Johannes Willms: Mirabeau

Mirabeaus Unglück war nicht seine «unmoralische» Vergangenheit, die er mit vielen Größen der Revolution gemeinsam hatte, als vielmehr seine Zukunft, die ihm seine zahlreichen Talente verhießen. Ebendieses Versprechen, das ihn von den meisten Abgeordneten unterschied, wurde ihm zum Verhängnis.

Mit „Mirabeau“ liefert Johannes Willms nach „Tayl­le­rand“ eine weitere französische Biographie der Re­vo­lu­tions­zeit. Mirabeau stirbt allerdings schon am 2. April 1792, so dass er die Phase des revolutionären Terrors nicht mehr miterleben musste. Mirabeau stammte aus provenzalischem Adel, hatte aber den Großteil seines Lebens mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sein Vater, der selbst ständig in Geldnot war, weigerte sich, ausreichend für den Unterhalt seines verheirateten Sohns zu sorgen, ließ ihn im Gegenteil mehrfach wegen Schuldenmachens festsetzen und sah sich zum Ausgleich in späteren Jahren der öffentlichen literarischen Kritik seines Sohnes ausgesetzt. Mirabeaus Ehe scheiterte exemplarisch, eine einzige wirklich empfundene Liebesaffäre brachte ihm ein Todesurteil ein, dessen Vollstreckung er erfolgreich ausweichen konnte, und er sah sich genötigt, sich längere Zeit als politischer Publizist über Wasser zu halten. Kurz vor Ausbruch der Revolution geht er im Auftrag des französischen Hofes als Spion nach Preussen, aber der anschließend angestrebte Wechsel in den offiziellen diplomatischen Dienst scheitert ebenso wie spätere Versuche, in den Staatsdienst übernommen zu werden.

Im Jahr 1789 erkennt Mirabeau in der Einberufung der Generalstände seine Chance, politischen Einfluss zu gewinnen. Er lässt sich als einer von wenigen Adeligen als Abgeordneter des Dritten Standes in die Ver­samm­lung wählen und nimmt mit entscheidenden Einfluss auf die Umwandlung der Generalstände in die Nationalversammlung. Als Abgeordneter vertritt Mirabeau eine Linie, für die er auch schon zuvor in seinen Schriften geworben hatte: Er hatte bis zu seinem Tod die Vorstellung, Frankreich in eine konstitutionelle Monarchie zu verwandeln, in der der König als Kopf der Exekutive agiert, die legislative Gewalt aber dem Volk in Gestalt der Nationalversammlung übertragen hat und auf sie höchstens in Form eines Vetos Einfluss nimmt. Er begreift aber erst sehr spät, dass er sich mit dieser Position je länger je weiter von den realen politischen Mög­lich­kei­ten entfernt: Die Revolutionäre lehen immer eindeutiger die Idee vom König als vollwertigem Akteur im politischen Prozess ab, während der Hof seine weitgehende politische Tatenlosigkeit wohl mit der illusionären Hoffnung verbindet, eine der revolutionären Krisen zur Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen nutzen zu können. Jedenfalls dämmert es Mirabeau erst sehr spät, dass der König keinerlei Interesse daran hat, mit ihm zusammen Frankreich zu retten und dabei seine gesetzgeberische Gewalt endgültig aufzugeben.

Abgesehen von seiner zunehmenden Unfähigkeit, sich den konkreten politischen Umständen anzupassen, scheitert Mirabeau auch mit seinem anderen Plan, als Minister – möglichst ohne Portefeuille – in die Regierung zu wechseln. Sein erster Versuch wird von der Na­tio­nal­ver­samm­lung dadurch abgestraft, dass man Abgeordneten grundsätzlich die Annahme eines Regierungsamtes verbietet; aber auch von der anderen Seite besteht nur wenig Interesse daran, den Revolutionär Mirabeau in das königliche Kabinett zu übernehmen. Erst in seinen letzten Jahren gelingt es Mirabeau, den Hof wenigstens zeitweise von seiner Ver­trau­ens­wür­dig­keit und politischen Aufrichtigkeit zu überzeugen und sich als Berater des Hofes, sprich: geheimer Zuträger, zu verdingen. Mit diesem heimlichen Wechsel der Fronten gelingt es ihm, auf einen Schlag seine Schulden loszuwerden und zum ersten Mal ein beträchtliches Einkommen zu beziehen. Sofort schlägt sich seine Eitelkeit in einem Lebensstil nieder, der ihn dem Verdacht aussetzt, im Sold des Königs zu stehen. Um diesem Verdacht entgegenzuwirken, sieht er sich gezwungen, sich als radikaler Revolutionär zu gerieren, was ihm wiederum das Mißtrauen des Hofes einträgt. An keiner Stelle scheint ihm der Gedanke gekommen zu sein, sich politisch klug oder auch nur geschickt zu verhalten oder wie ein solches Verhalten hätte aussehen können.

Bei allem rhetorischen Talent und machtpolitischem Instinkt beweist Mirabeau an keiner Stelle seiner Karriere eine wirkliche politische Begabung: Weder ist er zu einer realistischen Einschätzung der sehr dynamischen politischen Situation in Frankreich in der Lage, noch kann er bei auch nur einer einzigen Entscheidung von seinen Eitelkeiten, seinen egoistischen Interessen oder seiner Geld- und Machtgier absehen. All dies scheint von seinen Zeitgenossen auch recht gut begriffen worden zu sein, so dass sich Mirabeau in allen Phasen seiner politischen Laufbahn erheblichem Widerstand gegenüber gesehen hat; niemals aber scheint ihm die Ursache dieses Widerstands aufgegangen zu sein. Es ist nicht ohne Reiz, darüber zu spekulieren, wann und durch wen Mirabeau der Guillotine zugeführt worden wäre, wäre er nicht bereits 1792 verstorben.

Abgesehen von ihrem eher unerfreulichen Gegenstand ist die Biographie durchaus zu empfehlen. Wie immer gelingt Willms eine klar struk­tu­rie­rte und gut lesbare Darstellung, die sich weitgehend einer moralischen Wertung ihres Objektes enthält. Die Gewichtung des biographischen Materials ist der historischen Rolle Mirabeaus angemessen: Etwa die Hälfte des Buches ist den letzten knapp 3 Jahren in Mirabeaus Leben gewidmet. Als einzigen Mangel könnte man empfinden, dass man sich von den gesellschaftlichen Lebensumständen Mirabeaus in seinen letzten Jahren ein nur fragmentarisches Bild machen kann und dass seine Erkrankung und sein Tod überraschend kurz abgehandelt werden.

Johannes Willms: Mirabeau oder Die Morgenröte der Revolution. München: C. H. Beck, 2017. Pappband, 397 Seiten. 26,95 €.

Ian Kershaw: To Hell and Back

Churchill had proposed shooting major criminals as soon as they were caught. Stalin preferred them to be tried first and then shot.

Dass Ian Kershaw einer der hervorragenden Historiker des Zweiten Weltkriegs ist, wurde hier an andere Stelle schon einmal festgestellt. Dem breiteren Publikum ist er durch seine Hitler-Biographie (1998/2000) bekannt geworden; seitdem liefert er mit schöner Re­gel­mä­ßig­keit umfangreiche Bücher zum Zweiten Weltkrieg. Der vorliegende Band behandelt die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (genauer 1914–1949). Es handelt sich um den ursprünglich als Abschluss geplanten 8. Band von Penguins History of Europe, der ursprünglich das gesamte 20. Jahrhundert umfassen sollte. Kershaw hat sich dann aber zwei Bände für den Zeitraum ausgebeten, so dass eine Fortsetzung bis an die Gegenwart heran noch aussteht.

Auch Kershaw folgt dem Konzept des sogenannten kurzen 20. Jahrhunderts (das, wenn ich es richtig sehe, von Eric Hobsbawm populär gemacht wurde), zumindest was den Beginn seiner Darstellung angeht. Es besteht derzeit ein weitgehender Konsens, dass mit dem Ersten Weltkrieg ein radikaler Umbruch stattfand, der so zahlreiche gesellschaftliche und kulturelle Konventionen des 19. Jahrhunderts in Frage stellte, dass mit ihm eine neue Epoche begann. Die Wahl für das Jahr 1949 als Abschluss des ersten Bandes ist darin begründet, dass Kershaw damit die Nachwehen sowie die politischen und sozialen Folgen des Zweiten Weltkrieges noch in den Band aufnehmen kann. So schließt der Band mit den Entwicklungen, die zum Wiederaufstieg Deutschlands im Westen und der Entstehung des Kalten Krieges führen.

Bei aller Kürze (der Band behandelt 35 Jahre der Geschichte aller europäischer Nationen inklusive Russlands bzw. der Sowjetunion auf 520 Seiten) ist die Darstellung ausgezeichnet gewichtet und umfasst nicht nur die großen Linien der politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch soziale und kulturelle Entwicklungen. So ist das Buch wohl auch für diejenigen mit Gewinn zu lesen, die bereits über gute Kenntnisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts verfügen; ich habe etwa die Beschreibung der politischen Rolle der katholischen Kirche in dieser Präzision und Kürze bislang nirgendwo anders gefunden.

Kershaw gelingt einmal mehr eine gut strukturierte und exakte Analyse des komplexen historischen Materials ohne Zuhilfenahme eines groben ideologischen Schemas. Aufgrund von Kershaws klarem Stil ist das Buch sowohl als anspruchsvolle Einführung für historische Laien als auch als auffrischender Überblick für Kenner der Materie zu empfehlen. Man darf auf den zweiten Teil des Buches gespannt sein.

Ian Kershaw: To Hell and Back. Europe, 1914–1949. London: Allen Lane, 2015. Kindle-Edition, 574 Seiten. 10,99 €.

Zur Besprechung des zweiten Bandes Roller-Coaster

Giorgio Agamben: Homo sacer

In der Person des Führers geht das nackte Leben unmittelbar in Recht über, so wie in der Person des Lagerbewohners (oder des neomorts) das Recht ins Unbestimmte des biologischen Lebens übergeht.

Agamben-Homo-sacerHomo sacer – der heilige oder verfluchte Mensch; die Wendung kann beides bedeuten – bezeichnet einen auf den ersten Blick höchst merkwürdigen rechtlichen Status eines Menschen im antiken Rom: Es war ein dem Tode Verschriebener, dessen Leben einerseits nicht mehr den Göttern geopfert werden konnte, der aber andererseits von jedermann straffrei ermordet werden konnte, sprich: Seine Tötung konstituierte kein Verbrechen. Der Homo sacer existierte sozusagen in einem Zwischenreich: Er war ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, er existierte reduziert auf sein bloßes animalisches Vorhandensein, auf das „bloße Leben“, wie es bei Walter Benjamin heißt. (Der Übersetzer des „Homo sacer“ wählt für den von Agamben verwendeten Terminus ‚la nuda vita‘ trotz der offensichtlichen Anspielung auf Benjamin das Wort vom ‚nackten Leben‘ als Übersetzung.)

Ausgehend von diesem religiös-juristischen Konzept der Antike und einer Analyse des Begriffs des Souveräns bei Carl Schmitt als demjenigen, der über den Ausnahmezustand entscheidet, gelangt Agamben in einer weit ausholenden Gedankenbewegung zu erstaunlich klaren Einsichten in die bürgerliche Verfasstheit der modernen Kultur. Es würde nicht nur diese, sondern wahrscheinlich jede Rezension sprengen zu versuchen, diese Denkbewegung nachzuzeichnen: Er kommt nicht nur zu einer fundamentalen Kritik der naiven Auffassung der Menschenrechte als dem Menschen qua Geburt zukommende „ewige metajuridische Werte“, sondern ihm gelingt es über die Denkfigur des Homo sacer auch, den Unbegriff des „Lebensunwerten Lebens“ und die Konstitution des „Lagers“ – nicht nur des Konzentrationslagers, sondern jeglichen Lagers zur „Behandlung“ teilweise oder gänzlich Entrechteter (Flüchtlingslager, Auffanglager, Slums) – und der aus ihm notwendig folgenden Macht- und Unrechtsstrukturen begreifbar zu machen. Wie nebenbei fallen Analysen der Politisierung des privaten Lebens, medizinischer Versuche am Menschen oder der sich ständig fortentwickelnden Definition der Grenze zwischen Leben und Tod ab.

Es kann hier nur behauptet werden, dass Agamben all dies mit vergleichsweise wenigen und einfachen begrifflichen Konzepten erreicht; selbst dort, wo man ihm auf Anhieb zu widersprechen geneigt ist, sind seine Analysen nicht auf schlichte Weise zurückweisbar, sondern bedürfen einer genauen und ausführlichen Antwort. Das beeindruckendste und einsichtsvollste politisch-philosophische Buch, das ich seit wohl zwanzig Jahren gelesen habe.

Giogio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Berlin: Suhrkamp, 2012. eBook (Kindle), 214 Seiten (Print-Ausg.). 11,99 €.

Rene Pfeilschifter: Die Spätantike

Mit aller Macht beförderte Justinian das Heil seiner Untertanen, und sei es mit Gewalt.

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Der chronologisch sechste und letzte Band von Becks „Geschichte der Antike“ – der Band zur klassischen Epoche Griechenlands fehlt derzeit noch – behandelt die Zeit von der Herrschaft Diokletians (284–305) bis zum Aufstieg des Islams zur führenden Macht im Nahen Osten, Nordafrika und auf der iberischen Halbinsel. Erst damit ist für ihn auch im oströmischen Reich die Antike endgültig abgeschlossen. Für Westrom bietet sich als Ende der Antike bereits die Mitte des 6. Jahrhunderts an, nachdem Italien durch die Befreiung von den Ostgoten durch Ostrom wirtschaftlich und kulturell weitgehend entkräftet worden ist.

Der Beginn der Spätantike ist im Wesentlichen durch zwei Veränderungen markiert: Dioklektians Reform des Kaisertums – kurzfristig gibt es zwei Augusti und zwei ihnen nachgeordnete Caesaren im römischen Reich –, die den Anfang von Ende der Einheit des römischen Reiches bildet, zum anderen der Aufstieg des Christentums zur römischen Staatsreligion unter Konstantin (306–337), womit zugleich die Verwerfungen des sich entwickelnden Christentums zur Staatsangelegenheit und damit nicht nur innenpolitisch wirksam werden,  sondern bei denen auch der Kaiser eine bedeutende Rolle als Schlichter oder Mitstreiter spielt.

Für die weitere Entwicklung erweisen sich zudem die zunehmend militärisch aufholenden Nachbarvölker als entscheidend, die das Reich kontinuierlich unter Druck setzen. Zwar gelingt es immer wieder, die entsprechenden Gruppen durch Ansiedlung und Zahlungen zu befrieden, ja sie sogar in die eigenen Legionen einzubinden, doch erweisen sich solche Konstruktionen immer wieder als instabil. Wenn es den Vandalen, Goten oder Franken zu langweilig wird, ziehen sie erneut auf Raub aus und machen Gallien, Spanien oder den Balkan unsicher. Im Osten droht immer aufs Neue das Sasanidenreich, mit dem Frieden nur sporadisch zu halten ist.

Der eigentliche Zusammenbruch beginnt dann, als 476 der germanische Offizier Odoaker von den Germanen der Legion zum König gewählt wird und den letzten weströmischen Kaiser Romulus schlicht absetzt (nicht einmal mit dessen Ermordung hat er sich aufgehalten.) Als der oströmische Kaiser Zenon dann 488 versucht, die ihm lästigen (Ost-)Goten zu instrumentalisieren, um Odoakers Germanen aus Italien zu vertreiben, ersetzt er nur den Teufel durch Beelzebub, denn Theoderich hat wenig besseres zu tun, als sich das befreite Italien als gotisches Königreich zu eigen zu machen. Und als unter Kaiser Justinian (527–565) versucht wird, das Reich noch einmal zu einen, wird Italien derart gründlich in Grund und Boden befreit, dass es von da an für das Reich keine Rolle mehr spielen und eine leichte Beute der Langobarden werden sollte.

Und auch Ostrom kann sich nur unvollkommen halten: Im 7. (und 8.) Jahrhundert geht der Balkan zum Großteil an die von Norden einfallenden Slawen verloren, während man im Osten und in Nordafrika Besitzungen an die aggressiv expandierenden, islamischen Araber verliert. Das verbleibende byzantinische Reich ist nurmehr ein Schatten Ostroms und verliert auch kulturell zunehmend den Kontakt zum ehemaligen römischen Reich. Mit dem Tod Kaiser Herakleios 641 endet bei Pfeilschifter die Epoche der Antike wohl zum spätestmöglichen Zeitpunkt.

Pfeilschifters Darstellung ist – ebenso wie Eichs im Vorgängerband – gut strukturiert und stellt neben der Chronologie der Ereignisse in systematischen Kapiteln die politische und soziale Struktur insbesondere des oströmischen Reichs sowie die komplexe Genese des Christentums auch für den historischen Laien gut nachvollziehbar dar.

Mit diesem sechsten Band ist die Beck’sche Becks „Geschichte der Antike“ abgeschlossen. Mit der Beschränkung auf die griechische und römische Geschichte folgt man einem eher traditionellen Begriff der Antike; man würde sich zur Ergänzung zumindest einen ähnlich gut gemachten Band auch zum alten Ägypten wünschen, eventuell auch mit Ausblicken auf den aktuellen Forschungsstand zu den Phöniziern. In den selbst gesteckten Grenzen kann diese Geschichte der Antike durchweg nur empfohlen werden; ich warte mit Spannung auf den für dieses Jahr angekündigten Band zur klassischen Epoche Griechenlands.

Rene Pfeilschifter: Die Spätantike. Der eine Gott und die vielen Herrscher. C. H. Beck Paperback 6156. München: Beck, 2014. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Armin Eich: Die römische Kaiserzeit

Auch Becks „Geschichte der Antike“ folgt der klassischen Dreiteilung der Geschichte des römischen Imperiums in die Epoche der Republik, die Kaiserzeit und die Spätantike. Während sich die Grenze zwischen Republik und Kaiserreich mehr oder weniger von selbst versteht, kann von einem Ende der römischen Kaiserzeit nur in einem metaphorischen Sinn die Rede sein, da in der Zeit der Spätantike mehr Kaiser das römische Reich beherrscht haben als je zuvor.

Armin Eichs „Die römische Kaiserzeit“ schließt daher nahezu nahtlos an den Vorgängerband an und endet mit der Regierungszeit Kaiser Carus (282–283), also vor der Reform der Institution des Kaisertums unter Diocletian (284–305), umfasst also eine Spanne von etwa 310 Jahren. Eichs Darstellung besticht in allen Stufen der Entwicklung des Reiches in dieser Zeit durch Klarheit und Strukturiertheit, wobei die Kapitel der chronologischen Abfolge der Ereignisse durch solche der systematischen Analyse der politischen und soziologischen Verhältnisse ergänzt werden. Auch inhaltlich erscheint Eichs Geschichte der Kaiserzeit tadellos, wenn auch wahrscheinlich Kleopatra etwas gegen die Behauptung einzuwenden gehabt hätte, Gaius Iulius Caesar habe keine „direkten männlichen Nachkommen“ gehabt.

Erstaunlich und letztlich nur ansatzweise zu erklären bleibt aber immer die Stabilität des römischen Imperiums trotz massiver innen- und außerpolitischer Verwerfungen. Besonders im dritten Jahrhundert bewähert sich das Reich als Reich auch gegen massive Angriffe durch Germannengruppen im Westen und das Sasanidenreich im Osten und der schnellen Abfolge von Kaisern, die oft nach nur kurzer Regierungszeit ermordert und ersetzt werden. Auch wenn man aus heutiger Sicht die Krise bzw. Krisen des 3. Jahrhunderts als Anfang vom Ende der römischen Herrschaft über den Mittelmerraum und Westeuropa deuten kann, so ist dies für die Zeitgenossen alles andere als klar. Im Gegenteil beginnt der oben schon erwähnte Kaiser Carus, nachdem sich die Lage im Westen wieder einigermaßen beruhigt hat, umgehend einen neuen Krieg im Osten, offenbar in der Überzeugung, dass sich auch dort die Verhältnisse der Blütezeit römischer Herrschaft wieder würden etablieren lassen. Wie sehr er damit das Kräfteverhältnis zwischen Rom und seinen Nachbarn untzerschätzt haben sollte, werden aber erst die kommenden Jahrhunderte erweisen.

Armin Eich: Die römische Kaiserzeit. Die Legionen und das Imperium. C. H. Beck Paperback 6155. München: Beck, 2014. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Wolfgang Blösel: Die römische Republik

Es bleibt immer interessant genug, wie sich da im wilden Westen, in Rom wieder einmal so ein Wolfsstaat (wie damals Sparta) brutal groß frißt.

Arno Schmidt

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Der Titel des chronologisch vierten Bandes von Becks „Geschichte der Antike“ bezeichnet ebenfalls den Inhalt bloß pars pro toto, da der Band mit der Frühzeit Roms und der mythischen Königszeit beginnt. Er überschneidet sich natürlich zum Teil mit dem Band zum Hellenismus, was aber aufgrund der auf Rom zentrierten Perspektive nicht weiter stört. Dargestellt wird die Geschichte des römischen Stadtstaates und des aus ihm erwachsenden Reichs von 9. Jahrhundert v.u.Z. bis zur Begründung des monarchischen Prinzipats durch Octavian Anfang 27 v.u.Z.

Dabei setzt Blösel den eigentlichen Untergang der Republik auf das Jahr 43 an, als das 2. sogenannte Triumvirat 300 Senatoren und 2.000 Ritter umbringen lässt, um die eigenen Machtbasis zu stabilisieren. Die verbleibende Oberschicht Roms stellt politisch keine Gefahr für die Triumvirn mehr dar, die wohl alle drei das Bündnis eingegangen sind, um auf diesem Weg letztlich zur Alleinherrschaft nach caesarischem Vorbild gelangen zu können.

Die erste Hälfte des Buches gerät etwas zäh, was sich nicht nur aus der vergleichsweise dünnen Quellenlage ergibt, sondern auch daraus, dass der Autor nicht unbedingt zu den begnadetsten Schriftstellern gehört – „Seine Kontrastierung findet ihre Bestätigung in den Befürchtungen“ lässt sich auf Deutsch auch ein wenig eleganter ausdrücken. Spannender wird es erst mit der Zeit der Gracchen, in der dann auch substanziell über politische Motivationen der Protagonisten spekulieren werden kann. Die Darstellung der Karriere Cäsars, des 1. Triumvirats und seiner Folgen ist untadelig, soweit ich das beurteilen kann, auch wenn Blösels Urteil über Cäsar vielleicht ein wenig negativer ausfällt, als es sein müsste.

Für alle, die sich für die Entstehung des römischen Reichs interessieren, eine knappe und durchweg empfehlenswerte Lektüre, die an den historischen Laien aber – wie auch die Bände zuvor – einige Ansprüche stellt. So werden zum Beispiel die Genese, die Aufgaben- und Machtbereiche der römischen Magistrate (Quästoren, Ädilen, Prätoren und Konsulen) eher beiläufig abgehandelt, so dass sich ein unvorbereiteter Leser über diese Strukturen des römischen Staates wird anderswo systematisch kundig machen wollen.

Was mich bei diesem erneuten Durchgang durch die römische Geschichte vor der Zeitwende mehr als je zuvor erstaunt hat, ist, dass sich das politische System Roms trotz aller Willkür und allen Gewalttaten seiner Mitspieler solange als einigermaßen stabil und – im Sinne der Akteure – funktional erhalten hat. Natürlich erklärt sich das aus einem zufälligen Zusammenspiel von individuellen Eigenschaften der Akteure und unvorhersehbaren Umständen, aber die Idee, dass eine Staatsform ihre Stabilität aus dem Gegeneinander intrinsischer Motivationen Einzelner und der gesellschaftlichen Gruppierungen beziehen kann, solange sich die Gegenspieler wenigstens im Großen und Ganzen an einen bestimmten Satz politischer Regeln halten, ist faszinierend. Das bedeutet nicht, dass das System nicht doch am Ende in ein anderes umschlagen wird, aber was die römische Republik alles aushalten konnte, ohne zu kollabieren, ist und bleibt erstaunlich.

Wolfgang Blösel: Die römische Republik. Forum und Expansion. C. H. Beck Paperback 6154. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Peter Scholz: Der Hellenismus

Niemand hat das Recht zu tun, was er will, doch alles ist zum Besten geordnet.

Ptolemäischer Rechtsgrundsatz

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Der chronologisch dritte Band von Becks „Geschichte der Antike“ – der Band zur Griechischen Klassik soll im kommenden Jahr erscheinen – ist nach dem originellen Band zum archaischen Griechenland eine kleine Enttäuschung. Es ist dem Autor zugutezuhalten, dass es eine undankbare Aufgabe ist, die Geschichte des Hellenismus nachzuzeichnen, da ein Großteil des historischen Stoffs von den Haupt- und Staatsaktionen der Diadochenreiche gebildet wird. In seinem Resümee schreibt Peter Scholz:

Die von Alexander gleichsam begründete, mit seinem Tod einsetzende Epoche des Hellenismus bietet, was die Lektüre der vorangehenden Seiten vermitteln wollte, eine schwer überschaubare Fülle von Herrschern und ihren Familien, von großen Protagonisten und kleinen Akteuren, eine ermüdende Vielzahl kleiner Konflikte und großer Kriege, von Morden an Herrschern und Mitgliedern der jeweiligen Herrscherfamilien, von schwierigen Herrscherwechseln und damit im Zusammenhang stehenden höfischen Intrigen. Aus den zahllosen Einzelereignissen, die kaum Anspruch erheben können, im allgemeinen historischen Gedächtnis zu verbleiben, lassen sich jedoch im Überblick einige besonders charakteristische Merkmale und Errungenschaften des hellenistischen Zeitalters herausarbeiten, die es verdienen, als Merkmale der hellenistischen Geschichte erinnert zu werden. (S. 302 f.)

Leider liegt das Hauptgewicht des Textes nicht auf den „charakteristischen Merkmalen“, die nur zwischendurch auf wenigen Seiten zusammengefasst werden, sondern auf der Auflistung und Nacherzählung eben der „ermüdenden Vielzahl“ jener Daten, die sich in ähnlicher Zusammenstellung auch in jeder anderen Darstellung der Epoche finden lässt.

Scholz beginnt seine Darstellung mit einer ausführlichen Schilderung der Karriere Alexanders III. als Gewaltmensch, wobei das Bild dieses historischen Protagonisten letztlich widersprüchlich bleibt. Während Scholz einerseits bei jeder sich bietenden Gelegenheit Alexanders Egozentrismus betont, kann er es andererseits nicht umgehen, seine innovativen, wenn auch vielleicht ungelenken Versuche zur Vereinigung der griechisch-makedonischen und persischen Kultur zu schildern, die dem Bild des ausschließlich an der Selbststilisierung zum Heros Egomanen widersprechen. Auch Scholz’ These, Alexander habe auf nichtmilitärische Probleme ausschließlich ad hoc und ohne genügendes Gesamtkonzept reagiert, überzeugt nur, wenn man moderne Maßstäbe der Soziologie bzw. politischen Theorie anlegt. Alexanders Gesamtentwurf für sein Reich mag uns unzureichend erscheinen, aber zum einen war etwas ähnliches nie zuvor unternommen worden und zum anderen hatte kein Zeitgenosse jemals auch nur ansatzweise über politische Probleme dieser Größenordnung nachgedacht. Betrachtet man etwa versuchsweise Platons Analyse der Staatsformen als Anhalt für den theoretischen Horizont der Zeit, so kann von Alexander fairerweise kein substantielles Konzept für eine Durchstrukturierung seines Reichs erwartet werden. Reflektiert man gar die Reaktionen von Alexanders Mitstreitern auf seine Annäherung an persische Sitten und Rituale, so kommt man kaum umhin, ihn bei aller Egozentrik immerhin für einen originellen Kopf halten zu müssen, was immer man von seiner allgemeinen Tendenz zu Massenschlächtereien auch sonst halten mag.

Nach Alexanders Tod folgt Scholz all den oben angedeuteten Wirren und Verwicklungen der Geschichte des östlichen Mittelmeerraumes bis zum Aufstieg der Römer als neue Ordnungsmacht. Warum es den Römern gelingt, eine zwar weiterhin fragile, im Vergleich zur Epoche des Hellenismus aber immerhin kontinuierliche Herrschaft im östlichen Mittelmeerraum zu errichten, wird von Scholz nicht mehr im Detail thematisiert. Bei ihm bleibt es bei einer Kritik des wesentlich auf die Person des Königs bezogene Staatsform der hellenistischen Reiche, in der jeder Herrscherwechsel, ja, sogar jeder militärische Erfolg letztlich zu einer immer erneuten Destabilisierung des gesamten internationalen Systems führen. Der Eindruck, der dem Leser bleibt, ist, dass es keinem der Nachfolger Alexanders gelungen ist, auch nur in Ansätzen die Idee zu einer Staatsform zu finden, die nicht wesentlich von dem Individuum an der Spitze und seiner Individualität abhängig ist. Im Primat der staatlichen Struktur über den Herrscher scheint eine der Pointen der Überlegenheit und des Erfolgs der Römer zu bestehen. Mag sein, dass dies die historische Lehre aus dem Chaos des Hellenismus ist.

Peter Scholz: Der Hellenismus. Der Hof und die Welt. C. H. Beck Paperback 6153. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 352 Seiten. 16,95 €.

Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland

Zur Ergänzung von Clives „1177 v. Chr.“ habe ich im Anschluss diesen kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum archaischen Griechenland, also der Zeit zwischen dem Ende der sogenannten Dunklen Jahrhunderte bis zum Beginn der Klassischen Zeit (ca. 800–500 v.u.Z.) gelesen. Die Autorin liefert bewusst keine geschlossene historische Erzählung der Epoche, sondern behandelt sie unter verschiedenen thematischen Aspekten, bei denen sie jeweils die schriftlichen und archäologischen Quellen nebeneinanderstellt und abgleicht.

Es beginnt mit einer kurzen Darstellung der Dunklen Jahrhunderte, deren Umfang in den letzten Jahrzehnten nicht nur bedeutend zusammengeschmolzen ist, sondern die sich inzwischen auch als bei weitem nicht so einheitliches Phänomen präsentieren, wie das noch zu meiner Studienzeit der Fall war. Zwar bleibt der allgemeine Niedergang der sogenannten mykenischen Palastkultur festzustellen, doch das übrige Griechenland bietet in dieser Zeit durchaus kein einheitliches Bild von Kulturverfall oder Isolation von der übrigen Welt des östlichen Mittelmeeres.

Es folgt eine knappe Behandlung der Frage, inwieweit sich in Homers Epen die Darstellung der fiktiven, heldischen Vorzeit und der rezenten Kultur zur Zeit der schriftlichen Fixierung der Epen mischen. Auch wird die Frage kritisch erörtert, wie wahrscheinlich es ist, dass für „Ilias“ und „Odyssee“ eine längere orale Tradierung existierte, bevor sie niedergeschrieben wurden. Anschließend wird die Lebenswelt des archaischen Griechenland anhand der Themenkomplexe Kolonisation, Polis, Bauern, Aristokraten, Tyrannis und Bürgerschaft aufgefächert. Im Zentrum jedes Abschnitts stehen konkrete Fallstudien, in denen für konkrete Orte das Bild der schriftlichen Überlieferung mit den archäologischen Befunden abgeglichen wird. Es entsteht auf diese Weise ein differenzierter Überblick der archaischen Griechen Kultur, Politik und Gesellschaftsstruktur. Der einzige Aspekt, der stets nur am Rande behandelt wird, ist der Krieg als zentrale Form der außenpolitischen Auseinandersetzung. Bis auf diesen einzigen Mangel fand ich die gesamte Darstellung exzellent und jeweils auf den Punkt. Es ist erfreulich zu sehen, dass inzwischen die eher märchenhaft gehaltenen Einführungen, die noch zu meiner Studienzeit durchaus gängig waren und die die Komplexität der antiken Welt prinzipiell verflachten, durch differenzierte und durchweg anspruchsvolle Darstellungen abgelöst wurden.

Das Buch ist in einer leicht akademischen Diktion geschrieben und zielt daher wohl eher auf Leser mit einer historischen oder archäologischen Vorbildung oder einem akademischen Hintergrund. Zahlreiche historische oder archäologische Begriffe werden schlicht als bekannt vorausgesetzt, so dass dem echten Laien das eine oder andere  Nachschlagen während der Lektüre nicht erspart bleiben dürfte. Der Band ist Auftakt einer insgesamt sechsteiligen „Geschichte der Antike“ (von der bis dato fünf Bände erschienen sind); es ist nicht unwahrscheinlich, dass der ein oder andere Band dieser Reihe hier noch besprochen werden wird.

Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland. Die Stadt und das Meer. C. H. Beck Paperback 6151. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 302 Seiten. 16,95 €.

Eric H. Cline: 1177 v. Chr.

Cline-1177vChrEs ist bei populären wissenschaftlichen Sachbüchern eher selten der Fall, dass es ihr Autor wagt, das Wir wissen es nicht als die derzeit gültige Antwort auf ein Problem hinzustellen; umso angenehmer, wenn es einem dann doch hin und wieder begegnet. Eric H. Cline, Direktor des Archäologischen Instituts an der George Washington University, gibt in diesem Buch einen umfassenden Überblick über den derzeitigen Kenntnisstand zu Entstehung und Untergang der bronzezeitlichen Kulturen im östlichen Mittelmeerraum.

Mehr als 300 Jahre lang – von der Herrschaft der Hatschepsut ab ca. 1500 v. Chr. bis zum Zusammenbruch nach 1200 v. Chr. – war das Mittelmeer der späten Bronzezeit Schauplatz einer komplexen internationalisierten Welt, in der Minoer, Mykener, Hethiter, Assyrer, Babylonier, Mitani, Kanaaniter, Zyprer und Ägypter miteinander interagierten. Es war eine kosmopolitische und globalisierte Welt, wie es sie in der Geschichte der Menschheit bis heute nur selten gegeben hat.

Cline macht einsichtig, wie sich über mehrere Jahrhunderte hinweg in diesem Gebiet zahlreiche Kulturen entwickelten und komplexe politische und ökonomische Beziehungen miteinander unterhielten. Er schildert dabei ausreichend detailliert und zugleich für den Laien nachvollziehbar, auf welche archäologischen Funde und schriftlichen Quellen sich unser momentanes Bild dieser Epoche stützt. Dabei findet stets eine ebenso zurückhaltende wie sichere Bewertung der vorgeschlagenen Deutungen der Artefakte statt: Cline nennt eine Spekulation eine Spekulation, eine Vermutung eine Vermutung und eine sichere Erkenntnis eine sichere Erkenntnis. Beim Leser entsteht so zugleich sowohl ein reiches Bild der bronzezeitlichen Welt im Großen als auch ein Bewusstsein davon, auf einer wie schmalen Grundlage von Funden bzw. Quellen dieses Bild basiert.

Das eigentliche Problem oder Rätsel der bronzezeitlichen Welt im Mittelmeerraum stellt aber ihr weitgehender Zusammenbruch im 12. Jahrhundert v.u.Z. dar, dem dann die sogenannten Dunklen Jahrhunderte folgen, bis – insbesondere in Griechenland – eine neue Kultur wieder archäologisch und historisch greifbar wird. Seit dem 19. Jahrhundert wird eine kontinuierliche, wissenschaftliche Diskussion über diesen Zusammenbruch der bronzezeitlichen Zivilisation(en) geführt, wobei dafür abwechselnd barbarische Eroberer (eine von den Griechen der klassischen Zeit selbst vertretene These; leider taugen die von ihnen angezeigten Dorer aufgrund der heute bekannten Faktenlage nicht als Täter), Naturkatastrophen (Erdbeben, Vulkanausbrüche), Klimawandel (Dürre), Hungersnöte, Seuchen (die einzige inzwischen wohl nicht mehr vertretene Erklärung, wenn man ihr Fehlen in Clines Buch als Indiz dafür nehmen darf) oder allgemein humane oder organisatorische Degenerationserscheinungen verantwortlich gemacht wurden.

Leider taugen alle diese Gründe nicht, um jeweils für sich allein den Untergang der Zivilisationen des östlichen Mittelmeerraums zu begründen. Die einzige tatsächlich fassbare Gruppe von Eroberern, die sogenannten Seevölker, deren genaue Herkunft und Zusammensetzung bis heute unklar sind, hat sicherlich einige Unruhe und Zerstörung verursacht, ist aber zu unbedeutend, um den ganzen Kulturraum zu destabilisieren. (Im titelgebenden Jahr 1177 v.u.Z. gab es eine Schlacht zwischen besagten Seevölkern und den Truppen des ägyptischen Pharaos Ramses III., in der die Ägypter siegreich blieben; ansonsten spielt das Jahr keine bedeutende Rolle im Buch und markiert höchstens symbolisch den Zeitpunkt des Untergangs der bronzezeitlichen Welt.) Auch hat es nachweislich in dieser Zeit Erdbeben, Trockenheit und Hungersnöte gegeben, doch auch mit ihren Folgen schien man in der Bronzezeit bereits einigermaßen umgehen zu können. Es wurde daher in den letzten Jahren vorgeschlagen, dass die bronzezeitliche Kultur einfach an sich selbst untergegangen ist: Sie soll so komplex geworden sein, dass es einer Reihe von Ereignissen, die jedes für sich genommen nicht ausgereicht hätten, den Untergang herbeizuführen, in der Kombination gelungen ist, das Gesamtsystem Bronzezeit zum Kollaps zu bringen. Es ist Cline hoch anzurechnen, dass er diese Theorie wie folgt einordnet:

Trotz allem kann es auch sein, dass wir mit der Komplexitätstheorie zur Analyse der Ursachen des Kollapses der Spätbronzezeit lediglich einen wissenschaftlichen (möglicherweise sogar pseudowissenschaftlichen) Begriff auf eine Situation anwenden, über die wir schlichtweg nicht genügend wissen, um überhaupt irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Wer sich einen Überblick über die Hochzeit der Zivilisation des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens in der späten Bronzezeit verschaffen will, dem sei dieses inhaltlich hervorragende, sehr gut lesbare Buch unbedingt empfohlen. Selbst demjenigen, der sich in der Welt der griechischen und ägyptischen Bronzezeit schon einigermaßen auskennt, bietet der präzise und ausgewogene Überblick über die Faktenlage, den Cline liefert, ein so konzises Bild dieser Epoche, wie es sich derzeit geben lässt. Eine der besten Einführungsdarstellungen überhaupt, die ich seit langem gelesen habe.

Eric H. Cline: 1177 v. Chr. Der erste Untergang der Zivilisation. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. Darmstadt: Theiss, 2015. Pappband, 336 Seiten. 29,95 €.

Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution

Sämtliche Revolutionen beruhen zum Teil auf Mythen.

Figes-100-Jahre-Revolution

Orlando Figes, ein renommierter, auf Russland spezialisierter Historiker, möchte auch vom Jubiläum der Oktoberrevolution im Jahr 2017 profitieren und legt mit diesem Buch etwas vorzeitig eine kurze, auf eine breite Leserschaft zielende Darstellung der Entwicklung der Sowjetunion unter Lenin und Stalin vor. Um das Buch dem Anlass anzupassen und für den Markt attraktiv zu machen, wird es zur Geschichte einer einhundert Jahre andauernden Revolution zwischen 1891 (einem russischen Hungerjahr) und 1991 (dem Ende der Sowjetunion) aufgepeppt, unabhängig davon, ob es solch einen konstanten revolutionären Prozess tatsächlich gegeben hat oder nicht.

Das Buch gehört trotz seinem vergleichsweise geringen Umfang in die Kategorie „viel Soße, wenig Fleisch“. Die detailliertere Darstellung der Russischen Revolutionen beginnt mit den Ereignissen im Jahr 1905 und endet im wesentlichen mit Stalins Tod im Jahr 1953 (diese 48 Jahre nehmen etwa 260 der knapp 360 Seiten des Buches in Anspruch). Schon zur Ära Chrustschows weiß Figes kaum noch etwas zu sagen, das über eine Klippschulgeschichte hinausgehen würde. Da er sich zudem weitgehend auf das innenpolitische Geschehen der UdSSR beschränkt, entstehen am Rande Perlen der Geschichtsschreibung wie diese:

Nach dem amerikanischen Versuch, Castros Regierung im April 1961 durch die Schweinebucht-Invasion zu stürzen, begann Chrustschow, der gelobt hatte, Castros Revolution mit Sowjetraketen zu verteidigen, atomare Gefechtsköpfe in unmittelbarer Nähe der USA auf Kuba installieren zu lassen. Damit hatte er jedoch sein Blatt überreizt: Die Raketen wurde von CIA-Spionageflugzeugen entdeckt, und dreizehn Tage lang stand die Welt kurz vor einem Atomkrieg, bis Chrustschow im Oktober 1962 schließlich einlenkte und sich bereit erklärte, die Raketen aus Kuba abzuziehen. Diese Demütigung besiegelte seinen Niedergang und das Ende der Reformen. (S. 311 f.)

Andererseits kann man froh sein, dass die Kuba-Krise überhaupt erwähnt wird und nicht wie etwa der Korea-Krieg oder das komplexe und spannungsreiche Verhältnis der UdSSR zur VR China schlicht unter den Tisch fällt.

Wer wenig Ahnung von Geschichte hat und sich für die Entstehung und die ersten gut drei Jahrzehnte der Sowjetunion unter Lenin und Stalin interessiert, ist mit dem Buch vielleicht gut bedient; allerdings ist man nach der Lektüre einiger Artikel aus der Enzyklopædia Britannica oder auch der Wikipedia wohl besser und konziser informiert. Für alle anderen ist die Lektüre des Buches wohl eher Zeitverschwendung; dass der Autor zudem zu Platituden, wie der oben als Motto zitierten, neigt, hat mir die Lektüre des Buches zusätzlich verleidet. Schade um das Geld und die Zeit.

Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin: Hanser Berlin, 2015. Pappband, Lesebändchen, 383 Seiten. 26,– €.