Philip Roth und die biographische Wahrheit

Philip Roth hat mit einem Brief im Blog des New Yorker einen Sturm im Wasserglas ausgelöst. Der zugrundeliegende Sachverhalt ist folgender:

Roth hat unvorsichtigerweise den Artikel zu seinem Roman »The Human Stain« in der Wikipedia gelesen und anschließend einen Vermittler gebeten, die dort kolportierte Information, Roth sei zu dem Roman durch das Leben des New Yorker Autors Anatole Broyard inspiriert worden, zu löschen. Der Vermittler bekam von einem Administrator der Wikipedia die Antwort, man benötige mindestens eine zweite, unabhängige Quelle, um die entsprechende Änderung vorzunehmen.

Roth fühlte sich daraufhin als Autor seines eigenen Romans nicht ernst genommen und machte den Vorgang und den seiner Meinung nach im Wikipedia-Eintrag vorhandenen Fehler öffentlich; ein verständlicher Schritt, nachdem er auf direktem Weg nicht zum Ziel gekommen war. Statt eines Edit-Wars löste er damit die übliche Sturzflut hoch kompetenter Leserbriefe und Föjetong-Kommentare (vgl. auch hier) aus, was aus seiner Sicht wahrscheinlich nervenschonender ist.

Mir scheinen die meisten Kommentare allerdings das hier aufscheinende Problem nicht zu verstehen: Weder ist es zweckmäßig, den durchaus vernünftigen Grundsatz der Wikipedia nach zwei voneinander unabhängigen Quellen zu kritisieren, noch Philip Roth vorzuwerfen, er habe das Medium Wikipedia nicht verstanden und solle doch einfach eine zweite Quelle benennen und gut sei es.

In Frage steht die Quelle der Inspiration, für die der Autor auf Anhieb die einzige Autorität zu sein scheint. Wie soll ein Autor seine Inspiration von ihm selbst unabhängig belegen, da es sich offensichtlich um ein privates Ereignis in seinem Kopf handelt, über das, wenn überhaupt, nur er Auskunft geben kann. Und so wäre jede weitere Quelle durch ihn kontaminiert: Selbst wenn er nun jemanden anführen könnte, dem er Jahre vor Veröffentlichung des Buches erzählt hat, dies und das habe ihn auf die Idee gebracht oder zur Niederschrift inspiriert, so wäre dessen Zeugnis nur die Wiederholung der Selbstauslegung des Autors. Angesichts dieser Lage ist es verständlich, dass Roth die Nachfrage nach einer zweiten Quelle als eine Verhöhnung seiner ausgezeichneten Stellung im Prozess der Werkentstehung empfindet und entsprechend pikiert reagiert.

Auf der anderen Seite zeigt die Erfahrung der Literaturwissenschaftler, dass Autoren in autobiographischen Fragen nur bedingt zu trauen ist: Zu sehr ist es den meisten Autoren zur zweiten Natur geworden, Ereignisse, Gedanken, Charakterzüge zu variieren und fiktionalisieren, dass es den meisten, je länger sie das Geschäft betreiben, um so schwerer fällt, bei den schlichten biographischen Wahrheiten zu verharren und sie nicht zur Literarisierung und Stilisierung der eigenen Person zu verwenden. So lässt auch Roth’ wortreiche und offenbar emotional fundierte Abwehr der Idee, »The Human Stain« sei vom Leben Anatole Broyards inspiriert, zumindest den Verdacht aufkommen, dass Roth eine vergleichbar falsche Information, die auf einen beliebigen anderen Literaten rekurriert hätte, vielleicht mit einem Schulterzucken und einem Lächeln zur Kenntnis genommen oder gar als Verwirrung stiftende Fehldeutung ironisch begrüßt hätte.

Besonders merkwürdig aber wird der Fall, so meine ich, gerade dadurch, dass es um den Roman »The Human Stain« geht, ein Buch, dessen Protagonist zu Unrecht des Rassismus verdächtigt wird und dabei selbst ein negativer Rassist ist, nämlich ein solcher, der die Vorurteile der weißen Welt gegen seine Hautfarbe dadurch umgeht, dass er sich erfolgreich für einen jüdischen Weißen ausgibt. Coleman Silk ist ein Musterbeispiel für jemanden, dessen gesamtes Leben eine anpasserische Lüge an eine falsche Welt ist. Roth ist der Letzte, der ihm das zum Vorwurf macht, denn wie jeder intelligente Schriftsteller weiß er um die Gebrechlichkeit der irdenen Einrichtungen und die Um- und Schleichwege, zu denen die Menschen darum gezwungen sind.

Von daher gibt es neben der geradlinigen und naiven Lektüre des Briefes von Roth noch eine weitere: Nämlich die, dass der Anteil des Lebens von Anatole Broyard an der Inspiration zum Roman weit größer ist, als Roth es eingestehen möchte und dass seine wortreiche Abwehr dieser Tatsache gerade der fehlende, unabhängige Beleg dafür ist, dass das von Roth Bestrittene stimmt; und dass Roth dies weiß und es gerade dadurch eingesteht, dass er es bestreitet. Das zumindest wäre Roth und »The Human Stain« angemessen.

Was aber die Wikipedia dann damit machen sollte, bleibt völlig unerfindlich …

2 Gedanken zu „Philip Roth und die biographische Wahrheit“

  1. Mir gewinnt die ganze Sache ja allenfalls ein mildes Grinsen ab. Und wenn Roth das wirklich, wie oben angedeutet, bewußt lanciert haben sollte, überschätzt er doch bei weitem die Subtilität der heutigen Leserschaft, ganz zu schweigen die des „Föjetongs“. Sätze wie dieser aus dem verlinkten Welt-Artikel: „… grobe Sandkorn … um das herum sie eine Perlmuttschicht nach der anderen gelegt haben, bis am Ende die glänzende Perle der literarischen Erfindung in der offenen Muschel lag“ haben mich jedenfalls wieder einmal nachdrücklich darin bestärkt, sämtliche Feuilletons zu meiden wie der Teufel des Weihwasser.

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