Marcus Braun: Der letzte Buddha

Marcus Brauns Bücher sind seit seinem ersten Roman „Delhi“ anspruchsvolle Lektüren. Sein vorletzter Roman „Armor“ erschien vor etwas mehr als 10 Jahren; nun folgte im vergangenen Jahr „Der letzte Buddha“. Während es sich bei „Armor“ um eine erzählerisch sehr verdichtete Kriminalerzählung handelte, versucht sich Braun nun im Genre der Alternativen Geschichte.  Allerdings ist seine Erzählweise diesmal recht schlicht: Nur die historischen Voraussetzungen der Fabel stellen einige Ansprüche an die Leser, der Text selbst liest sich flott herunter.

Dem Buch zugrunde liegt der Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts aufgekommene Konflikt um die Bestimmung des 11. Panchen Lama: Nach dem Tod des 10. Panchen Lama im Jahr 1989 machte man sich wie üblich auf die Suche nach seiner Reinkarnation. Nachdem man eine Reihe von Kandidaten ermittelt hatte, legte man dem im Exil befindlichen 14. Dalai Lama ihre Fotos vor und bat ihn um seine Auswahl. Der vom Dalai Lama ohne weitere Rücksprache ausgewählte Gendün Chökyi Nyima wurde aber von der chinesischen Regierung abgelehnt; Peking ließ seinen eigenen Kandidaten Gyeltshen Norbu durch ein traditionelles Losverfahren ermitteln und in sein Amt einsetzen. Seitdem gibt es zwei nominelle Inhaber der Position des Panchen Lama: der chinesische Panchen Lama residiert in Lhasa; der von der tibetischen Exilregierung gewählte Prätendent ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, lebt und arbeitet aber nach offiziellen Angaben irgendwo in China.

Marcus Braun lässt nun eben diesen Gendün Chökyi Nyima als Jonathan Daguerre an der Westküste der USA wieder auftauchen: Adoptivsohn zweier vielbeschäftigter Eltern, die das Kind der Adoptiv-Großmutter überlassen, ist Jonathan zu einem etwas unpraktischen und arbeitsscheuen jungen Mann herangewachsen, der sein Leben zwischen psychiatrischer Therapie und Surfboard verbringt. Dies Leben nimmt die für den Roman notwendige unerwartete Wendung, als dem Korrespondenten der Los Angeles Times in Nepal ein Umschlag zugespielt wird, der die Behauptung enthält, der verschwundene Prätendent des Dalai Lama lebe als adoptiertes Waisenkind von 20 Jahren in den USA.

Diese Offenbarung trifft bei Jonathan auf offene Ohren, der sich sofort berufen glaubt, die ihm angebotene Existenz als 11. Panchen Lama anzunehmen. Er gibt bereitwillig sein altes Leben auf und zieht sich als tibetischer Mönch in ein Kloster zurück, um seine spirituelle Ausbildung zu beginnen. Doch weder der tibetische Buddhismus noch das Erlernen der tibetischen Sprache scheinen ihm sehr zu liegen. Den Höhepunkt seiner Karriere bildet ein Treffen mit dem Dalai Lama, das aber zu einem nichtssagenden Fiasko gerät; kurz danach wirft man ihn aus dem Kloster und kümmert sich nicht weiter um ihn.

In der Zeit, in der Jonathan diese Verwandlung durchläuft, gerät auch das Leben des chinesischen Panchen Lama aus den Fugen: Nach einer längeren Meditationsübung kommt Gyeltshen Norbu zu dem Entschluss, er müsse die Tibeter in die Freiheit führen, und beginnt daher, politisch aktiv zu werden. Der lokale politische Kommissar der chinesischen Kommunisten sieht darin eine Chance, seine eigene politische Position zu stärken (wie das genau geschieht, verrät uns der Autor zum Glück nicht), und lässt den Panchen Lama vorerst agieren, ja, macht ihn später sogar zum Gouverneur Tibets. Auch diese Geschichte endet nicht wirklich glücklich.

Es braucht hier nicht erzählt zu werden, wie die beiden Protagonisten enden; Braun bringt seine Geschichte nur knapp zu einem glaubhaften Ende. Wenn es ein Ziel von Literatur ist, zu berichten, was wahrscheinlich geschieht, wenn etwas Unwahrscheinliches geschieht, so muss man wohl feststellen, dass Brauns Fabel dies nur zu einem Teil zu erfüllen vermag. Nicht nur bleibt völlig offen, von wem und zu welchem Zweck die Entdeckung Jonathans ins Werk gesetzt wird, noch kann Braun mit seiner Hauptfigur nach dem Durchlaufen der offensichtlichsten Folgen dieser Entdeckung noch irgendetwas anfangen. Und ehrlich gesagt ist mit Jonathan auch sonst kaum irgendetwas los. Mag sein, es soll dem Leser gezeigt werden, wie weit die moderne Brot und Spiele-Welt von der Welt des Buddhismus entfernt ist, dass sich Machtpolitik und Meditation ausschließen oder – man verzeihe die grobe Wendung – dass auch Mönche über gebrauchsfähige Geschlechtsorgane verfügen. Doch kaum einer, der das nicht ohnehin schon weiß, wird wohl bei Brauns Buch ankommen.

Marcus Braun: Der letzte Buddha. München: Hanser Berlin, 2017. Pappband, 208 Seiten. 20,– €.

Marcus Braun: Armor

braun-armor Dass Marcus Braun stark reduzierte Texte mit erstaunlichem Tiefgang schreibt, hatte er bereits mit seinem bemerkenswerten ersten Roman »Delhi« (Berlin Verlag, 1999) unter Beweis gestellt. Ich muss zugeben, dass ich ihn danach etwas aus den Augen verloren habe; zwar stehen »Nadiana« (Berlin Verlag, 2000) und »Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen« (Berlin Verlag, 2003) seit dem Erscheinen im Bücherschrank, aber es ist immer wieder »etwas dazwischen gekommen«. Nun ist sein vierter Roman bei Suhrkamp erschienen und erfüllt die Erwartung, die ich an »Delhi« entwickelt hatte.

Braun hat einen äußerst reduzierten Erzählstil (angesichts der deutlichen Anspielungen auf Arno Schmidt, die »Delhi« enthält, dürfte man sicherlich auch von einem »dehydrierten Stil« sprechen, wenn das nicht zu viele Leser abschrecken würde), der wenig Überflüssiges enthält. Schon der Titel ist für diesen Stil bezeichnend: ›Armor‹ ist das, was bei Lewis Carroll ein Portmanteau-Wort heißt. Nicht nur ist es eine Kurzform von ›Aremorica‹, der keltischen Bezeichnung für die Nordwestküste Frankreichs, sondern in ihm steckt auch das lateinische arma (die Waffen, aber übertragen auch der Krieg oder gar die Arglist) und natürlich steckt auch die Liebe und die Leidenschaft, amor, darin.

Es ist dementsprechend nicht überraschend, dass »Armor« wenigstens auf den ersten Blick eine Liebesgeschichte erzählt, die in der Bretagne spielt. Protagonist ist Fabien, der mit Kate von Paris aus ans Meer unterwegs ist. Zwischen Saint-Malo und Cancale zerschlägt ihnen ein Stein die Windschutzscheibe ihres roten Alfa Romeo und sie kommen bei einer Zufallsbekanntschaft, Isabelle und ihrem sehr viel älteren Mann Jacques, unter. Da die einzige lokale Auto-Werkstatt nicht in der Lage ist, kurzfristig eine neue Frontscheibe zu besorgen, sehen sich Fabien und Kate genötigt, einige Zeit bei Jacques und Isabelle zu logieren. Jacques war früher Architekt und ist beim Bau eines Gezeitenkraftwerks reich genug geworden, um sich zur Ruhe zu setzen. Seine Frau Isabelle war zuerst die Geliebte seines Sohnes Arnaud, der vor einem Jahr beim Schwimmen ertrunken ist.

Was sich nun zwischen diesen vier Personen an zwi­schen­mensch­li­cher Dynamik entwickelt, könnte ohne weiteres als Vorlage eines Chabrol- Films dienen: Jacques, der weder den Tod seines Sohnes verarbeitet hat, noch Isabelles Unabhängigkeit oder seine eigene Untätigkeit so recht zu ertragen vermag, versucht ganz offensichtlich, Kate zu verführen, während Fabien zwischen seiner Begierde nach Isabelle (und Marie, aber das kann hier nicht auch noch dargestellt werden) und seiner Eifersucht hin- und hergerissen wird. Beinahe kann er Kate zur Abreise überreden, als er bei einem nächtlichen Badeausflug in einen Seeigel tritt, was weitere Verzögerungen und Verwicklungen mit sich bringt. Am Ende versorgt Braun den Leser gleich mit zwei Abschlüssen der Geschichte, wovon aber hier nichts weiter verraten werden soll.

All dies wird, wie schon gesagt, in einer kargen und durchtrainierten Prosa präsentiert, die mit Details geizt und den Leser zur aktiven Rekonstruktion des Geschehens zwingt. Man könnte hier den Verdacht haben, der Autor pflege einen artistischen Manierismus, aber diese Erzählweise ist tiefer begründet, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Bereits auf der Motto-Seite des Romans erscheint ein Zitat des Heiligen St. Malo (hier auch mit seinem keltischen Namen Maklou angeführt), der heute als nahezu komplett verschollen gelten darf. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass das Buch weit reicher unterfüttert ist, als es die beinahe banal anmutende Kri­mi­nal­hand­lung vermuten lässt: So ist Jacques etwa durch zahlreiche Details mit der Figur des Freibeuters Robert Surcouf, eines der berühmtesten Söhne der Stadt St. Malo, assoziiert. Sein wohl nicht ganz legal erworbener Reichtum, sein früher Rückzug ins Privatleben und nicht zuletzt sein an einen verwinkelten Fuchsbau gemahnendes Haus (Surcoufs letztes Schiff trug den Namen »Le Renard«, der Fuchs) sind einige der Anknüpfungspunkte für eine Verbindung der Figuren. Es kann hier nur vermutet werden, dass sich auch für die anderen Figuren derartige Verwurzelungen in der Geschichte Saint-Malos oder der Bretagne finden lassen. Nun ist aber gerade Brauns karge Prosa bestens dazu geeignet, solche Assoziationsfelder im Text hervortreten zu lassen, ohne dass sie den Erzählfluss oder die Oberflächenhandlung stören. Es ist wahrscheinlich nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass Braun bei Arno Schmidt nicht nur erfolgreich in die Schule gegangen, sondern auch mit einem eigenständigen Stil und Assoziationsfundus aus dieser Schule hervorgegangen ist.

Es wird abzuwarten bleiben, ob Marcus Braun sich mit dieser reduzierten und zugleich anspruchsvollen Prosa ein adäquates Publikum erobern kann. Für mich gehört er derzeit zu den artistisch interessantesten deutschsprachigen Autoren, auch wenn ich mit dem »Krimi«-Anteil dieses Buches nicht allzu viel anfangen kann.

Marcus Braun: Armor. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Pappband, 187 Seiten. 17,80 €.