein lieber Thomasius gerettet vor den feindlichen Rachen schnöder Frösche, die doch nimmermehr daraus Conduite gelernt!
Still, unterbrach ihn der Goldschmidt, steckt das Buch wieder in die Tasche. – Tusmann tat es.
Denkt, fuhr der Goldschmied fort, denkt Euch jetzt irgend ein seltnes Werk, dem Ihr vielleicht lange vergebens nachgetrachtet, das Ihr aus keiner Bibliothek erhalten konntet.
O Gott, sprach der Geheime Kanzlei-Sekretär beinahe wehmütig, o Gott, da ich nun auch zu meiner Erheiterung bisweilen die Oper zu besuchen gesonnen, wollte ich mich vorher etwas in der edlen Musica feststellen und trachtete bis jetzt vergebens, ein kleines Büchlein zu erhalten, das allegorischer Weise die ganze Kunst des Komponisten und Virtuosen darlegt. Ich meine nichts anders, als Johannes Beers musikalischen Krieg oder die Beschreibung des Haupttreffens zwischen beiden Heroinen, als der Komposition und Harmonie, wie diese gegeneinander zu Felde gezogen, gescharmutzieret und endlich nach blutigem Treffen wieder verglichen worden. –
Faßt in die Tasche, rief der Goldschmidt, und vor Freude jauchzte der Geheime Kanzlei-Sekretär laut auf, als er das Buch aufschlug, das nun eben wieder Johannes Beers musikalischen Krieg enthielt.
Seht Ihr wohl, sprach nun der Goldschmidt, mittelst des Buchs, das Ihr in dem Kästchen gefunden, habt Ihr die reichste, vollständigste Bibliothek erlangt, die jemals einer besessen, und die Ihr noch dazu beständig bei Euch tragen könnt. Denn habt Ihr dieses merkwürdige Buch in der Tasche, so wird es, zieht Ihr es hervor, jedesmal das Werk sein, das Ihr eben zu lesen wünscht.
Ohne auf Albertine, ohne auf den Kommissionsrat zu achten, sprang der Geheime Kanzlei-Sekretär schnell in die Ecke des Zimmers, warf sich in einen Lehnsessel, steckte das Buch in die Tasche, zog es wieder hervor, und man sah an dem Entzücken, das in seinen Augen strahlte, wie herrlich eintraf, was der Goldschmidt verheißen.

E. T. A. Hoffmann: Die Brautwahl. (SW IV, 713 f.)