Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch

Trojanow-MenschDas Einreise-Verbot der USA für Ilija Trojanow, der wohl zu einem Germanisten-Kongress unterwegs war, ist ein schöner Anlass, sein gerade erschienenes Buch zu lesen. Trojanow ist einer jener jüngst so vehement angeforderten kritischen Schriftsteller, die sich mit dem jeweils rezenten gesellschaftlichen und politischen Elend auseinandersetzen. Bei Trojanow ist der Kern des derzeitigen Übels – wenig originell – der Kapitalismus, wobei der Begriff bei ihm wie fast überall sonst, wo er gebraucht wird, gleich zweifach mangelhaft bleibt: Weder wird an irgendeiner Stelle des Büchleins auch nur ansatzweise versucht zu definieren, was denn Kapitalismus sein soll, noch wird uns an irgendeiner Stelle eine moderne, praktikable Form des Wirtschaftens vorgestellt, die – und sei es auch nur in der Theorie – nichtkapitalistisch funktioniert. Offenbar ist solche Genauigkeit unter den Teilnehmern des großen kritischen Stammtischs unnötig: Alle wissen ohnehin Bescheid darüber, was genau Kapitalismus ist und wie er funktioniert.

Natürlich sieht sich jeder Gutwillige genötigt, Trojanows Einsichten ins Elend zuzustimmen: Die Folgen des Kapitalismus sind für einen zunehmend größer werdenden Anteil der Menschheit höchst nachteilig: Hartz-IV-Empfängern und jenen, die in der sogenannten Dritten Welt auf den Müllkippen um ihr Überleben kämpfen, geht es schlecht – vielleicht nicht gleich schlecht, aber es könnte hier wie dort besser sein. Dies liegt offensichtlich an der ungerechten Verteilung des vorhandenen Geldes (Trojanow spricht zwar von Reichtum oder Vermögen, meint am Ende aber faktisch nur Geld, nicht Kapital) sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Abgesehen von Feinheiten geht es jenen schlecht, die wenig Geld haben, und jenen gut, die über viel davon verfügen. Unter denen, denen es schlecht geht, geht es vielen noch schlechter als anderen; unter denen, denen es gut geht, geht es einigen wenigen so gut, dass es leider nicht mehr besser gehen kann. Einige von denen, denen es gut geht, meinen nun, dass man eigentliche keine Leute braucht, denen es schlecht geht, und man auf solche Leute auch gut verzichten könnte. Der einfachste Weg, auf diese Leute zu verzichten, ist, sie abzuschaffen. Solche Leute plädieren  in einem „erstaunlichen posthumanitären Cocktail aus neomalthusianischen und fundamentalistisch sozialdarwinistischen Positionen“ für eine Reduktion der Weltbevölkerung. Soweit die Analyse.

Als Prognose sagt Trojanow – ganz entlang der Linie der Marxschen (der natürlich an keiner Stelle auch nur erwähnt wird!) Akkumulations- und Verelendungstheorie – eine Zunahme des revolutionären Potenzials voraus. Was das Ziel der angeblich heraufdämmernden Revolution angeht, redet er sich mit einem Zitat von Georgi Konstantinow heraus: „In einem solchen revolutionären Moment ist es unmöglich, die Richtung der Veränderung vorherzusagen.“ Trojanow lässt dem noch eine etwas flach geratene Betrachtung über die modischen apokalyptischen Phantasien Hollywoods folgen, um sich abschließend unter der Überschrift „Auswege“ zu folgender Forderung aufzuschwingen:

Wir müssen uns unverzagt vorstellen, wie eine bessere Gesellschaft und ein tatsächlich gerechtes und nachhaltiges Wirtschaften aussehen können. Wir benötigen utopische Entwürfe, wir brauchen Träume, wir müssen Verwegenes atmen. [Hervorhebungen nicht im Original.]

Dies ist die konzise Zusammenfassung des momentanen Elends der Gesellschaftskritik: Die einzige wenigstens halbwegs ordentliche politische Utopie der Verteilungsgerechtigkeit, zu der sich die Moderne hat verdichten können, ist nicht nur 150 Jahre alt, sie ist auch durch einen nach ihr benannten praktischen Versuch derartig desavouiert worden, dass man den Namen ihres Begründers heute besser nicht einmal erwähnen sollte, um sich nicht sogleich dem Spott der politischen Kleingeister auszusetzen. Eine andere theoretisch fundierte und mit Blick auf eine menschliche Praxis ausgearbeitete Utopie für eine gerechte oder auch nur gerechtere Gesellschaft fehlt.

Ich könnte nun darauf hinweisen, dass all dies nur dann tatsächlich ausreichend durchdrungen werden kann, wenn man sich auf die Kantische Einsicht besinnt, dass beinah alles philosophische Fragen letztlich in die Frage „Was ist der Mensch?“ mündet. Eine Frage, deren Antwort tatsächlich so unausdenklich ist, dass jeder, der eine Antwort auch nur versucht, sich allein deshalb schon dem Verdacht aussetzt, Unrecht zu haben. Und ich könnte darauf hinweisen, dass der andere, fast ebenso radikale Utopist des 19. Jahrhunderts uns heftig auf die Einsicht hingestoßen hat, dass der Mensch ein halbgares Zwischenprodukt darstellt, ein Wesen, das zwar die Idee der Gerechtigkeit erfassen kann, zu ihrer Realisierung wenigstens im Großen aber noch gänzlich unfähig zu sein scheint. Und schließlich kann es kein gutes Zeichen sein, dass wir – vielleicht mit der Ausnahme von John Rawls – in unserer Diskussion des Elends, in dem wir uns vorgefunden haben, immer noch nicht wesentlich über das 19. Jahrhundert hinausgekommen sind.

Angesichts dieser desolaten Lage ist es schon fast wieder tröstlich, dass Trojanows Kritik mit einem Lob der Vita contemplativa – im Sinne des Aristoteles, nicht Benedikts – ausklingt:

Selten halten wir inne, nehmen Auszeit von einem rasanten Alltag aus Pflicht und Unterhaltung, sitzen am Ufer oder schwingen auf der Schaukel, der Kontemplation zugetan oder einfach nur dem Nichtstun.

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch. St. Pölten u. a.: Residenz, 2013. Kindle-Edition, 324 KB, 96 Seiten (gedruckte Ausgabe). 9,99 €.

Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm

Anständiges Haus. Anständige Leute.

Adiga hatte mit seinem Erstling »Der weiße Tiger« einen weltweiten Erfolg gefeiert, besonders da ihm – völlig zu Recht – der Booker Prize für das Buch verliehen worden war. Adiga hat anschließend in kurzer Zeit zwei weitere Bücher vorgelegt. Eine so rege Produktivität weckt bei mir immer erst einmal den Verdacht, ein Autor (und zumeist auch sein Verleger) wollten mit Gewalt den Tages-Erfolg nutzen, doch »Letzter Mann im Turm« beweist, dass Adiga genug Substanz hat, um auch nach so kurzer Zeit einen guten Roman von mehr als 500 Seiten schreiben zu können.

Das Zentrum der Erzählung bildet eine Hausgemeinschaft in Mumbai, im südlich vom Internationalen Flughafen gelegenen Stadtteil Vakola, einer Gegend, die halb kleinbürgerliche Wohngegend, halb Slum ist. Vakola ist aber zugleich jenes Viertel, in dem sich die expandierende Baubranche ausbreitet: Hier werden zahlreiche Wohnanlagen mit teuren Luxuswohnungen errichtet, denen die alte Besiedlung weichen muss. So soll es auch der Wohngemeinschaft in den beiden Türmen der Vishram Society ergehen. Turm A, um den es im Buch hauptsächlich geht, wurde bereits Ende der 50er Jahre errichtet und beginnt schon, leicht marode zu werden. Doch seine Wohnungs-Eigentümer bildet eine funktionierende und zufriedene Gemeinschaft mit jahrelangen Bekannt- und Freundschaften und festen Ritualen. All dies ändert sich, als der Bauunternehmer Dharmen Shah den Plan entwirft, sein unternehmerisches Lebenswerk durch den Bau einer Wohnanlage genau auf dem Gelände der Vishram Society zu krönen. Er macht daher den Bewohnern ein Angebot, dass diese kaum ausschlagen können: Er ist bereit, ihnen für ihre Wohnungen etwa das Doppelte des Marktwertes zu zahlen, was pro Wohneinheit einem Betrag von ungefähr 236.000 € entspräche, was circa das 400-Fache des durchschnittlichen indischen Jahreseinkommens darstellt.

Wie immer in solchen Fällen sind die Meinungen zuerst geteilt. Allerdings lassen sich bald zwei, dann ein weiterer der vier Gegner des Verkaufs überzeugen. Letzter Mann im Turm  bleibt aber Yogesh Murthy, genannt Masterji, ein pensionierter Physik-Lehrer, der nach dem kürzlichen Tod seiner Frau allein in seiner Wohnung lebt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Der Bauunternehmer hat sein Angebot mit einem Ultimatum versehen, und je näher dieser Termin rückt, desto größer wird der Druck der Mitbewohner auf Masterji. Er durchläuft alle Grade von der geachtetsten zur geächtetsten Person im Haus. Und Adiga scheut auch nicht vor der letzten Konsequenz dieser Fabel zurück.

Das Buch braucht recht lange bis es bei seinem Thema angekommen ist. Danach bleibt – eventuell mit Ausnahme des Endes – alles im Rahmen des Normalen, Voraussehbaren, Erwartbaren. Und gerade darum scheint es Adiga zu gehen: Wie selbstverständlich ganz normale Menschen, die viele Jahren gut und solidarisch miteinander gelebt haben, all das vergessen und beginnen, einem, der nicht ihrem Willen folgt, ihre Entscheidung aufzuzwingen. Es ist genau diese Normalität, ja Banalität des Bösen, die schrittweise Entwicklung von anständigen Menschen hin zur Bereitschaft, einem eigentlich geschätzten, ja fast verehrten Mitbürger das Schlimmste nicht nur zu wünschen, sondern auch anzutun, um die es in diesem Buch geht. Es bedarf gar keines dämonischen Antreibers, um die ärgsten Verbrechen geschehen zu lassen, es bedarf nur eines gerüttelten Maßes an Eigeninteresse, um alle bürgerlichen und endlich auch mitmenschlichen Grenzen zu überschreiten. Und das alles lässt Adiga in der unmittelbaren Gegenwart und der handfestesten Realität Indiens spielen. Es ist daher alles andere als zufällig, dass der Roman immer wieder en passant auf die Welt der Bollywood-Filme als illusionärer Gegenwelt hinweist.

In diesem Sinne ist »Letzter Mann im Turm« eine konsequente Fortsetzung von »Der weiße Tiger«. Adiga zeigt einmal mehr die Gnadenlosigkeit und Grausamkeit der Wirklichkeit einer kapitalistisch bürgerlich verfassten Gesellschaft – nicht nur Indiens – auf. Dass er es mit solch einer erzählerischen Gelassenheit und scheinbaren Harmlosigkeit tun kann, macht seine Qualität aus.

Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm. Aus dem Englischen von Susann Urban und Ilija Trojanow. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, bedruckter Vorsatz, 515 Seiten. 19,95 €.