Miniaturen (3)

Gestern Abend, im Dämmern, sag’ ich zu meim’m Nachbar, dem Taglöhner P., : ‹Erzähl mir was.›
Da sagt er : ‹Du erinnerst doch noch den Vollmacht Schrum? – Na also ! … Ein mächtiger Kerl … groß … bramstig … über zweihundert Pfund. Er trank … er spielte. Wenn er zur Stadt fahren wollte, und an den Wagen trat … Handstulpen sag’ ich Dir, bis an die Ellbogen, und die großen schwarzen Pferde bebten. Na genug ! … Eines Tages kommt ihm sein Schulkamerad, Jan Ehlers, in’n Weg. Den mußt Du ja auch noch erinnern … Na also … Jan Ehlers ist sein Taglöhner, und ist nicht bang, und kommt ihm in den Weg und sagt: ‹Du, Vollmacht,› sagt er, ‹sag ma … was denkst Du Dir nun dabei ?›.
Der Vollmacht bleibt stehen, und steht noch’n bißchen steiler als sonst: Wobei ? !
‹Ja …› sagt Jan Ehlers … ‹ich mein man … willst Du nun dies Leben so durchsetzen … so … als Du das nun treibst ?›
Der Vollmacht gibt sich noch’n Ruck, und steht ganz steil, und sagt ganz kalt und fest: ‹Ja woll, Jan Ehlers ! Das ist allerdings meine Absicht. Ich will das so durchsetzen … genau so … un wenn ick ’n Kreih werden soll !›
Also gut … was zu tun ? … Drei Jahr gehn vorbei … da ist es mit Vollmacht Schrum zu Ende. Bankerott. Alles weg : Hof, Vermögen, Ehre. Als er sieht, wie das steht, drückt er sich um die Ecke, hängt sich auf … in seiner Scheune … weg ist er. –
Na, das ist also passiert. Und nun … denk Dir mal … so acht oder zehn Jahr später … da komm ich ma’, an ei’m naßkalten Abend, so gegen November, bei Jan Ehlers sei’m Haus vorbei. Der ist nun alt, und sitzt da am Fenster. Er sitzt da mit der Pfeife, und den Arm auf der Fensterbank, und trommelt so mit seinen großen Fingern auf der Bank. Das tut er immer, wenn er große Gedanken hat. Als er mich nu sieht, stößt er so im Sitzen das Fenster auf, und pliert mit’n Augen, und sagt so’n bißchen leis’ und sachte : ‹Du, –› sagt er leise … ‹hast Du all den großen Kolkraben gesehen, der da immer auf Vollmacht Schrum seiner Fettweide steht ? Kiek ma hin … da … auf ’n Scheuerpfahl …›
Ich dreh mich um, und kiek hin … und sag: ‹Ja woll … da sitzt’n oller Kolkraaw … was soll das ?›
‹Mensch,› sagt er leis’ … : ‹Weißt Du nich, was der Vollmacht zu mir sagte … damals ? – Mensch, Mensch … ich muß immer denken : das iss Vollmacht Schrum !›
Junge, verfehrte ich mich … Kinners und Lüde ! Ich sag’ : ‹Jan Ehlers, Du bist wohl nich bei Trost ! Gott bewahre !›. Ich kiek nach dem alten Kolkraben … es war recht so’n großer und alter … und der dückert immerzu und krächzt … Und schüttel mein’ Kopf und seh Jan Ehlers an; und Jan Ehlers sieht mich an, und nickt; und macht das Fenster wieder zu.
Na, was zu tun ? Ich hatte den Winter damals den großen Freigraben zu kleien, der am Alten Weg entlang geht, und muß jeden Abend bei Jan Ehlers vorbei, und fast jedesmal macht er mir hinter dem Fenster 1 Zeichen mit dem Daumen nach der Fettweide hinüber. Das sollte denn bedeuten: ‹Hast schon gesehn ? Vollmacht Schrum sitzt da auch wieder.› Und dann sog er wieder an seiner Pfeife, und trommelte mit den Fingern auf der Fensterbank. Das tat er immer, wenn er große Gedanken hatte. –

Gustav Frenssen
in der Schreibe Arno Schmidts

Von der Höhe der Alpen (14)

Mancher mag es ja schön finden; aber ich konnte die widerliche Majestät der Alpenlinie nur mit Achselzucken betrachten : zu viel Stiftern ! Auch die feinen Funken, die ab und zu in den blaugrünen Wänden aufleuchteten, versöhnten mich nicht : gebt mir Flachland, mit weiten Horizonten (hier steckt man ja wie in einer Tüte !); Kiefernwälder, süß und eintönig, Wacholder und Erica; und an der Seite muß der weiche staubige Sommerweg hinlaufen, damit man weiß, daß man in Norddeutschland ist.

Arno Schmidt
Verschobene Kontinente

Ein Urteil über Gibbon

Der Historiker Edward Gibbon kommt bei Arno Schmidt vereinzelt vor; oft wird im Ton der Verehrung über ihn gesprochen, an einer Stelle wird er sogar »ein Großer Mann« genannt – ein Urteil, das Schmidt nicht leicht über die Lippen kam, sonst aber wenig besagen will. Eine Stelle über Gibbon aber hat mich immer besonders neugierig gemacht, denn sie zitiert ein witziges und zugespitztes Urteil über ihn, von dem ich immer gern gewußt hätte, von wem es wohl stammt:

»Du erinnersD Mich an so manichäerleye –« (W): »Erstlich an ein Urteil über GIBBON, das Ich jüngst las: ›he never gave credit for a good motive, when a base one could be found‹.

Zettel’s Traum, S. 1159

Bei der jetzigen Beschäftigung mit Gibbons »Verfall und Untergang« habe ich die Quelle zufällig entdeckt: Es handelt sich um den Artikel »Prostitution« aus der 11. Auflage der »Encyclopædia Britannica« (Bd. 22, S. 459), der von Arthur Shadwell, einem promovierten Mediziner und Mitglied der Epidemiological Society, verfasst wurde. Damals waren unfraglich noch die Epidemiologen und nicht die Soziologen die zuständigen Fachleute in Fragen der Prostitution.

Witzig wird die Fundstelle aber dadurch, dass die Figur Wilma, der Schmidt die oben zitierte Äußerung zuschreibt, offenbar kurz zuvor diesen Artikel gelesen haben muss und gleich im Anschluss an dieses Zitat zu einer großen Schimpftirade gegen eine Freundin ihrer Tochter ausholt, deren freizügiges Benehmen ihr ein Dorn im Auge ist, wahrscheinlich nicht nur aus Sorge um die Sittsamkeit ihrer Tochter, sondern auch weil ihr Mann Paul nicht unanfällig für die Reize der jungen Schönen zu sein scheint. Auch hier bildet – wie so oft bei Schmidt – die verdeckt bleibende Herkunft eines Zitats den Assoziations-Auslöser für den nachfolgenden Text. Das eigentliche Motiv bleibt im Verborgenen.