»Nachtwachen« von Bonaventura

nachtwachen

Im Jahr 1804 erscheint unter dem Titel »Nachtwachen« ein kleines Büchlein, das kaum die Bezeichnung Roman verdient, und dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym Bonaventura verbirgt. Es hat bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gedauert, bis man den Autor des Bändchens endlich identifiziert hatte: Ernst August Friedrich Klingemann, ein Theaterintendant und Bühnenautor, dessen sonstige Werke heute beinahe vollständig vergessen sind, hatte mit den »Nachtwachen« sein Meisterstück geliefert.

Erzählt werden die 16 Nachtwachen des Büchleins vom Nachtwächter Kreuzgang, einem Außenseiter, den die bürgerliche Gesellschaft für ebenso verrückt hält wie er sie. Seinen Namen hat er von dem Ort erhalten, an dem er als Waise gefunden worden ist. Bereits durch seine Herkunft von der guten Gesellschaft isoliert, lebt er nun sein Leben im Dunkel der Nacht und läßt die schlafenden Bürger wissen, was die Stunde geschlagen hat. Von den Spießbürgern seiner Stadt wird er wohl als ein Verrückter angesehen, dem man aus Mitleid und weil er sonst zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen war, den Posten des Nachtwächters überlassen hat. So verschläft er denn den Großteil des Tages, und man hat braucht sich mit ihm nicht weiter herumzuärgern.

Die Geschichten, Gedanken, Betrachtungen, mit denen Kreuzgang seine Nächte füllt, sind weder kontinuierlich noch konsequent. Vieles bleibt abgerissen und hingeworfen, Fragment im Fragment eines Fragments. Als Nachtwächter schaut er von draußen in die erleuchteten Fenster hinein, sieht Ausrisse vom Leben und Sterben seiner Mitbürger, geht in Blitz und Donner durch die Nacht, spaziert über Friedhöfe und durch dunkle Kirchen, spricht mit Gott, dem Teufel und sich selbst. Und bei diesen Selbstgesprächen kommen viele und vieles nicht gut weg:

Sagt mir, mit was für einer Mine wollt ihr bei unserm Herrgott erscheinen, ihr meine Brüder, Fürsten, Zinswucherer, Krieger, Mörder, Kapitalisten, Diebe, Staatsbeamten, Juristen, Theologen, Philosophen, Narren und welches Amtes und Gewerbes ihr sein mögt; denn es darf heute keiner in dieser allgemeinen Nationalversammlung ausbleiben, ob ich gleich merke, daß mehrere von euch sich gern auf die Beine machen möchten um Reisaus zu nehmen.

Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt ihr vollbracht, das der Mühe werth wäre? Ihr Philosophen z. B. habt ihr bis jezt etwas Wichtigers gesagt, als daß ihr nichts zu sagen wüßtet? – das eigentliche und am meisten einleuchtende Resultat aller bisherigen Philosophien! – Ihr Gelehrten, was hat eure Gelehrsamkeit anders bezwekt als eine Zersezung und Verflüchtigung des menschlichen Geistes um zulezt mit Muße und einfältiger Wichtigkeit an das übriggebliebene caput mortuum euch zu halten. – Ihr Theologen, die ihr so gern zur göttlichen Hofhaltung gezählt werden möchtet, und indem ihr mit dem Allerhöchsten liebäugelt und fuchsschwänzt, hier unten eine leidliche Mördergrube veranstaltet und die Menschen statt sie zu vereinigen in Sekten auseinander schleudert und den schönen allgemeinen Brüder- und Familienstand als boshafte Hausfreunde auf immer zerrissen habt. – Ihr Juristen, ihr Halbmenschen, die ihr eigentlich mit den Theologen nur eine Person ausmachen solltet, statt dessen euch aber in einer verwünschten Stunde von ihnen trenntet um Leiber hinzurichten, wie jene Geister. Ach nur auf dem Rabensteine reicht ihr Brüderseelen vor dem armen Sünder auf dem Gerichtsstuhle euch nur noch die Hände und der geistliche und weltliche Henker erscheinen würdig neben einander! –

Was soll ich gar von euch sagen, ihr Staatsmänner, die ihr das Menschengeschlecht auf mechanische Prinzipien reduzirtet. Könnt ihr mit euern Maximen vor einer himmlischen Revision bestehen, und wie wollt ihr, da wir jezt in einen Geisterstaat überzugehen im Begriffe sind, jene ausgeplünderten Menschengestalten placiren, von denen ihr gleichsam nur den abgestreiften Balg, indem ihr den Geist in ihnen ertödtetet, zu benuzen wußtet. – O, und was drängt sich mir nicht noch alles auf über die einzeln stehenden Riesen, die Fürsten und Herrscher, die mit Menschen statt mit Münzen bezahlen, und mit dem Tode den schändlichen Sklavenhandel treiben. –

Die »Nachwachen« sind ein dunkles und wildes Buch, dessen abgerissene und befremdliche Gedanken auch heute noch den einen und anderen Blick auf die Nachtseite des Menschen in seiner bürgerlichen Verfassung erlauben. Es ist eines der seltenen Bücher, die in einer Epoche ganz für sich stehen und denen es deshalb gelingt, weit über ihre Zeit hinaus zu wirken.

Nachtwachen von Bonaventura. Im Anhang: Des Teufels Taschenbuch. Mit einem Nachwort v. Peter Küppers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Pappband, Fadenheftung, 223 Seiten. 22,90 €.

Ole Könnecke: Ein Freund, ein guter Freund

76667616_710da82853Ole Könnecke ist ein Meister der Bildergeschichte, wobei sich seine Bücher durch einen ganz eigenen, stillen Humor auszeichnen. Dabei gelingen ihm wundervoll skurrile Figuren wie etwa Lola oder Doktor Dodo oder solch literarische Zaubergeschichten wie »Fred und die Bücherkiste«. Nun ist nach »Elvis und der Mann im roten Mantel« in diesem Jahr ein weiteres Buch erschienen, in dem der Weihnachtsmann bzw., wie schon die Umschlagzeichnung verrät, gleich mehrere Weihnachtsmänner und ihre sehr unterschiedlichen Tagesabläufe im Zentrum stehen. Es soll hier gar nicht mehr verraten werden, um den Spaß der Erstlektüre nicht zu verderben. Das Buch ist ein heißer Geschenk-Tipp für beinahe alle, bei denen man nicht weiß, was man ihnen sonst schenken soll – nur eben Humor sollte die oder der Beschenkte haben!

Könnecke, Ole: Ein Freund, ein guter Freund. Eine Weihnachtsgeschichte
Sanssouci, 2005. ISBN 3-7254-1378-9
Gebunden
48 Seiten, farbige Illustrationen – 18,3 × 14,4 cm – 7,90 Eur[D]

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

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Das vom Großfeuilleton begeistert aufgenommene Buch ist eine postmodern undeutliche doppelbiographische Erzählung – wie heute beinahe immer mit dem Verlagsgebrauchslabel Roman etikettiert – entlang den Leben des Mathematikers Carl Friedrich Gauß und des Naturforschers Alexander von Humboldt. Beide sollen als Modelle begriffen werden: Gauß als der Theoretiker, den nur materieller Zwang aus der Innenwelt seiner Gedanken in die äußere Welt treibt, Humboldt als der rastlose Reisende, der vor lauter „in der Welt sein“ nicht zu sich selbst gelangt. Beide Reduktionen sind natürlich für die Verbiographierten gänzlich unerheblich. Kehlmann selbst bekundet in einem Interview mit dem Deutschlandradio, dass ihm Humboldt weitgehend fremd geblieben sei; nach dem Eindruck, den das Buch macht, ging es ihm mit Gauß ganz ähnlich.

Wie heute üblich, nimmt sich der Autor mit beiden Biographien Handgreiflichkeiten heraus: Mir wird wohl nie einsichtig werden, warum der Sexualakt großer Mathematiker bzw. der ausbleibende Sexualakt großer Forschungsreisender im Detail zur Biographie hinzuerfunden werden muss. Ich will hoffen, dass es sich nur um eine Spekulation auf die voyeuristische Grundgesinnung des Publikums handelt, was überhaupt eine gute Ausrede für das ganze Buch darstellt.

Positiv lässt sich vermerken, dass Kehlmann wenigstens gewusst hat, was er da verzapft: Er gibt seinen beiden Protagonisten Gelegenheit, sich über das Buch zu äußern:

Wozu dieses ständige Herleiern erfundener Lebensläufe, in denen noch nicht einmal eine Lehre stecke? [S. 114]

Künstler vergäßen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt. […] Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil er Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.
Abscheulich, sagte Gauß. [S. 221]

Auch das stellt ja eine gewisse Form von Respekt dar.

Für die nächste Auflage bzw. die Taschenbuchausgabe wäre Autor und Verlag noch ans Herz zu legen, einmal zu prüfen, ob tatsächlich der zehnmillionste Teil eines Längengrades das Meter definiere und ob man tatsächlich zur Bestimmung des Meters den gesamten Längengrad vermessen habe, der Paris mit dem Nordpol verbindet. „Es erfüllte Humboldt stets mit Hochgefühl, wenn etwas gemessen wurde; diesmal war er trunken vor Enthusiasmus.“ [S. 39] Frau Nachbarin, Eure Flasche!

Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt
Rowohlt, 2005; ISBN 3-498-03528-2
Gebunden
304 Seiten – 20,5 × 12,5 cm – 19,90 Eur[D]

Hans Dieter Zimmermann: Heinrich von Kleist

44685189_33ddd6a7fcWahrscheinlich die Quelle der nicht ausrottbaren Gerüchte um Kleists Homosexualität, die auf äußerst tönernen Füßen stehen und wenig zum Verständnis des Werks beitragen. Beginnt allerdings mit einer hervoragenden Schilderung des Todes von Heinrich von Kleist!

Nicht mehr lieferbar! (Bibliographischer Nachweis)