Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Nur auf den allerersten Blick handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminalroman. Meyer Landsman, ein heruntergekommener Inspektor der Mordkommission, wird in dem nicht weniger heruntergekommenen Hotel Zamenhof, in dem er seit seiner Scheidung wohnt, vom Portier gebeten, sich einen Toten anzuschauen: Der Gast, der anscheinend von einem professionellen Killer erschossen wurde, nannte sich Emanuel Lasker. Er war drogenabhängig und offenbar tatsächlich, wie schon sein Deckname vermuten lässt, Schachspieler, denn unter seinen wenigen Habseligkeiten findet sich auch ein Schachbrett, auf dem Meyer Landsman eine komplizierte Stellung aufgebaut findet, die später noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Während Landsman mit seiner Untersuchung beginnt, entfaltet sich zugleich vor dem Leser eine eigentümliche Alternativwelt, die die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg neu erfindet. Noch im Zweiten Weltkrieg beginnen die USA europäischen Juden Asyl zu gewähren. Sie werden in einem eigenen District an der Südküste Alaskas, in Sitka, untergebracht. Umschlossen von den indianischen Tlingit bildet die Enklave Sitka das einzige zusammenhängende jüdische Siedlungsgebiet der Welt. Der Staat Israel ist in Michael Chabons Fassung der Weltgeschichte nur wenige Monate nach seiner Gründung im Krieg gegen die Araber wieder untergegangen. Aber auch der jüdische District Sitka steht unmittelbar vor seiner Auflösung: Seine Existenz wurde nur für 60 Jahre garantiert, und die US-Behörden bereiten die Rückgabe des Gebietes an die einheimischen Tlingit vor.

Auch die Mordkommission wird – unter Leitung von Meyer Landmans Ex-Frau Bina Gelbfish – abgewickelt. Noch gibt es einige ungelöste Fälle, und Bina möchte so viele wie möglich abschließen, bevor die Amerikaner übernehmen. Und obwohl Bina den neuen Fall des Toten im Zamenhof umgehend als abgeschlossen kennzeichnet, ermittelt Landsman mit seinem Partner Berko Shemets in der Sache weiter. Die Spur führt ihn  über den lokalen Schachtreff Sitkas zu den Verbover Juden. Emanuel Lasker erweist sich als Sohn des mächtigsten Verbover Rabbis Shpilman. Aufgewachsen als ein echtes Wunderkind, besonders auch fürs Schachspiel begabt, wurde Mendel Shpilman von vielen für den Messias seiner Generation gehalten. Und während Landsman zu verstehen versucht, wie es dazu gekommen ist, dass Mendel Shpilman tot in einer Absteige geendet ist, kommt er zugleich Schritt für Schritt einer weitreichenden politischen Verschwörung auf die Spur …

Chabons Kriminalroman ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite handelt es sich um ein offensichtliches und souverän geführtes Spiel mit den überlieferten Formen und Klischees des klassischen Detektivromans. Auf der anderen Seite erschafft Chabon überzeugend eine alternative Weltgeschichte, um seine jüdische Enklave mit ihrer eigenen Kultur und Sprache real erscheinen zu lassen. Dieser Reichtum an erfundener Welt hat zu einem ungewöhnlichen Umfang für einen Detektivroman geführt. Der Leser muss aber nicht befürchten, von Chabon eine Geschichtslektion übergestülpt zu bekommen, sondern die Details dieser Welt fließen peu à peu in den Erzähltext ein. Nur einem sorgfältigen Leser wird sich der ganze Reichtum dieses Buchs erschließen.

Die Schachspieler schließlich wird freuen, hier einmal einen Roman zu finden, in dem das Schachspiel nicht von einem weitgehend ahnungslosen Autor als dekorativer Zierrat missbraucht wird, sondern seine Darstellung aus genauen Kenntnissen des Autors entspringt. Die Darstellung sowohl der Patzer im Hotel Einstein als auch des Wunderkinds Mendel Shpilman, ja des Schachspiels insgesamt als integralem Bestandteil jüdischer Kultur überzeugt aufgrund der offensichtlich engen Vertrautheit Chabons mit dem Spiel und seiner Geschichte. Und nicht zuletzt steht ein Schachproblem im Zentrum des Buches, das von einem der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts stammt:

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Dieses Problem wurde von Vladimir Nabokov im Jahr 1940 in Paris komponiert, kurz bevor er Frankreich in Richtung USA verließ (vgl. Nabokovs Memoiren »Speak, Memory«, Ende des 14. Kapitels). Die Lösung wird hier natürlich nicht verraten.

Wer im Übrigen zu faul ist, den fast 500-seitigen Roman zu lesen, darf sich auf seine Verfilmung durch die Coen-Brothers freuen. Man kann sich für dieses Buch wohl keine besseren Drehbuch-Autoren und Regisseure wünschen.

Und da wir gerade beim Kino sind: Ab dem 7. Januar 2010 soll die Verfilmung der Schachschmonzette »Die Schachspielerin« (Joueuse) in die deutschen Kinos kommen. Das Buch von Bertina Henrichs hatte es 2006 auf die Bestsellerlisten geschafft und erzählt von der wundersamen Selbstfindung eines in die Jahre gekommenen griechischen Zimmermädchens, das durch das Erlernen des Schachspiels zu einer gänzlich neuen Weltsicht findet. Wollen wir hoffen, dass sich Regisseurin Caroline Bottaro einen ordentlichen Berater in Sachen Schach besorgt hat, denn die Buchvorlage zeugte ausschließlich von der schachlichen Ahnungslosigkeit ihrer Autorin.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. dtv 13793. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. 496 Seiten. 9,90 €.

(geschrieben für den Schachkalender 2010)

Gilbert Adair: Blindband

978-3-406-57225-8 Ein inhaltlich konventioneller Krimi, dessen Besonderheit einzig und allein in der nahezu durchgehend dialogischen Behandlung des Stoffes liegt. Der erfolgreiche Schriftsteller Paul ist vor vier Jahren bei einem Autounfall entstellt worden und hat beide Augen eingebüßt. Nun hat er sich aber entschlossen, doch wieder ein Buch zu schreiben, eine Art autobiografisch unterfütterten Essay, dessen Hauptgewicht auf der Erfahrung seiner Blindheit liegt. Er holt sich zu diesem Zweck eine Schreibkraft ins Haus, John, der sich – wie der Leser früh zu ahnen beginnt – als seine Nemesis erweisen wird. Es soll hier natürlich nicht zuviel verraten werden, um niemandem den Spaß an der Lektüre zu verderben.

Ich habe mich zur Lektüre verführen lassen, da das Buch von Thomas Schlachter übersetzt wurde, der die von mir hier sehr gelobten Wodehouse-Übersetzungen für die Edition Epoca gefertigt hat. Da ich aber kein Krimi-Leser bin und zudem der artifizielle Erzählstandpunkt mir doch eher brüchig vorkam, habe ich mich bei der Lektüre herzlich gelangweilt. Auch die abschließende Pointe kam mir sehr konstruiert vor.

Gilbert Adair: Blindband. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. München: Beck, 2008. Pappband, 239 Seiten. 18,90 €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-richterEine Schullektüre ist ein Buch, das jede und jeder meint zu kennen, weil es in der Schule gelesen werden musste. Die allermeisten hassen diese Bücher, weil sie die Schule oder auch nur den Deutsch-Unterricht gehasst haben, und schauen nie wieder in eines dieser Bücher hinein. Wahrscheinlich hat es kein einziges Buch verdient, zur Schullektüre zu verkommen, aber bei einigen bedauert man es mehr als bei anderen. Dürrenmatts Der Richter und sein Henker gehört bei mir zu diesen Büchern. Das ist um so erstaunlicher, als ich eigentlich kein Krimi-Leser bin. Der Krimi ist ein Genre, das ich zwar im Film goutiere, das mir aber im Roman in der Regel zu schematisch, langweilig und eindimensional ist – war, sollte ich besser sagen, denn ich lese schon lange keine Krimis mehr.

Die erneute Lektüre von Der Richter und sein Henker (es ist wohl insgesamt die vierte) hat einen didaktischen Anlass: Schullektüre eines Jüngeren. Ich hatte erwartet, einen erzählerisch etwas angestaubten Roman vorzufinden, und war überrascht, was für ein elegantes, schlankes und durchtrainiertes Büchlein sich mir diesmal gezeigt hat. Sicher ist das eine oder andere nicht ganz gelungen, so etwa die Erzählung der Vorgeschichten von Bärlach und Gastmann im Gespräch, wodurch Gastmann für einen Augenblick unnötig geschwätzig und banal erscheint. Oder auch das Gastmahl für Tschanz, das den Roman beschließt und das unnötig überfrachtet ist mit existenzialistischen und moralisierenden Motiven. Da geht der Dramatiker mit dem Prosaautor durch; aber derlei sind Kleinigkeiten.

Dem steht entgegen, wie einfach und schlicht etwa das politische Unterfutter der Bärlachschen Intrige in den Roman eingeführt wird oder wie hübsch sich die beiden Protagonisten Bärlach und Gastmann ineinander spiegeln und ihre Wette am Ende beide zugleich gewinnen und verlieren. Das alles ist gut ausgedacht und zeichnet ein Bild der Schweizer Gesellschaft Ende der 40er Jahre, wie man es lakonischer und zugleich böser in einem populären Roman wohl lange wird suchen müssen. Ein Buch, das an die Tradition großer Schweizer Erzähler anschließt!

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. detebe 22535. Zürich: Diogenes, 1985 ff. 180 Seiten. 5,90 €.