Shakespeares Geschichten

lamb-shakespeares-novellenAuf die Idee, die Handlungen von Shakespeares Dramen in kurzen Prosastücken nachzuerzählen, scheint Anfang des 19. Jahrhunderts der englische Schriftsteller Charles Lamb gekommen zu sein. Charles hatte eine zeitweilig geistig verwirrte Schwester Mary, die 1796 in einem Anfall von Raserei versehentlich ihre Mutter getötet hatte. Charles ließ seine Schwester nur in Zeiten extremer Reizbarkeit einweisen, die übrige Zeit kümmerte er sich daheim um sie. Zur heimischen Therapie gehörten auch Be­schäf­ti­gungs­pro­gram­me, darunter eben auch die Aufgabe, Shakespeares Komödien in Prosa nachzuerzählen. Er selbst steuerte die Tragödien bei, so dass die 1807 erstmals erschienenen Tales from Shakespeare insgesamt 20 Stücke präsentierten. Das Buch wurde ein sofortiger Erfolg – es wurde sowohl als Schauspielführer als auch als Orientierung für die heranreifende Jugend geschätzt – und gehört in England bis heute zum Grundstock der populären Literatur zu Shakespeare.

shakespeares-geschichten-2In den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Chemiker und Schriftsteller Walter E. Richartz die Idee einer modernisierten und ergänzten Neuausgabe der „Shakespeare Novellen“. Er fand die vorliegenden Übersetzungen nicht nur sprachlich steif, sondern ihn störte auch die zum Teil penetrant vorgetragene Moralisierung Shakespeares. Als Partner für sein Projekt suchte er sich Urs Widmer aus, der die von den Lambs vernachlässigten Stücke ergänzt hat: die Königsdramen, die in der Antike situierten Stücke und die von den Lambs ungnädig ausgelassene Komödie “Love’s Labour’s Lost”; sozusagen zum Ausgleich für die Aufnahme dieses Stücks fällt bei Richartz einmal mehr “Pericles, Prince of Tyre” in editorische Ungnade; in beiden Ausgaben fehlt natürlich “The Two Noble Kinsmen”. Wie Widmer in seinem Vorwort schreibt, hat er die Arbeit an den Stücken lange hinausgeschoben, aus übermäßigem Respekt vor Shakespeare, aber wohl auch, weil er ein Gutteil der Stücke nicht kannte.

shakespeares-geschichten-1Im Jahr 1978 erschienen dann die beiden Bände des deutschen Lamb bei Diogenes: Band 1 mit der Auswahl der Lambs (mit Ausnahme eben des „Perikles“), Band 2 mit 17 weiteren Erzählungen. Diese Ausgabe ist zumindest bis zum Anfang dieses Jahrhunderts kontinuierlich lieferbar gewesen; derzeit gibt es sie nur in einer Hörbuch-Fassung, allerdings eingelesen von Otto Sander, Bernd Rauschenbach und Urs Widmer selbst, was einiges an zusätzlichem Vergnügen bieten dürfte. shakespeares-koenigsdramenAnsonsten sind derzeit nur die Shakespeareschen Königsdramen im Druck, also im wesentlichen die Nacherzählung des Rosenkriegs (“Richard II.”, “Henry IV.” 1+2, “Henry V.”, “Henry VI.” 1–3 und “Richard III.”) sowie ergänzend „König Heinrich VIII.“ und der „König Johann“.

„Shakespeares Geschichten“ bieten nicht nur die Möglichkeit, sich rasch und unterhaltsam einen Überblick über Shakespeares Bühnenwerk zu verschaffen, sondern sie haben im Gegensatz zu anderen Einführungen in Shakespeare auch den Vorteil, weitgehend frei von in­ter­pre­ta­to­ri­scher Bevormundung zu sein. Sicherlich sind auch sie nicht frei von Moral, aber sie präsentieren Shakespeare ohne den Versuch einer bürgerlichen Nutzbarmachung, wie sie bei den Lambs sehr oft die Quintessenz bildet (und die sicherlich wesentlich zum Erfolg ihres Buches beigetragen hat – „man sieht doch, wo und wie“). Und wer keinen Überblick braucht, kann hier und da hineinspicken und sich für 10 Minuten mit Shakespeare amüsieren.

Es lohnt sich übrigens, antiquarisch nach der ersten, gebundenen Ausgabe von 1978 Ausschau zu halten: Leineneinband, solides Papier und Fadenheftung waren damals noch der Standard für solche Bücher, auch bei Diogenes.

Walter E. Richartz / Urs Widmer: Shakespeares Geschichten. Alle Stücke von Shakespeare. Mit zahlreichen Illustrationen von Kenny Meadows. Zwei Bände im Schuber. Zürich: Diogenes, 1978. Leinen, Fadenheftung, 324 + 274 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters

widmer_vater In Der Geliebte der Mutter spielte der Vater des Erzählers eine marginale, rein funktionale Rolle: Die Mutter, enttäuscht von ihrem Geliebten Edwin, heiratet den ersten besten Mann, der ihr über den Weg läuft, hat mit ihm ein Kind und verfällt dann langsam, aber sicher ihrer großen Krise. Nach Hochzeit und Zeugung wird der Vater wohl nur noch ein- oder zweimal erwähnt, er scheint aber weder für sich noch für die Mutter irgend eine Bedeutung zu haben.

Dieses Manko behebt Widmer nun mit diesem Buch, das die Geschichte des Vaters erzählt. Im Buch heißt der Vater zwar Karl, aber zahlreiche Lebensdetails dürften direkt der Biographie des Romanisten und Übersetzers Walter Widmer entnommen sein, was das Buch wesentlich reichhaltiger und spannender werden lässt als seinen Vorgänger. Widmer macht aber deutlich, dass es sich nicht um den Versuch einer Biographie seines Vaters handelt, sondern er im Gegenteil eine Figur erfindet, die sein Vater hätte sein können. Auch darf man nicht erwarten, dass beide Bücher naht- und bruchlos ineinandergreifen; sie widersprechen einander sogar in wesentlichen Details, da es sich in beiden Fällen um fiktionalisierte und erzählerisch idealisierte Biographien handelt, die auf die eine Strukturierung und Intensivierung der biographischen Wirklichkeit abzielen. Man sollte sie also zugleich und gleichwertig als Pendants und jeweils für sich stehend lesen.

Das Buch des Vaters beginnt mit der Feststellung: »Mein Vater war ein Kommunist.« Im Gegensatz zu diesem Auftakt folgt aber nun gerade keine politische Biographie, sondern die Politik spielt eher eine Nebenrolle. Indem der Erzähler dann den Tod des Vaters vorwegnimmt, führt er das zentrale Motiv des Buches ein, das auch den Titel des Buches bedingt: Der Vater verfügt über ein Lebensbuch, das er an seinem zwölften Geburtstag in einer märchenhaften, feierlichen Zeremonie im Heimatdorf seines Vaters überreicht bekommen hat und in dem er von da an täglich Ereignisse und Gedanken seines Lebens notiert. Allerdings ist Das Buch des Vaters nicht mit diesem Lebensbuch identisch; aber da soll nicht zuviel verraten werden.

Was Das Buch des Vaters deutlich angenehmer als Der Geliebte der Mutter macht, ist sein größerer Humor, was aber in der Hauptsache stoffliche Gründe haben dürfte. Während Der Geliebte der Mutter die Geschichte eines Liebeswahns ist, von dem sich die Mutter bis an ihr Lebensende nicht wirklich zu befreien versteht, erinnert Das Buch des Vaters eher an einen Schelmenroman, den Roman eines beinahe romantischen Taugenichts, der sein Leben weitgehend sorglos treiben lässt, seiner Leidenschaft für französische Literatur und hier und da auch die Frauen lebt und ansonsten den Lieben Gott einen guten Mann sein lässt. In einem gewissen Sinne ist er noch weltverlorener als die Mutter, was wiederum einen wichtigen Reflex auf das Buch der Mutter wirft, da es verständlich macht, warum der Vater in ihm eine so marginale Rolle spielt.

Erst zusammen mit diesem Buch wird Der Geliebte der Mutter richtig rund, und es ist, wie bereits gesagt, zu empfehlen, beide Bücher als Passepartouts für einander zu lesen.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters. detebe 23470. Zürich: Diogenes Verlag, 2005. Pappband, 209 Seiten. 8,90 €.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter

Widmer_MutterUrs Widmer genießt (oder erträgt) gerade einige Aufmerksamkeit, da er den Friedrich-Hölderlin-Preis 2007 erhalten hat. Widmer produziert seit vielen Jahren mit großer Kontinuität, ohne groß im Fokus einer breiteren literarischen Öffentlichkeit zu stehen. Ich kannte bislang nur seine Prosaversionen von »Shakespeares Geschichten«, die er ergänzend zu Walter E. Richartz Übersetzungen der Nacherzählungen von Mary Lamb verfasst hatte. »Der Geliebte der Mutter« wurde mir empfohlen, und so habe ich die Gelegenheit genutzt, als der Text in der Buchreihe der »Süddeutschen Zeitung« erschien.

Es handelt sich in der Hauptsache um die Geschichte einer unglücklichen Liebe: Clara Molinari – deren vollständigen Namen wir erst nach viel zu vielen Seiten erfahren – verliebt sich als junge Frau in Edwin, einen begabten jungen Dirigenten aus ärmsten Verhältnissen. Edwin hat eine Weile lang eine für ihn eher gleichgültige Affäre mit ihr, heiratet dann aber reich und gesellschaftsfähig und sieht Clara nie wieder. Clara wiederum, die während der Zeit der Affäre den finanziellen Ruin ihrer Familie und den Tod ihres Vaters am Tag nach dem Schwarzen Freitag 1929 ertragen muss und die Abtreibung eines Kindes von Edwin über sich ergehen lässt, heiratet auf die Nachricht von Edwins Hochzeit hin »den ersten besten Mann«, der im ganzen Buch dann überhaupt gar keine Rolle spielt, auch in den Gedanken des Erzählers nicht vorkommt. Nach einer weiteren Schwangerschaft, aus der der Erzähler hervorgeht, verliert sie zunehmend ihr psychischens Gleichgewicht, ist akut selbstmordgefährdet und wird in eine Klinik eingewiesen, wo sie mit Elektroschocks behandelt wird.

Aus der Klinik entlassen, therapiert sie sich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs selbst durch Gartenarbeit. Sie betreibt auch weiterhin einen Kult um Edwin, der inzwischen ein weltberühmter und steinreicher Dirigent geworden ist und seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzt. Sein Tod ist der eigentliche Erzählanlass der Geschichte und bildet den erzählerischen Rahmen. Nebenbei erzählt uns Widmer auch ein wenig von der Karriere Edwins, die Familiengeschichte des Vaters von Clara, lässt Mussolini leibhaftig auftreten und was der Anhängsel mehr sind, die den Text wenigstens auf eine einigermaßen angängige Länge bringen. Alles das ist sehr locker gestrickt, was einen nicht unbedingt stören muss, den Text aber in einigen Passagen merkwürdig beliebig macht.

Wirklich störend aber ist die Sprache Widmers. Die Absicht scheint zu sein, einen lakonischen Ton zu treffen, aber gerade dafür fehlt Widmers Beschreibungen und Wendungen die Präzision. Das meiste kommt sehr lax daher:

Für die eingemachten Birnen, Aprikosen, Zwetschgen hatte sie grüne Gläser aus Bülach. Daß sie aus Bülach waren, das war irgendwie wichtig.

Und bei diesem »irgendwie« bleibt es. Mehr weiß der Erzähler nicht, und um mehr hat er sich auch nicht gekümmert; und der Autor eben auch nicht!

Sie blieb jetzt im Haus am Stadtrand, auch in den Sommern. Es stand längst nicht mehr am Rand der Stadt, war eingeschlossen von neuen Häusern.

Mir sind solche sprachlichen Albernheiten unzugänglich, und ich kann darin nichts anders erkennen, als eine gewisse Gleichgültigkeit des Autors dem Leser gegenüber. – Von der mit einem schweren Stein in der Hand voller Verzweiflung in den See watenden Clara heißt es:

Der Stein entglitt ihr, ohne daß sie es bemerkte.

Spätestens wenn der Stein auf ihren Füßen gelandet ist, wird sie es wohl doch bemerkt haben. Und weiter schreibt Widmer:

So verharrte sie. Endlich machte sie rechtsum kehrt – vielleicht weil ein Nachtvogel schrie, oder weil ein fernes Auto hupte –, stakste ans Ufer zurück und rannte nach Hause.

Ist es nicht merkwürdig, dass der Erzähler genau weiß, dass sich seine Mutter rechts herum gedreht hatte, aber nur Mutmaßungen darüber anstellen kann, was der Grund für ihr Erwachen aus der Starre ist? Der Autor scheint weder besonders auf die von ihm verwendeten Worte zu achten, noch eine besonders präzise Vorstellung von der von ihm geschilderten Szene entwickelt zu haben. Und aus der mangelhaften Präzision der Vorstellung resultiert eine Beliebigkeit der Sprache. Leider hinterlässt das Buch auch insgesamt genau diesen Eindruck.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung | Bibliothek. München, 2007. Pappband, 129 Seiten. 5,90 €.