Schweres Sprach

Im Deutschen gibt es zum Teil doch sehr feine Unterschiede, die auch Muttersprachlern nicht immer unbedingt geläufig sind, besonders wenn die entsprechenden Wendungen ungebräuchlich oder alterthümlich sind.

Da schlage ich also den gerade erhaltenen Band Jack Engles Leben und Abenteuer von Walt Whitman (Büchergilde Gutenberg, 2017) auf und lese:

Nach griech. Mythos war Telemachos noch ein Kind, als sein Vater Odysseus in den Trojanischen Krieg zog. Zum jungen Mann herangewachsen, verließ er seine Mutter Penelope, machte sich auf die Suche nach seinem Erzeuger und traf ihn bei der Heimkehr in Gestalt eines Bettlers an. Nachdem Odysseus sich ihm zu erkennen gegeben hatte, rächten Vater und Sohn gemeinsam die Freier, die die vermeintlich Witwe Penelope bedrängt und belagert hatten. (S. 165)

Nun sind im Deutschen „jemanden rächen“ und „sich an jemandem rächen“ zwei sehr unterschiedliche Dinge; während dies bedeutet, an dem Verantwortlichen eines Unrechts Rache zu nehmen, also den „jemand“ zu strafen für etwas, was er getan oder zu verantworten hat, bedeutet jenes, einem Opfer Genugtuung zu verschaffen, indem man einen Dritten straft oder zur Verantwortung zieht, also „jemandem“ für ein erlittenes Unrecht einen Ausgleich zu schaffen.

Odysseus und Telemach werden mithin „sich an den Freiern“ und nicht „die Freier“ gerächt bzw. werden sie Penelope gerächt haben.

Und die Moral von der Geschicht’

Spiegel-17-2016Das Hamburger Satire-Magazin DER SPARGEL Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL widmet das Titelblatt seiner Nr. 17 vom 23. April 2016 dem „Terror-Experten“ William Shakespeare. Neben dem unvermeidlichen Artikel von Volker Weidermann – dem Anschein nach der einzige, den man beim Spiegel kennt, der ernsthafte Literatur liest – liefert das Heft in einer Rubrik, die „Bildung“ überschrieben ist, auch eine Übersicht über „Shakespeares größte Hits“, stellt also den Stratforder Barden in direkte Konkurrenz zu Helene Fischer und Heino. Immerhin haben es fünf der 37 Stücke in die Spiegel-Charts geschafft: „Hamlet“, „Romeo und Julia“, „Richard III.“, „Othello“ und „König Lear“ sind dem Spiegel-Redakteur bekannt. Keine der beim Pöbel Publikum so beliebten Komödien hat es die Top-5 geschafft, auch nicht „Der Sturm“ oder so abseitige Sachen wie „König Heinrich V.“ oder „Julius Cäsar“.

Und da die Rubrik „Bildung“ heißt, hat man neben ebenso kurzen wie launigen Inhaltsbeschreibungen und dazugehörigen Bildchen auch drei bildende Lemmata pro Stück: „Vorbilder“, „Ewigkeitswert“ und „Fans“ (worunter trotz dem einleitenden Plural jeweils nur 1 Fan genannt wird). Der eigentlich Gewinn zur Bildung steckt natürlich im „Ewigkeitswert“. Hier finden sich so tiefschürfende Einsichten wie

Hamlet ist bis heute eine Symbolfigur für jugendlichen Aufruhr gegen die Erwachsenenwelt, für den moralischen Protest eines jungen Helden, der zum ersten Mal mit dem Bösen der Realpolitik konfrontiert wird.

Es ist also der Geist des moralischen Protestes, der nächtens auf der Terasse des Schlosses von Helsingör spukt, nicht der von Hamlets Vater. Und es ist Hamlets überaus moralische Haltung, die zum Tod Ophelias führt. Was für ein Glück, dass es heute wie damals kaum mehr „junge Helden“ gibt, die sich diese Moral des Stückes aneignen könnten.

Was gibt es sonst noch zu lernen? Dass „Romeo und Julia“ das „größte Stück über die Liebe überhaupt“ und „Othello“ der „Inbegriff des Eifersuchtdramas“ sind, wundert nicht. Interessanter ist da schon der Ewigkeitswert von „Richard III.“:

Überzeitliche Charakterstudie über die Verführungskraft des Bösen

“Luke, I am your father!”

Und „König Lear“ liefert fast wie selbstverständlich den ewigsten Wert:

Bis heute gültige Lektion in Altersstarrsinn – und darin, wie man durch eitle Rechthaberei ein Lebenswerk sowie die eigene Familie zerstört.

O Shakespeare, mit Grausen sehn wir dich von weitem!

Byung-Chul Han: Was ist Macht?

„Wissen ist Macht.“ – Francis Bacon
„Nix wissen macht nix.“ – Volksmund

Han-MachtKürzlich ist mir ein mir noch unbekannter Philosoph über den Weg gelaufen, wie es so schön heißt. Da ich selbst dem Fach vor vielen Jahren einmal leidenschaftlich zugetan war und es auch einige Jahre fleißig studiert habe, kehre ich von Zeit zu Zeit gern in die alten Gefilde zurück und schaue mich ein wenig um. So nun auch bei Byung-Chul Han, einem Koreaner, der laut Wikipedia „in Freiburg im Breisgau und München Philosophie, deutschsprachige Literatur und katholische Theologie“ studiert hat. Nun gab es zu meiner Studienzeit kein Fach „deutschsprachige Literatur“, das man hätte studieren können, aber wie dem auch sei, jedenfalls hat Han über Heidegger promoviert und darf also mit Fug und Recht als Fach-Philosoph bezeichnet werden. (Nur so am Rande: Seine Einführung zu Heidegger bei UTB ist vergriffen und wird bei Amazon zu einem aberwitzigen Preis angeboten.)

Unter den lieferbaren Büchern fiel mir gleich ein Reclam-Bändchen auf: „Was ist Macht?“ ist eine interessante Frage für einen Philosophen; also habe ich das Büchlein gestern bei meinem Buchhändler abgeholt und heute Vormittag ein wenig darin gestöbert. Und gleich auf den Seiten 17 f. darf ich folgendes lesen:

Max Weber definiert Macht wie folgt: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« Dann bemerkt er, daß der Begriff »Macht« soziologisch »amorph« sei. Der soziologische Begriff der »Herrschaft«, die garantiert, »für einen Befehl Fügsamkeit zu finden«, sei dagegen ein »präziserer«. Diese Einschätzung ist nicht unproblematisch. »Amorph« ist die Macht in soziologischer Hinsicht gewiß nicht. Dieser Eindruck entspringt nur einer beschränkten Wahrnehmungsweise. Eine ausdifferenzierte Welt produziert indirekte, still wirkende, weniger offensichtliche Machtgrundlagen. Auf deren Komplexität und Indirektheit geht der Eindruck zurück , die Macht wirke »amorph«. Im Gegensatz zur Herrschaft des Befehls tritt die Macht nicht offen in Erscheinung. Die Macht der Macht besteht ja gerade darin, daß sie auch ohne den ausdrücklichen »Befehl« Entscheidungen und Handlungen bewegen kann.

Diese Interpretation Webers ist nicht unproblematisch; sie entspringt einer beschränkten Wahrnehmungsweise. Was Weber sagt, ist, dass der Begriff der Macht soziologisch amorph sei; weder behauptet er, die Macht selbst sei soziologisch amorph, noch gar, dass die Macht amorph »wirke« (was auch immer das Wort ‚wirke‘ hier bedeuten soll: ‚einen amorphen Eindruck mache‘ oder ‚auf amorphe Art und Weise ihre Wirkung entfalte‘). Warum der Begriff der Macht soziologisch amorph sei, begründet Weber an der herangezogenen Stelle („Wirtschaft und Gesellschaft“ § 16) so:

Der Begriff »Macht« ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.

Der Begriff erscheint Weber also in etwa aus den Gründen amorph, die Han gegen Webers Einschätzung ins Feld führt. Auch sagt Weber an derselben Stelle nicht, dass der Begriff der Herrschaft ein präziserer sei, sondern sein müsse:

Der soziologische Begriff der »Herrschaft« muß daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden.

Was auch immer der Grund für Hans Lesart sein mag: So etwas ist keine Philosophie, es ist Geschwätz.

Byung-Chul Han: Was ist Macht? RUB 18356. Stuttgart: Reclam, 2005. Broschur, 149 Seiten. 5,– €.

Eine böse Entdeckung

Heute ist mir die „Kleine Weltgeschichte des demokratischen Zeitalters“ von Stefan Bajohr (Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2014) in die Hände gekommen. Ich schlug das Buch zufällig auf S. 221 auf und las:

Um den osmanischen Riegel zu umgehen und nach Japan und China zu gelangen, trotzte Cristóbal Colón (1451–1506) den spanischen Königen eine Expedition zur See in Richtung Westen ab. 71 Tage nach seinem Ablegen von Palos de la Frontera in Andalusien erreichte er mit einer kleinen Flotte eine für Europäer Neue Welt (12.10.1492), die ungeheure Chancen bot; doch »der erste Amerikaner, der Kolumbus begegnete, machte eine furchtbare Entdeckung«,2 denn die Europäer kamen nicht als Touristen, sondern als goldgierige, völkermordende Eroberer.

Das Zitat im Zitat stammt von Lichtenberg, aber es konnte nicht so ganz stimmen: Nicht nur ist der Prosarhythmus untypisch schlapp, sondern auch das Wort „begegnete“ kann nicht stimmen; da stand ganz sicher „entdeckte“ bei Lichtenberg. Und auch die semantisch blasse „furchtbare Entdeckung“ wollte nicht zu meiner Erinnerung an Lichtenbergs Stil passen.

Daher zuckte mein Blick nach unten auf die Seite, wo sich der folgende Nachweis in der Fußnote 2 fand: „Georg C. Lichtenberg: Aphorismen, Schriften, Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, München 1974, S. 144.“ Nun hat man ja bekanntlich immer die falsche Ausgabe im Haus, wenn man ’mal eine bestimmte benötigt, aber in diesem Fall wird es schon gehen, denn meine Ausgabe ist die Grundlage der oben zitierten, nämlich die von Wolfgang Promies ab 1967 bei Hanser herausgegebene Ausgabe der „Schriften und Briefe“ (4 Bände in 6), die auch heute noch die verbindliche Lichtenberg-Ausgabe darstellt. Hier findet sich in Band II auf S. 166 folgender Aphorismus:

Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung. [G 183]

Ja, so muss das heißen!

Die Webseite des Spinger-Verlages Heidelberg informiert uns: „Der Autor Prof. Dr. Stefan Bajohr lehrt Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.“ Zitieren lehrt er hoffentlich nicht.

Aber sicherlich ist der Rest des Buches ganz toll!

Schöneberg bis Sternbedeckung

Zum Beispiel

Zum Beispiel Segeltuch.

Ein Wort in ein Wort übersetzen,
das Salz und Teer einschließt
und aus Leinen ist,
Geruch enthält,
Gelächter und letzten Atem,
rot und weiß und orange,
Zeitkontrollen
und den göttlichen Dulder.

Segeltuch und keins,
die Frage
nach einer Enzyklopädie
und eine Interjektion
als Antwort.

Zwischen Schöneberg
und Sternbedeckung
der mystische Ort
und Stein der Weisen.

Aufgabe, gestellt
für die Zeit nach dem Tode.

Günter Eich

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Meyer-Aufl6-Bd18


Meyers Großes Konversations-Lexikon
6. Aufl., Bd. 18, S. 283

Zwei amoralische Freunde

Der deutschen Ausgabe von Tim Weiners Geschichte der CIA – CIA. Die ganze Geschichte – wurde ein eigenes Vorwort verpasst. Als Einstieg nutzt der Verfasser die Assoziation zwischen den US-amerikanischen und deutschen militärischen Geheimdiensten im Sommer 1945. Um die Situation zwischen den beiden Geheimdiensten mit einer griffigen Allegorie zu fassen, benutzt er das Ende des Spielfilms Casablanca:

Der damalige Augenblick war das Spionage-Pendant zum letzten Satz des großartigen, 1942 gedrehten Kriegsfilms Casablanca, als der amoralische Rick Blaine, gespielt von Humphrey Bogart, sich zu seinem ebenso amoralischen neuen Verbündeten, dem französischen Polizeichef und Kollaborateur Louis Renault, gespielt von Claude Rains, umdreht und sagt: »Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.« [S. 13 f.]

Wenn es in Casablanca überhaupt Moralisten gibt, dann sind es gerade diese beiden Zynikern des Stücks. Und gerade ihre gemeinsame Moralität bildet wohl die Grundlage jener »wunderbaren Freundschaft«.

Wollen hoffen, dass der Rest des Buches besser geraten ist.

Dunkel war’s, der Mond schien helle …

In seiner soeben erschienenen Biographie Josephs von Eichendorff zitiert Hartwig Schultz gleich zu Anfang den offensichtlich an der Goetheschen Selbstdarstellung in »Dichtung und Wahrheit« ironisch entlang geschriebenen Bericht Eichendorffs von den äußeren Umständen seiner Geburt:

Es war eine tiefe, stille, klare Winternacht des Jahres 1788, die Konstellation war überaus günstig, Jupiter und Venus blinkten freundlich auf die weißen Dächer, der Mond stand im Zeichen der Jungfrau und mußte Schlag Mitternacht kulminieren.

Schultz merkt dazu an:

Alle Umstände der Geburt sind in den autobiographischen Entwürfen, die unter dem Titel Unstern überliefert sind, so präzise beschrieben, daß der Leser annehmen muß, der Autor habe sich genau erkundigt. Eichendorff gibt nicht nur die Wetterbedingungen zum Zeitpunkt seiner Geburt an, sondern scheint auch den Stand der Gestirne ergründet zu haben – ganz so genau hat er es aber doch nicht genommen, da die Venus um Mitternacht natürlich längst untergegangen ist. [S. 7]

Liest man Eichendorffs Text genau, so bemerkt man, dass dort gar nicht steht, Venus sei um Mitternacht noch am Himmel sichtbar gewesen, sondern nur, dass der Mond um Mitternacht habe kulminieren müssen. Nun hat Schultz aber dennoch recht, er weiß es bloß nicht, da er – wie unter Germanisten üblich – lieber halbgebildet daherfaselt, als sich auch nur für fünf Minuten mit einer fachfremden Sache ernsthaft zu befassen. Ansonsten hätte er nämlich herausfinden können, dass am 8. März 1788 Neumond gewesen ist und der noch nicht zwei Tage alte Mond am 9. März schon vor 8 Uhr abends, etwa eine Stunde vor der Venus, untergegangen war. Von einer Kulmination um Mitternacht konnte also gar keine Rede sein. – Ja, wenn man’s nur ein bißchen tiefer wüßte.

Der schönste erste Satz

Ich gebe nach und äußere mich endlich auch zum »Wettbewerb der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen«, auch wenn mir bislang niemand Auskunft darüber erteilen konnte, worin denn der Wettbewerb bei dieser Veranstaltung bestehen soll.

Werden die besten Begründungen prämiert? Dann ist es freilich egal, welcher erste Satz der Schönste wäre, und das ganze wäre ein versteckter Schreibwettbewerb in der Kategorie Panegyrik. Falls nicht die Begründung, so ergibt sich die Frage, warum überhaupt eine Begründung geschrieben werden muss. Da genügte dann doch ein einfaches »Der erste Satz der Jupiter-Sinfonie ist für mich der schönste erste Satz« – und fertig. Was erwartet man denn noch mehr?

Wenn allerdings tatsächlich die ersten Sätze prämiert werden sollen, so würde das zum einen bedeuten, dass die Einsender untereinander in einen Wettbewerb des Geschmacks treten, der offenbar unentscheidbar ist. Wer soll da gewinnen? Wer hat den besten Geschmack – ich natürlich, aber ich nehme ja nicht teil. Zum anderen muss man voraussetzen, dass die Jury die Schönheit der eingereichten Sätze überhaupt beurteilen kann. Da sich die Schönheit erster Sätze aber oft erst im weiteren Gang des Buches tatsächlich entfaltet, sind Ungerechtigkeiten vorprogrammiert.

Noch einmal: Worin besteht eigentlich der Wettbewerb?

Abgesehen von diesen Fragen habe natürlich auch ich einen Kandidaten. Nicht gerade für den »schönsten« ersten Satz – das wäre vielleicht Sternes

I wish either my father or my mother, or indeed both of them, as they were in duty both equally bound to it, had minded what they were about when they begot me; had they duly consider’d how much depended upon what they were then doing;—that not only the production of a rational Being was concern’d in it, but that possibly the happy formation and temperature of his body, perhaps his genius and the very cast of his mind;—and, for aught they knew to the contrary, even the fortunes of his whole house might take their turn from the humours and dispositions which were then uppermost:——Had they duly weighed and considered all this, and proceeded accordingly,——I am verily persuaded I should have made a quite different figure in the world, from that, in which the reader is likely to see me.

… aber doch zumindest für den (beinahe) ersten Satz, der als Beginn eines Prosatextes auf mich einen tiefen, vielleicht den tiefsten Eindruck überhaupt gemacht hat:

Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt.

Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich.

Wie beschreibt einer das Ende der Welt? Einen Ort, an dem alle Zusammenhänge sich verlieren, von dem alle Linien nur weglaufen, von dem man nur flüchten kann und an dem man verdammt ist, wenn man hier ankommt? Genau so! Hier gibt es keine Eisenbahnlinie von A nach B, hier gibt es nur mehr vier Eisenstränge, die keinerlei Bedeutung konstituieren, die endlos parallel nach beiden Seiten bis an den Horizont reichen und dort verschwinden. Das ist groß! Am schönsten ist es wahrscheinlich nicht, aber wen kümmert das?

Und nein, ich verrate nicht, wo das steht.

Ein Urteil über Gibbon

Der Historiker Edward Gibbon kommt bei Arno Schmidt vereinzelt vor; oft wird im Ton der Verehrung über ihn gesprochen, an einer Stelle wird er sogar »ein Großer Mann« genannt – ein Urteil, das Schmidt nicht leicht über die Lippen kam, sonst aber wenig besagen will. Eine Stelle über Gibbon aber hat mich immer besonders neugierig gemacht, denn sie zitiert ein witziges und zugespitztes Urteil über ihn, von dem ich immer gern gewußt hätte, von wem es wohl stammt:

»Du erinnersD Mich an so manichäerleye –« (W): »Erstlich an ein Urteil über GIBBON, das Ich jüngst las: ›he never gave credit for a good motive, when a base one could be found‹.

Zettel’s Traum, S. 1159

Bei der jetzigen Beschäftigung mit Gibbons »Verfall und Untergang« habe ich die Quelle zufällig entdeckt: Es handelt sich um den Artikel »Prostitution« aus der 11. Auflage der »Encyclopædia Britannica« (Bd. 22, S. 459), der von Arthur Shadwell, einem promovierten Mediziner und Mitglied der Epidemiological Society, verfasst wurde. Damals waren unfraglich noch die Epidemiologen und nicht die Soziologen die zuständigen Fachleute in Fragen der Prostitution.

Witzig wird die Fundstelle aber dadurch, dass die Figur Wilma, der Schmidt die oben zitierte Äußerung zuschreibt, offenbar kurz zuvor diesen Artikel gelesen haben muss und gleich im Anschluss an dieses Zitat zu einer großen Schimpftirade gegen eine Freundin ihrer Tochter ausholt, deren freizügiges Benehmen ihr ein Dorn im Auge ist, wahrscheinlich nicht nur aus Sorge um die Sittsamkeit ihrer Tochter, sondern auch weil ihr Mann Paul nicht unanfällig für die Reize der jungen Schönen zu sein scheint. Auch hier bildet – wie so oft bei Schmidt – die verdeckt bleibende Herkunft eines Zitats den Assoziations-Auslöser für den nachfolgenden Text. Das eigentliche Motiv bleibt im Verborgenen.