Es lebe der schöne Satz!
Zu Eça de Queirós existiert eine literarhistorische Anekdote, die ein Licht auch auf den hier besprochenen Roman wirft: Als 1988 Hans Magnus Enzensberger zwei Romane des Portugiesen in der Anderen Bibliothek herausgab („Treulose Romane“, Nördlingen: Franz Greno, 1988) verzichtete er bei „Basilio“ (O Primo Basilio, 1878) darauf, die vollständige Übersetzung durch Rudolf Krügel (1957) wieder abzudrucken, sondern griff auf die stark gekürzte Übersetzung von Helmut Hilzheimers (1956) zurück und rechtfertigte diese Wahl unter Rückgriff auf die harsche Kritik des Romans durch den Autor selbst. Wenn man das einmal im Kopf hat, fällt es schwer, sich nicht ein ähnliches Vorgehen für „Die Maias“ zu wünschen.

„Die Maias“ (1888) gilt heute als Eça de Queirós’ Hauptwerk und brachte ihm zumindest in der deutschen Literarhistorie den Ruf ein, der portugiesische Thomas Mann zu sein. Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte Carlos de Maias, des Spätlings einer alten portugiesischen Adelsfamilie, der sich, nachdem seine Mutter mit einem Italiener wegläuft und sich sein Vater daraufhin selbst tötet, in jungen Jahren entschließt, ein eher bürgerliches Leben zu führen, und deshalb Medizin studiert und sich nach der unter Adeligen üblichen Europareise 1875 als praktischer Arzt in Lissabon niederlässt. Er bezieht zusammen mit seinem Großvater, bei dem er nach dem Tod des Vaters aufgewachsen ist, ein herrschaftliches Stadthaus, und obwohl er „wirklich die ernste Absicht zu arbeiten“ hat, versumpft er sehr bald im Müßiggang. Die einzige ernsthafte Beziehung, die er hat, ist die zu seinem Jugendfreund João da Ega, einem zwar begabten, aber immer nur dilettierenden Schriftsteller. Der Autor möchte dieses Freundespaar als eine Variante des Paares Faust und Mephisto verstanden wissen, was aber angesichts der Fabel des Romans nur eher eine vage Parallele bleibt. Dennoch muss man wohl feststellen, dass die Beziehung dieser beiden Männer das eigentliche Zentrum des Romans bildet, wenn sich das Buch auch gern als Familien-, Liebes-, Gesellschafts- und erotischer Roman ausgeben möchte.
Dem Müßiggang überlassen folgt Carlos nach einigem Widerstand dann doch dem Vorbild Egas und beginnt eine Affäre mit einer verheirateten Frau, nur um ihrer, wie er erwartet hatte, nach kurzer Zeit überdrüssig zu werden. Nahezu gleichzeitig begegnet er einer anderen Frau, die ihn auf den ersten Blick tief fasziniert. Die Männerwelt Lissabons (also eigentlich nur Carlos, Ega und ein weiterer Mann) vermutet in ihr eine verheiratete Brasilianerin, was sich aber als komplett falsch erweist. Als der vermutete Ehemann in Geschäften für Monate nach Brasilien reist und Frau und Tochter in Lissabon zurücklässt, kommt es rasch zu einer Bekanntschaft zwischen Carlos und Maria, die ihn zuerst in seiner Funktion als Arzt in ihr Haus bittet. Es stellt sich heraus, dass Maria nur die Geliebte des Brasilianers ist, ihre Tochter einen anderen zum Vater hat, der Maria aber auch nicht geheiratet hatte, bevor er im Krieg von 1870/71 auf französischer Seite gefallen ist. So scheint nichts einem glücklichen Leben im Wege zu stehen, und Carlos verzichtet nur aus Rücksicht auf das Standesbewusstsein seines Großvaters auf eine sofortige Heirat.
Natürlich muss diese vollkommene Liebe – „Alles an ihr war stimmig, gesund, vollkommen … Und wie köstlich musste bei dieser äußeren Erhabenheit erst die Glut ihrer Leidenschaft sein!“ – scheitern: Eine wie zufällig in Lissabon auftauchende Randfigur unterrichtet Ega von der den beiden Liebenden (aber leider nicht dem aufmerksamen Leser) unbekannten Tatsache, dass Carlos und Maria Geschwister sind. Die ganz große Tragödie bleibt zwar aus – wie überhaupt immer wieder bedeutende Skandale sorgfältig vorbereitet und dann im entscheidenden Moment gerade noch abgewendet werden –, aber Carlos’ Großvater stirbt über der Enthüllung an einem Schlaganfall, Carlos begibt sich auf eine Weltreise, Maria wird von ihm nach Frankreich geschickt, wo sie spät eine vernünftige und friedliche Ehe findet. Nach zehn Jahren kehrt Carlos für einige Zeit nach Lissabon zurück, und auf der letzten Seite versucht er mit Ega noch die letzte Straßenbahn zu erreichen, die ihnen vor der Nase weggefahren ist.
In all das eingeflochten finden sich diverse Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben Lissabons, nicht ohne Witz und hier und da auch ironische Schärfe, aber nicht gehaltvoll genug, um diesen Roman von über 800 Seiten tatsächlich zu tragen. Als Leser des 20. Jahrhunderts hat man das alles schon sehr bald verstanden, versteht auch die erste und zweite Wiederholung des gesellschaftlichen Leerlaufs, aber dann wird das Ganze doch zu langatmig. Sicherlich quält der Autor uns mit den endlosen Wiederholungen, weil sie eben ihn und seinen Protagonisten endlos quälten, aber soweit geht die Sympathie denn doch nicht, dass man das wirklich mit ihnen durchleben möchte. Nicht dass das Buch komplett ohne Witz wäre:
Das unerträgliche am Realismus [gemeint sind hier die Romane Zolas] seien sein wissenschaftliches Gehabe, seine prätentiöse, sich von einer fremden Philosophie ableitende Ästhetik und die Berufung auf Claude Bernard, den Experimentalismus, den Positivismus, auf Stuart Mill und Darwin, wenn es um eine Wäscherin ging, die mit einem Schreiner schlief!
S. 202
Nur sind solche Stellen, die, wie ich gern zugebe, für manches entschädigen, leider viel zu selten.
José Maria Eça de Queirós: Die Maias. Episoden aus dem romantischen Leben. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. München: Hanser, 2024. Leinenband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 944 Seiten. 44,– €.