Allen Lesern ins Stammbuch (70)

Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. – Man sucht den Wert des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Klassiker – das gibt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Prozedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehltau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Wert, der gewöhnlich verkannt wird – daß diese Lehrer die abstrakte Sprache der höhern Kultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; daß Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellekt zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformiert. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraktion als reines Naturkind herauszukommen.

Friedrich Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches

2 Gedanken zu „Allen Lesern ins Stammbuch (70)“

  1. Ich mag ja voreingenommen sein, weil ich Nietzsche seit jeher unerträglich finde – aber daß jemand, der so furchtbare Prosa schreiben kann, als einer der größten Stlisten deutscher Sprache gilt, will mir nicht in den Kopf. Gegen den Inhalt habe ich nichts einzuwenden.

  2. Nietzsche unerträglich zu finden, ist ja keine so ganz unpassende Reaktion auf seine Schriften; vieles von dem, sollte ja auch unerträglich sein. Aber ich fürchte, das ist nicht das, was Du meintest.

    Was die berühmten „großen Stilisten“ angeht, so ist es meiner Erfahrung nach oft schwierig zu erkennen, was damit gemeint sein soll. Nietzsche ist deutlich ein sprachlicher Manierist, wobei das hier noch zahm ist. Vielleicht meint „Stilist“ am Ende nur, dass er eine eigene, erkennbare Schreibe habe, und „groß“, dass sie dem Leser gefällt?

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