Allen Lesern ins Stammbuch (14)

Es gibt Menschen, und darunter solche, die eine ganze Bücherei besitzen, die niemals recht an ein Buch herankommen, weil sie nichts zum zweiten Mal lesen. Und doch ist es nur dann, daß man wie klopfend ein Gemäuer absucht, und stellenweise auf einen hohlen Widerhall trifft, einhält und auf Schätze stößt, die der frühere Leser, der wir doch einst gewesen sind, in ihr vergraben hatte.

Walter Benjamin

Allen Lesern ins Stammbuch (13)

Da es Menschen gibt, die nicht lesen können, ohne nach den Modellen der lasterhaften oder lächerlichen Gestalten zu suchen, die sie in einem Werke finden, so erkläre ich diesen boshaften Lesern, daß sie nur zu Unrecht die im vorliegenden Buch enthaltenen Porträts auf lebende Vorbilder beziehen könnten. Ich beteure öffentlich: Mein Ziel war einzig, das Leben der Menschen darzustellen, wie es ist; Gott verhüte, daß ich irgend jemanden hätte insbesondere kennzeichnen wollen! Also nehme auch kein Leser für sich in Anspruch, was sich, so gut wie auf ihn, auf andere beziehen kann; oder, wie Phädrus sagt, er verrät sich törichterweise: Stulte nudabit animi conscientiam.

Alain-René Lesage
Gil Blas

Allen Lesern ins Stammbuch (12)

Schon oft hatte der Herzog über das große Problem nachgegrübelt, einen Roman in wenige Sätze zusammengedrängt zu schreiben, die die kondensierte Last von Hunderten von Seiten enthielten. Dann würden die gewählten Worte an ihrem richtigen Platze stehn, so, daß man keins umstellen könnte.

Der auf diese Weise abgefaßte Roman, in eine oder zwei Seiten zusammengedrängt, wäre eine Gedankenübereinstimmung zwischen dem Dichter und dem idealen Leser, eine geistige Zusammenarbeit zwischen wenigen auserwählten Personen, die in der Welt zerstreut sind, ein nur wenigen Feinsinnigen zugänglicher Genuß.

Joris-Karl Huysmans
Gegen den Strich

Von der Höhe der Alpen (17)

I ain’t never seen ’em, but my common sense tells me the Andes is foothills, and the Alps is for children to climb! Keep good care of your hair! These here is God’s finest sculpturings! And there ain’t no laws for the brave ones! And there ain’t no asylums for the crazy ones! And there ain’t no churches, except for this right here! And there ain’t no priests excepting the birds. By God, I are a mountain man, and I’ll live ‚til an arrow or a bullet finds me. And then I’ll leave my bones on this great map of the magnificent …

Del Gue

Miniaturen (4)

Nun standen die jungen Leute, die noch in das Spiel hineinwollten, frierend und fußtrampelnd vor dem Kirchspielskrug und sahen nach der Spitze des aus Felsblöcken gebauten Kirchturms hinauf, neben dem das Krughaus lag. Des Pastors Tauben, die sich im Sommer auf den Feldern des Dorfes nährten, kamen eben von den Höfen und Scheuern der Bauern zurück, wo sie sich jetzt ihre Körner gesucht hatten, und verschwanden unter den Schindeln des Turmes, hinter welchen sie ihre Nester hatten; im Westen über dem Haff stand ein glühendes Abendrot.

Theodor Storm
Der Schimmelreiter

Der letzte genialische Pass

genialisch

Quelle: sueddeutsche.de

Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centrehalf oder großer Taktiker des Tennissports. Der neue Geist fühlte sich noch nicht ganz sicher. Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort «das geniale Rennpferd». Es stand in einem Bericht über einen aufsehenerregenden Rennbahnerfolg, und der Schreiber war sich der ganzen Größe des Einfalls vielleicht gar nicht bewußt gewesen, den ihm der Geist der Gemeinschaft in die Feder geschoben hatte. Ulrich aber begriff mit einemmal, in welchem unentrinnbaren Zusammenhang seine ganze Laufbahn mit diesem Genie der Rennpferde stehe. Denn das Pferd ist seit je das heilige Tier der Kavallerie gewesen, und in seiner Kasernenjugend hatte Ulrich kaum von anderem sprechen hören als von Pferden und Weibern und war dem entflohn, um ein bedeutender Mensch zu werden, und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war.

Robert Musil
Der Mann ohne Eigenschaften

Allen Lesern ins Stammbuch (11)

Und dies ist eine von den tiefen Beobachtungen, wozu, weil man sehr wenigen Lesern die Fähigkeit, sie für sich selbst zu machen, zutrauen darf, ich ihnen meinen Beistand zu leihen für gut befunden habe; indessen ist dies ein Liebesdienst, auf welchen man im Fortgange dieses Werkes sich nur sehr selten Rechnung machen darf. In der That werde ich dem Leser selten oder niemals diese Willfährigkeit erzeigen, es sei denn in solchen Fällen, wie dieser, wo nichts Geringeres, als die Inspiration, womit wir Schriftsteller begabt sind, unumgänglich nötig ist, um auf die wahre Entdeckung zu kommen.

Henry Fielding
Tom Jones

Von der Höhe der Alpen (16)

Um endlich meine eigene Meinung über die Berge auszusprechen, gibt es, so wie keine schöne Landschaft ohne einen Berghorizont, so auch keinen angenehmen Wohnort, noch eine, Auge und Herz befriedigende, Landschaft, wo es an Luft und Raum mangelt. Dieß aber ist stets der Fall im Inneren der Gebirge. Diese schwerfälligen Massen sind nicht in wohlthätiger Uebereinstimmung mit den Kräften des Menschen und seinen schwachen Sinnwerkzeugen. Man will den Gebirglandschaften Erhabenheit zuschreiben. Ohne Zweifel entsteht diese aus der Größe der Gegenstände. Wie steht es aber mit der Erhabenheit, wenn dargethan würde, daß diese Größe, die allerdings da ist, doch von dem Auge nicht empfunden wird?

Es ist mit den Denkmahlen der Natur gerade wie mit den Kunstdenkmahlen, um ihre Schönheit zu genießen, muß man sie aus dem wahren Standpunkte betrachten, sonst verschwinden Gestalt, Farbe, Verhältnisse. Da man aber im Innern der Gebirge unmittelbar vor dem Gegenstande sich befindet, und der Standpunkt des Beschauers zu nahe ist, so verlieren die Verhältnisse der Gegenstände nothwendig ihre Größe, und dieß ist so wahr, daß man sich über die Höhen und Entfernungen immer täuscht. Ich berufe mich auf die Reisenden. Schien ihnen der Montblanc sehr hoch aus der Tiefe des Chamouni-Thals? Ein unermeßlicher Alpensee erscheint oft wie ein kleiner Teich. Man glaubt nach wenigen Schritten die Höhe eines Abhanges zu erreichen, und braucht drei Stunden, sie zu ersteigen. Oft ist mehr als eine Tagreise nöthig, um aus einer Schlucht zu kommen, deren Ende wir nahe vor uns zu sehen glaubten. Jene Größe der Gebirge, wovon man so viel spricht, wird uns daher nur durch die Ermüdung fühlbar, welche sie uns verursacht. Die Landschaft selbst ist für das Auge nicht größer, als eine gewöhnliche.

François-René de Chateaubriand
Reise auf den Montblanc

Allen Lesern ins Stammbuch (10)

Ich erwarte hierbei weder den Beifall der Menge noch eine große Zahl Leser; denn ich schreibe nur für solche, die ernstlich mit mir nachdenken und ihren Geist von ihren Sinnen und zugleich von allen Vorurteilen abtrennen können und wollen, und deren gibt es, wie ich wohl weiß, nur wenige.

René Descartes