Paul Scott: Der Skorpion

Nun ja, die Wahrheit ist immer eine Sache, aber in gewisser Weise zählt nur das andere, der Klatsch.

Der zweite Band des Raj Quartets, der mit seiner Handlung unmittelbar an die Ereignisse in „Das Juwel in der Krone“ anschließt. Im Mittelpunkt steht diesmal die Familie Layton oder genauer Sarah Layton, die zusammen mit ihrer jüngerern Schwester Susan als Tochter eines englischen Militärs in Nordindien aufgewachsen ist. Bei einer eher beiläufigen Gelegenheit lernt Sarah Lady Manners kennen, die Tante jenes Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fers aus dem vorangegangenen Band; außerdem befindet sich unter den Freunden des Verlobten ihrer Schwester jener Ronald Merrick wieder, der als Polizeichef die Ermittlungen im Fall der Vergewaltigung geleitet hatte. Im Mittelpunkt von Sarahs Aufmerksamkeit aber steht die Hochzeit Susans mit Teddie Bingham, einem englischen Captain.

Zu Beginn des Romans aber wird die Verhaftung Mohammed Ali Kasims im August 1942 geschildert. Kasim ist ein führender moslemischer Funktionär der Kongresspartei und ehemaliger Ministerpräsident der Provinz Ranpur. Er wird wie viele andere Führer der Kongresspartei von den Engländern verhaftet in der Hoffnung, man könne auf diese Weise den befürchteten Aufständen ihre Anführer nehmen und sie auf diese Weise schon vor ihrem Ausbruch verhindern. Kasim wird von britischen Gouverneur der Provinz das Angebot gemacht, aus der Kongresspartei aus- und in sein Kabinett einzutreten, um sich auf diese Weise die drohende Haft zu ersparen. Kasim lehnt es aber ab, sich auf diese Weise instrumentalisieren zu lassen, und geht mit zumindest äußerlich stoischer Haltung in die luxuriöse Einzelhaft, die man ihm zugesteht. Dieser Abschnitt der Erzählung, der über einen der Söhne Kasims, Achmed, eher locker mit der Geschichte der Laytons verknüpft ist, dient Scott dazu, in dem langen Gespräch zwischen Kasim und dem Gouverneur die im ersten Band eher am Rande vorkommenden politischen Hintergründe ausführlicher vorführen zu können.

In einem zweiten Nebenstrang des Romans liefert Scott Material zu dem Fall der Vergewaltigung Daphne Manners nach: Sowohl der ehemalige Polizeichef Merrick als auch der Geliebte Daphnes, Hari Kumar, kommen ausführlich zu Wort und schildern den Fall und seine Umstände aus ihrer jeweiligen Sicht. Hierbei handelt es sich um Material, das eigentlich in den ersten Band gehört, dort aber den Rahmen des Buches gesprengt hätte, ohne etwas Wesentliches zu der Darstellung des Falles beizutragen. Dies bleibt leider auch in diesem zweiten Roman der zentrale Mangel dieses Stoffs: Die erneute Durcharbeitung der Vorgeschichte der Vergewaltigung und die ausführlicher Motivierung der beiden Akteure Merrick und Kumar, die sich beide um die Liebe Daphnes bemüht hatten, bringt nichts Neues: Merrick erweist sich als genau der britische Holzkopf, den man im ersten Band schon in ihm erkennen konnte, und Kumar schafft es nicht, auch nur ein einziges Detail beizusteuern, das einen aufmerksamen Leser des ersten Bandes überraschen würde. Hier wird breitgetreten, was im ersten Band so vorteilhaft auf sich beruhen durfte.

Leider muss ich feststellen, dass sich meine Enttäuschung über „Das Juwel in der Krone“ bei der jetzigen Lektüre nur fortgesetzt hat: Scott ist es nicht gelungen, mich für seine Figuren mehr als beiläufig zu interessieren. Das liegt hauptsächlich daran, dass keine seiner Figuren mehrdimensional oder offen für Entwicklung erscheint. Selbst die beiden differenziertesten Figuren, Ali Kasim und Sarah Layton, ragen nicht über ihre Funktion in der Konstruktion des Textes hinaus. Alles an ihnen ist brav und klug erfunden und dient den Absicht des Autors, aber ihnen wird kein Überschuss mitgegeben, der aus ihnen Personen anstatt nur Figuren werden lässt. Am enttäuschendsten sind dabei Merrick und Kumar, die im ersten Band so etwas wie verhinderte Rivalen waren: Ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung und das Missverhältnis der Macht, die Merrick über Kumar auszuüben in der Lage ist, verhindern eine tatsächliche Rivalität. Daphne Manners verliebt sich in Kumar und weist Merrick ab (Kumar gewinnt), Merrick verhaftet Kumar und wirft ihn nach einer in der Sache gänzlich nutzlosen Nacht der Folter ins Gefängnis (Merrick gewinnt). Dieses Missverhältnis kann nirgends und für nichts erzählerisch fruchtbar gemacht werden, was dazu führt, dass sich im zweiten Band diese beiden Figuren auch nicht für einen einzigen Augenblick begegnen können. Ihre beiden Binnenerzählungen müssen unvermittelt nebeneinander stehen bleiben. Das soll nicht als Vorwurf an den Autor verstanden werden, sondern ist nur die Einsicht in die Konsequenzen aus den soziologischen und politischen Bedingungen des Erzählten. Durch die Einsicht in diese Bedingtheit werden aber leider weder die Figuren noch das Erzählte besser.

Ich werde daher die Lektüre des Raj Quartets mit diesem Band abbrechen, da ich nicht die Hoffnung hege, dass die weiteren Bände, die einen ähnlichen Umfang haben, eine Besserung der Lage bringen werden. Die Reihe ist für jemanden, dem die sozialen und politischen Verhältnisse in Indien in den 40-er Jahren nicht oder nur wenig geläufig sind, vielleicht von einigem Interesse; literarisch aber springt sie leider um ein Weniges zu kurz.

Paul Scott: Der Skorpion. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72128. München: Goldmann, 1997. Broschur, 608 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Paul Scott: Das Juwel in der Krone

Paul Scott (1920–1978) darf in Deutschland als unbekannter Autor gelten und das, obwohl gleich acht seiner Romane ins Deutsche übersetzt wurden: In den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts zwei bei Kiepenheuer & Witsch sowie einer bei Blanvalet; dann von 1985 an sein Raj-Quartet, das zwischen 1965 und 1975 entstanden ist, und zusätzlich den Nachzügler zu dieser Tetralogie, der 1977 sogar den Booker-Preis gewann, den der schon sehr kranke Autor aber leider nicht mehr entgegennehmen konnte. Die fünf zuletzt genannten Bände legte 1997/1998 Goldmann noch einmal im Taschenbuch vor, um Scott damit in die erneute Vergessenheit zu verabschieden.

Ich habe „Das Juwel in der Krone“, den ersten Band des Raj-Quartets, vor 20 Jahren auf eine Empfehlung hin gelesen, und seitdem immer vorgehabt, die Reihe komplett zur Kenntnis zu nehmen. Nun habe ich mich innerlich verpflichtet gefühlt, dem doch noch nachzukommen, bevor ich die Bände wegen des eklatanten Platzmangels in der Bibliothek aussortiere, und habe daher erneut mit diesem Auftaktband begonnen.

Die Handlung spielt im Wesentlichen im Jahr 1942 in der erfundenen nordindischen Stadt Majapur. Den Kern bilden einige wenige Tage im August, nachdem die Cripp’s Mission gescheitert ist und Gandhi den Konflikt mit der britischen Obrigkeit bewusst verschärft. Auch in Majapur und Umgebung kommt es zu Unruhen: Die Leiterin einer Missionsschule wird auf einer Inspektionsfahrt zu einer ihrer Schulen von einer Gruppe Aufständiger überfallen, und dabei wird ein indischer Lehrer getötet. Und es kommt unter anderem in Majapur zur Vergewaltigung einer Engländerin in einem Park durch eine Gruppe von Indern; besonders dieser Vorfall ist in seinen Umständen sehr komplex, und es benötigt das gesamte Buch, bis dem Leser die tatsächlichen Abläufe und ihre Folgen klar sind.

Neben den in diese Ereignisse direkt verwickelten Figuren weist der Roman eine ganze Reihe weiterer Hauotpersonen auf, die dem Geschehen mehr oder weniger nahestehen: der örtlichen Polizeichef, der der später vergewaltigten Engländerin einen Heiratsantrag macht, aber abgewiesen wird, eine reiche Inderin, bei der die junge Engländerin wohnt, und die stellvertretend das aus Sicht der Engländer gesellschaftsfähige Indien repräsentiert, eine russische Emigantin, die ein Hospiz für diejenigen betreibt, die sonst auf der Straße sterben würden, einen jungen Inder, der in England aufgewachsen ist und nach Bankrott und Suizid seines Vaters nach Indien zurückgekehren musste, nur um sich dort als doppelter Außenseiter wiederzufinden, der militärische Anführer und der Chef der zivilen Verwaltung und noch einige mehr.

Scott hat für seine komplexe Schilderung der sozialen Verhältnisse, die den eigentlichen Gehalt des Buches darstellen, und der Ereignisse während der Tage des Aufstandes eine sich langsam fortentwickelnde Erzählform erfunden, die als auktoriale Erzählung zu beginnen scheint, sich aber zunehmend in den Bericht eines namenlosen Erzählers verwandelt, der versucht, die Umstände der Vergewaltigung zu rekonstruieren. So liefert das Buch in der zweiten Hälfte nicht nur Briefe der Figuren, sondern auch Auszüge aus biografischen Erinnerungen, die Niederschrift eines Interviews, Auszüge aus dem Tagebuch des Opfers etc. pp.

Insgesamt muss ich leider sagen, dass dem Roman die Zweitlektüre nicht unbedingt gut getan hat: Wenn der Leser einmal um die Umstände der Vergewaltigung weiß, ist ein wichtiges Spannungselement des Romans verschwunden, so dass mir besonders die ersten zwei Drittel diesmal einige Mühe gemacht haben. Ich schreibe das aber komplett der erneuten Lektüre zu, so dass man sich von einer ersten dadurch nicht abhalten lassen sollte. Ich hoffe, es gelingt mir in der nächsten Zeit einigermaßen zügig die anderen Bände folgen zu lassen.

Paul Scott: Das Juwel in der Krone. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72102. München: Goldmann, 1997. Broschur, 669 Seiten. Nicht mehr lieferbar.