Anthony Burgess: Der Mann aus Nazareth

Die Zeiten taumeln und lallen.

Anthony Burgess, dessen katholische Erziehung sich in unterschiedlicher Art und Gewichtung in seinem Gesamtwerk abzeichnet, hat in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre für Franco Zeffirelli das Drehbuch für dessen Vierteiler Jesus von Nazareth geschrieben.1 Burgess hat anschließend das recherchierte Material auch zu einem Roman verarbeitet und dabei seine ganz eigene Vision der Geschichte Jesu gestaltet. Herausgekommen ist eine etwas merkwürdige Mischung aus origineller Überschreibung, rationaler Umdeutung und letztlich doch gläubiger Bestätigung der ältesten Quellen. Dass die meisten Zeitgenossen mit dieser Version nicht unbedingt etwas anfangen konnten, zeigt sich sicherlich auch darin, dass der 1979 auf Englisch erschienene Roman trotz der anhaltenden Prominenz der TV-Serie erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde.2

Der Verlag gibt dem Text als einzigen Kommentar das Vorwort Burgess’ zur französischen Ausgabe (1977) bei, das wesentlich drei Punkte betont: Burgess habe versucht, Jesus als Menschen – kein „Weichling“, sondern „groß und stark, mit einer mächtigen Stimme“ (S. 370) – zu gestalten, ohne zugleich seinen Status als Gottessohn aufzuheben (hier wird man nicht zu genau nachfragen dürfen, was denn das eigentlich heißen soll), er wolle die „Logik der Eucharistie“ betonen und schließlich halte er die Botschaft der Liebe für die wesentliche Botschaft des Christentums:

Vor allem aber wollte ich zum Ausdruck bringen, dass es für den Menschen keine Hoffnung gibt, außer durch persönliche Erneuerung – das heißt, in der Bereitschaft jedes einzelnen zu Nachsicht, ja Liebe und sogar Vergebung Feinden gegenüber. Politische Reformen sind hoffnungslos. Das Kreuz ist das Symbol des Staates – des Staates Caesars wie des Präsidenten der französischen Republik. Der Weg Christi – der Kreuzweg – ist der einzige gangbare, auch aus praktischer und nicht-mystischer Sicht.

S. 371

Um diesen durchaus nicht einfach zu integrierenden Zielen nach­zu­kom­men, bekommen wir Jesus zuerst als einen belesenen Tischler vorgeführt: Zwar ist er von Anfang an davon überzeugt, nicht Sohn seines Ziehvaters Joseph zu sein, doch hindert ihn das vorerst nicht daran zu heiraten (die Hochzeit zu Kanaan wird zu Jesu eigener Hochzeit umgedeutet), doch stirbt seine Frau recht bald wieder und zu Beginn seiner Wirkungszeit ist Jesus daher Witwer. Er kennt sich außer in den Schriften auch in der Literatur des Mittelmeerraums aus, spricht und liest also Griechisch und Latein (Aramäisch versteht sich von selbst), kann mit dem studierten Judas durchaus mithalten und ist überhaupt ein Bild von einem Mann.

Je weiter die Geschichte jedoch fortgeschrieben wird, desto enger hält sich der Erzähler (ein griechischer Zeitgenosse, Kaufmann, von dem aber nie wirklich klar wird, warum er die Geschichte Jesu aufschreibt) an die Berichte der Apostel. Die Erzählungen der Evangelisten werden aber bis zum Ende konsequent durch eine politische und und soziale Ebene ergänzt, die zwar detaillierter aber in ähnlicher Weise gestaltet ist, wie sich dies auch schon bei Tim Rice in seinem Libretto für Jesus Christ Superstar (1971) finden lässt. Werden die Wunder zuerst noch wegrationalisiert (das Wunder der Verwandlung von Wasser in Wein zum Beispiel ist nur eine Art von Partyscherz; die ersten Geheilten sind wahrscheinlich psychosomatische Fälle; das wieder ins Leben gerufene Mädchen war wahrscheinlich noch gar nicht so ganz richtig tot etc. pp.), so wird ihr realer Status mit weiterem Fortschreiten immer vager, bis schließlich gar nicht mehr erst versucht wird zu erklären, wie es zu verstehen sein soll, dass der nun unbestreitbar tote Lazarus wieder ins Leben gerufen wird.

Der skeptische Betrachter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe die Religiosität des Autors seinen Text mehr und mehr überwältigt: Das Buch will den Leser je länger desto mehr zur Erkenntnis einer realen Gottessohnschaft Jesu und der Göttlichkeit seiner Lehre überreden.

Für Leser, die wie ich mit der Auseinandersetzung der 1970er-Jahre mit der Figur Jesu groß geworden sind, sicherlich ein interessantes Seitenstück; für gläubige Christen wahrscheinlich eine widerständige Lektüre; für alle anderen wohl eher ein Kuriosum.

Anthony Burgess: Der Mann aus Nazareth. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2025. Klappenbroschur, 372 Seiten. 26,90 €.

  1. Als weitere Autorin des Drehbuchs wird Zeffirellis langjährige Mitarbeiterin Suso Cecchi D’Amico genannt. Ob es dabei eine echte Zusammenarbeit gegeben hat oder D’Amico das Drehbuch Burgess’ nachträglich überarbeitet hat, entzieht sich leider meiner Kenntnis. ↩︎
  2. Von den beiden anderen biblischen Erzählungen Burgess’ (beide ebenfalls zuerst als Drehbuch) – Moses (1976) und The Kingdom of the Wicked (1980) – wurde das Frühere ebenfalls bislang nicht ins Deutsche übersetzt. The Kingdom of the Wicked erschien 1985, also zur Hochzeit der Burgess-Rezeption in Deutschland, unter dem Titel Das Reich der Verderbnis (Katalog der DNB). ↩︎

Jahresrückblick 2022

Das Jahr 2022 war ein etwas durchschnittliches Lektüre-Jahr, sowohl was die Menge der gelesenen und hier besprochenen Bücher angeht als auch nach deren Qualität. Wirklich negative Ausreißer gab es aber keine; es hat sich auch in diesem Jahr die Tendenz bei mir verfestigt, nur noch tote Autoren zu lesen, und der Anteil des Wiedergelesenen hat sich, so wenigstens mein ungeprüfter Eindruck, erhöht.

In der Erinnerung stechen hervor:

  • Gogols Tote Seelen, die in der Übersetzung von Vera Bischitzky sich als überraschend frisches Buch erwiesen.
  • Thomas Manns Der Erwählte, der seit über 40 Jahren zu meinen liebsten Büchern gehört.
  • Die beiden abschließenden Teile von Anthony Burgess The Malayan Trilogy in der Übersetzung von Ludger Tolksdorf.
  • Und – noch kurz vor Toresschluss – Joseph Conrads Lord Jim in der neuen Übersetzung von Michael Walter; wahrscheinlich der Höhepunkt dieses Lesejahres.

Anthony Burgess: Betten im Orient

Plötzlich, während er mit einem Streichholz nach den aufgequollenen Zigarettenkippen im Wasser des Aschenbecher stocherte, erschien ihm all dies als romantisch – der letzte Legionär, seine Einsamkeit, die aussichtslose Sache wirklich aussichtslos –, und instinktiv zog er den Bauch ein, strich sich, um den nackten Teil der Kopfhaut zu bedecken, übers Haar und wischte sich den Schweiß von den Wangen.

Der abschließende Teil der Malayan Trilogy erschien nur ein Jahr nach Der Feind in der Decke und schließt ohne präzise Zeitangabe an die Handlung des vorherigen Teils an. Die Handlung erstreckt sich nur wenig über den Unabhängigkeitstag der Föderation Malaya, den 31. August 1957 hinaus. Von einer konkreten, zusammenhängenden Handlung lässt sich in diesem Buch noch weniger sprechen als in den beiden vorhergehenden Teilen, das Figurenensemble ist noch lockerer miteinander verknüpft und der Protagonist Victor Crabbe erscheint nur noch als eine Figur unter anderen. Er ist nominell immer noch Leiter der staatlichen Schulbehörde des fiktiven Kleinstaates Negeri Dahaga, doch besteht seine Hauptaufgabe darin, seinen malaysischen Nachfolger einzuarbeiten und von diesem als Trouble Shooter benutzt zu werden. Als privates Projekt versucht er, dem jungen chinesischen Komponisten Robert Loo zum Durchbruch zu verhelfen, der allerdings parallel dazu eine erhebliche Wandlung durchläuft und schließlich ganz anders endet, als Crabbe sich das gewünscht hätte.

Parallel dazu werden die Geschichten einer außergewöhnlich gut aussehenden Lehrerin erzählt, die verzweifelt einen Traumprinzen zum Heiraten sucht, eines Polizei-Schreibers, der aus seinem Job gedrängt wird und den dafür verantwortlichen Kollegen mehrfach verprügelt, seines Sohns, der mit drei Freunden an einer versuchten Erpressung nur knapp vorbeischliddert, eines muslimischen Tierarztes, der versucht die Lehrerin zu heiraten, um den Heiratsplänen seiner Mutter zu entgehen, der gesamten malaysischen Gesellschaft, die von tiefen Vorurteilen der ethnischen Gruppen untereinander geprägt ist und schließlich auch der abziehenden Engländer, die durch US-Amerikaner ersetzt werden, um Malaya nicht den kommunistischen Revolutionären zu überlassen; viel Stoff für knapp 240 Seiten. Das Buch klingt aus mit einer milden Parodie auf Heart of Darkness, die die finale Bedeutungslosigkeit Victor Crabbes manifestiert.

Der Titel ist natürlich eine Anspielung auf Shakespeares Antony and Cleopatra, wobei das Zitat selbst mehrfach in Der Feind in der Decke vorkam, hier aber bis auf den Titel wohl absichtlich komplett fehlt. Man kann in dieser Trilogie bereits Burgess’ spätere, sehr souveräne Erzähler vorausahnen, ja es gibt bereits eine Stelle, wo sich der Autor erlaubt, die Leser direkt anzusprechen.

Ein in seiner gewollt musivischen Form sehr gelungener Ausklang dieses erstaunlich welthaltigen Erstlings.

Anthony Burgess: Betten im Orient. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  241 Seiten. 34,– €.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke

Bei Allah, seine Gläubiger waren hinter ihm her, oder ein Beilschläger, oder vielleicht seine Ehefrau. Im Orient ist die Auswahl begrenzt.

Der zweite Teil der Malayan Trilogy erschien 1958, zwei Jahre nach Jetzt ein Tiger. Die Handlung beginnt am 12. Februar 1956 als der Protagonist Victor Crabbe zusammen mit seiner Frau Fenella noch weiter in den Norden Malayas fliegt, um dort eine Stelle als Schulrektor anzutreten. Fenella ist etwas angekratzt, da sie am selben Tag erfahren hat, dass Victor eine Affäre mit einer Malaiin hatte, was ihren Drang, nach England zurück zu wollen, nicht gerade reduziert.

In Kenching, der Hauptstadt des fiktiven Staates Negeri Dahaga, erwartet sie niemand am Flughafen. So schlagen sich die Crabbes allein zur Stadt durch, wobei sie unterwegs zufällig auf Rupert Hardman treffen, einen alten Studienkollegen Victors, der sich in Kenching mehr schlecht als recht als Anwalt durchschlägt und der die zweite Hauptfigur des Romans werden wird. Hardman setzt sie am Haus von Victors Vorgesetztem Talbot ab, wo sie zuerst dessen Frau Anne kennenlernen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf der Handlung spielen wird.

Wie bereits im ersten Band werden auch diesmal mehrere Erzählstränge parallel erzählt: Victor Crabbe hat mit seinem Vizerektor zu kämpfen und steht außerdem im Zentrum des lokalen Klatsches. Er beginnt eine Affäre mit Anne Talbot, die ihn als einen von zwei möglichen Kandidaten für einen Ausstieg aus ihrer Ehe betrachtet. Fenella wird von einem malaiischen hohen Beamten umworben, was sie zu ganz ungekannten Höhen des Selbstbewusstseins führt. Rupert Hardman heiratet die reiche Witwe Normah, um seine finanziellen Probleme überwinden und sich endlich selbstständig machen zu können. Dass er zu diesem Zweck Muslim werden muss, nimmt er vorerst billigend in Kauf, es wird aber eine ärgere Belastung für ihn, als er erwartet hatte. Schließlich plant er seine Flucht aus Malaya und vor seiner Ehefrau auf einer Pilgerreise gen Mekka. Und noch einige andere Nebenstränge werden verfolgt.

Burgess, der zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon die komplette Trilogie konzipiert hatte, bekommt zum Ende des zweiten Bandes gerade noch ein etwas vages Gleichgewicht als Abschluss hin: Victor steigt als Nachfolger Talbots zum Chef des Schulamtes auf; es gelingt ihm zudem durch einen unfreiwilligen Akt des Heldentums die Gerüchte um seine kommunistische Gesinnung zu widerlegen. Zwar hat ihn Fenella verlassen, aber nach einem Durchgang durch Depression und Krankheit scheint er auch diesen Schlag überwunden zu haben. Derweil geht Malaya immer rascher seiner Unabhängigkeit und damit Victor seiner Überflüssigkeit entgegen.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  216 Seiten. 32,– €.

Wird fortgesetzt …

Anthony Burgess: Jetzt ein Tiger

Weißt du, die Wirklichkeit ist immer langweilig, aber wenn wir einsehen, dass sie alles ist, was wir haben – dann hört sie wundersamerweise auf, langweilig zu sein.

Bei Jetzt ein Tiger (Time for a Tiger) handelt es sich um Burgess’ ersten Roman, der 1956 erschien. Er bildet den Auftakt zur sogenannten Malayan Trilogy, deren übrige Bände bis 1959 herausgebracht wurden. Seitdem wurden sie in allen englischen Ausgaben nur noch zusammen gedruckt und haben den Übertitel The Long Day Wanes (Der lange Tag schwindet) bekommen. Alle drei Romane sind jeweils etwa 200 Seiten stark, so dass sie zusammen einen ganz ansehnlichen Band ergeben. Zusammengehalten werden sie durch den gemeinsamen Protagonisten Victor Crabbe, einen Engländer, der in Malaya (dem Vorgängerstaat des heutigen Malaysia) als Lehrer die letzten Jahre der britischen Herrschaft (1955–1957) erlebt.

Crabbe ist verheiratet, etwas unglücklich, da seine Frau Fenella nach Europa zurück will und er sich Vorwürfe macht, sie nicht genug zu lieben, wenigstens weniger als seine erste Frau, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, bei dem Crabbe am Steuer saß. Er ist Lehrer an einer englisch geprägten Privatschule im Norden Malayas und ist bei seinen Schülern ebenso beliebt wie bei der Schulleitung unbeliebt. Crabbe unterrichtet Geschichte und ist sich der prekärer politischen Lage Malayas bewusst: Im Dschungel drohen kommunistische Terroristen, die von China unterstützt werden, mit dem Umsturz des Staates, die soziale Spanne zwischen Ober- und Unterschicht ist erheblich und die diversen Ethnien und Religionen (Malaien, Chinesen, Inder und Europäer bzw. Moslems, Buddhisten, Hindus und Christen) hegen solide Vorurteile gegeneinander, was auch den Schulalltag nicht eben leichter macht. Am Ende von Jetzt ein Tiger wird Crabbe die Schule verlassen und an die Ostküste der malaiischen Halbinsel wechseln.

Neben Crabbe, der, wie gesagt, die Trilogie als Protagonist zusammenhält, gibt es in Jetzt ein Tiger weitere Hauptfiguren: Den ewig betrunkenen Polizei-Leutnant Nabby Adams, der ständig auf der Suche nach dem nächsten Tiger ist – einer bis heute in Südostasien beliebten Biermarke – und den in halbwegs nüchternem Zustand die Liste seiner untilgbar erscheinenden Schulden plagt. Und seinen Sancho Pansa Alladad Khan, der – ähnlich unglücklich verheiratet wie Crabbe – heimlich in Crabbes Frau verliebt ist und im Laufe des Buches für einen Moslem erstaunliche Mengen Alkohol konsumiert. Dieses Trio (bzw. Quartett, wenn man Fenella mit dazu zählt) ist umringt von einer ganzen Schar von schrägen und interessanten Nebenfiguren: Dem schwulen, aber verheirateten Koch der Crabbes, dem ebenso überforderten wie cholerischen Schulleiter Boothby, einem jungen chinesischen Schüler, aus dem weder Crabbe noch Boothby richtig schlau werden, einem Kollegen Alladad Khans, den Khan um dessen Kenntnisse der englischen Sprache beneidet, Crabbes malaiischer Geliebten, die versucht sich an ihm mit Gift zu rächen, als er sie verlässt usw. usf.

Eine Handlung hat das Buch zwar, aber es lohnt kaum, sie nachzuerzählen. Seine Qualität bezieht das Buch vielmehr aus der Beschreibung des Lebens, der Konflikte, der Bestrebungen, Hoffnungen und Träume seiner Protagonisten. Für die nur gut 200 Seiten, die das Buch umfasst, ist es erstaunlich welthaltig und liefert mit seinem Gemisch aus englischen und malaiischen Dialogen (auf die Wiedergabe des von Adams und Khan gebrauchten Urdu verzichtet Burgess glücklicherweise) einen sehr lebendigen Ausschnitt dieser malaiisch-britischen Welt. Für einen Erstling ein ganz erstaunlich reichhaltiges Buch.

Die deutsche Übersetzung habe ich nur stichprobenartig geprüft, und sie hat sich an allen Stellen bewährt. Auch schwierige Stellen sind durchaus witzig gelöst – so heißt Adams Hündin Cough im Deutschen Issdich – und mit der Entscheidung, die malaiischen Passagen unübersetzt ins Deutsche zu übernehmen – Burgess hat ein Glossar erstellt, das natürlich ebenfalls übersetzt wurde –, hat man dem Buch seine sprachliche Vielfalt belassen.

Es ist zu hoffen, dass dieses überraschend gute Buch auf genügend Interesse stößt, dass sich Verlag und Übersetzer entschließen können, auch die beiden übrigen Teile der Malayan Trilogy ins Deutsche zu transportieren.

Anthony Burgess: Jetzt ein Tiger. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2019. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  231 Seiten. 26,– €.

Wird fortgesetzt …

Aus dem Zugang (2)

Werkausgaben – wie immer sie sich nun nennen mögen: Gesammelte Werke, Sämtliche Werke oder gar Sämtliche Schriften (ein Titel, der sich beinahe niemals einlösen lässt) – sind janusköpfige Wesen: Auf der einen Seite erschrecken sie den unerfahrenen Leser mit ihrem Umfang und vorgeblicher Erklärungsmacht, auf der anderen handelt es sich bis zu ihrer Vollständigkeit um zarte, verletzliche Wesen, den schon der kleinste Luftzug irreparable Schäden oder gar den Tod bringen kann. Wieviele Verlage sind früher dahingegangen als ihre Werkausgaben? Wieviele Werkausgaben hatten gerade zögerlich ein oder zwei Bände in die Welt gesetzt, als sie von einem finanziellen Engpass aus in einen Abgrund stürzten oder von ihrem Herausgeber sträflich vernachlässigt am Rande einer Buchmesse dahinsiechten? Und selbst, wenn die Hürde von 10 oder gar 20 Bänden übersprungen ist, kann sie immer noch die Verunstaltung treffen, dass sie unvollendet bleiben und für immer in dieser schaurigen Gestalt durch die Bibliotheken geistern müssen. Und wie oft hat schon ein Leser den oft zitierten 16. Band gesucht, nur um sich nach Jahren von einem pensionierten Bibliothekar kopfschüttelnd belehren lassen zu müssen: Der sei doch nie erschienen; da sei doch damals die Hilfskraft dem Professor untreu geworden und der habe sich daraufhin als unfähig erwiesen, das nicht von ihm gezeugte Wesen bis zur Lebensfähigkeit durchzubringen. Habent sua fata libelli.

Mit Band 24 – Briefe an Véra – ist heuer daher die Vollständigkeit und damit Großjährigkeit der Vladimir-Nabokov-Werkausgabe (Gesammelte Werke, obwohl die beiden Brief-Bände der Ausgabe gerade keine Werke enthalten) zu feiern. Ein dreifaches Hoch! auf den Herausgeber Dieter E. Zimmer – dessen erleichtertes Aufseufzen man wahrscheinlich noch in Montreux hören konnte –, einen herzlichen Glückwunsch an den Paten Rowohlt aus Reinbek (der ganz bescheiden auf seiner Webseite die Vollständigkeit des Kindes nicht einmal erwähnt, geschweige denn sich mit dem vollbrachten Aufziehen des Kindes brüstet, wie es ihm zustünde) und ein Freudenfest für alle deutschen Leser Nabokovs. Es ist vollbracht! Nur 28 Jahre hat es gedauert, bis die Wucht der 25 Bände (Band 15 wurde geteilt!) vorliegt; ich war zu faul, die Seitenzahlen aufzuaddieren und ein weiteres Glanzlicht aufscheinen zu lassen.

Diese Nabokov-Ausgabe ist nach Vollständigkeit und Sorgfalt der Kommentierung sicherlich einmalig auf der Welt. Einzig die Gedichte scheinen absichtlich außen vor gelassen worden zu sein, sofern sie nicht in andere Texte eingebettet sind; ich habe bislang keine Stelle finden können, an der der Herausgeber diese Entscheidung erklären würde. Selbst Nabokovs Dramen und seine eher fragwürdigen Vorlesungen zur europäischen Literatur, mit denen Nabokov zahlreiche us-amerikanische Studenten auf diverse Holzwege geschickt hat, wurden neu und ausführlich ediert. Die beiden Bände mit den Erzählungen (13 und 14), die zusammen mit Lolita 1989 die Ausgabe eröffnet hatten, sind 2014 überarbeitet und erweitert neu aufgelegt worden. Man sieht leicht, dass wirklich alle möglichen Anstrengungen unternommen worden sind, die Ausgabe auf ein möglichst hohes Niveau zu bringen, bevor man sie für abgeschlossen und fertig erklären muss.

Bleibt die Frage, ob dieser ganze Aufwand für ein One-Book-Wonder wie Nabokov denn überhaupt gerechtfertigt sei. Hierzu empfehle ich die fortgesetzte Lektüre meiner Besprechungen zu Nabokov oder auch die Lektüre des Romans Pnin, von dem aus sich Nabokov auf ganz und gar andere Weise erschließt als von der zumeist als Missverständnis gelesenem Lolita. Nabokov gehört zu den letzten durch und durch romantischen Autoren der europäischen Erzähltradition – im Sinne der Literaturepoche, nicht in dem der gefühligen Kerzenlicht-Soße –, einer der von der Macht und der Notwendigkeit erfundener Welten für das Wohl der Menschen zutiefst überzeugt war und glaubte, dass die Anspielung der einzige Weg ist, auf dem ein gebildeter Mensch einen Scherz machen sollte.

Vladimir Nabokov: Briefe an Véra. Hg. v. Brian Boyd u. Olga Voronina. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Gesammelte Werke XXIV. Reinbek: Rowohlt, 2017. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1147 Seiten. 40,– €.

Vladimir Nabokov: Das Modell für Laura

978-3-498-04691-0 Entgegen dem Anschein, den der Verlag offensichtlich erwecken möchte, dass es sich bei diesem Buch um einen Roman handelt, ist festzustellen, dass es sich nicht einmal um einen Romanentwurf handelt, sondern nur um Fragmente eines solchen Entwurfs. Es ist die Wiedergabe von 138 Karteikarten, die Nabokov für sein letztes Romanprojekt benutzt hat. Auf diesen Karten finden sich der Entwurf zu einigen Kapiteln, unverbundene Fragmente und Notizen sowie einzelne Wörter. Nabokov hatte verfügt, dass die Karteikarten nach seinem Tode vernichtet werden sollten, und seit dem 2. Juli 1977 gab es einen teils öffentlich teils im Verborgenen geführten Streit darum, ob dieser Verfügung nachzukommen sei oder nicht. Nabokovs Frau jedenfalls ist dem Wunsch nicht nachgekommen, so dass die Karten nach deren Tod in den Besitz des Sohns Dmitri gelangten, der sich nun also endlich entschlossen hat, das Material auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Distanz zwischen dem Vorgelegten und dem daraus zu extrapolierenden Werk ist für den Nicht-Fachmann, geschweige denn für einen normalen Leser in keiner Weise abzuschätzen. Da wir auch bei anderen Werke Nabokovs keine Anhaltspunkte dafür haben, wie weit ein erster Entwurf und das spätere Werk auseinanderlagen, ist eine Beurteilung des Materials, die über die Dokumentation der reinen Kenntnisnahme hinausgeht, kaum möglich. Eine Zusammenfassung des Inhalts des Romanprojekts hat Nabokov selbst geliefert:

Bei Das Modell für Laura handelt sich um die vertrackt komplexe Geschichte eines weltberühmten Neurologen namens Philip Wild – fett, gelehrt, um seine Füße besorgt und mit der jungen Flora verheiratet, die Gegenstand eines meisterlichen Schlüsselromans (‹kiss-and-tell› – küsse sie und rede darüber) mit dem Titel Meine Laura geworden war. Da er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller ist, arbeitet Wild insgeheim an einem Werk, in dem er seine ekstatischen Experimente mit dem Tod beschreibt, nur um von einem gewissen Dr. Aupert – jung, sonnengebräunt und aufgeräumt – zu erfahren, dass er ernstlich krank ist.

Die Präsentation des Materials durch den Rowohlt Verlag ist prätentiös und seitenschindend: Auf jeder Doppelseite stehen sich links die Reproduktion einer Karteikarte und rechts die Übersetzung dieser Karte gegenüber. Nicht nur hätte man ohne Verlust zwei Karten pro Seite wiedergeben, sondern auch die Übersetzung zumindest der ersten Hälfte der Karten als Fließtext präsentieren können. Von der manieristischen Idee, dem Leser die Karteikarten zusätzlich als Kartenset zum Selbstmischen zu liefern, wollen wir hier ganz schweigen.

Insgesamt eine enttäuschende Publikation angesichts der Erwartungen, die seit Jahrzehnten von den Nabokov-Forschern, die Einsicht in das Manuskript hatten, geschürt wurden. Nicht, dass ich dafür plädieren würde, dass man doch besser dem Wunsch Nabokovs nachgekommen wäre, aber den Zirkus, der seit Jahren um diesen Nachlass gemacht wurde, hätte man den Lesern Nabokovs ohne weiteres ersparen können. Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

Valdimir Nabokov: Das Modell für Laura. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer und Ludger Tolksdorf. Reinbek: Rowohlt, 2009. Pappband, Lesebändchen, 319 Seiten. 19,90 €.