Paul Scott: Der Skorpion

Nun ja, die Wahrheit ist immer eine Sache, aber in gewisser Weise zählt nur das andere, der Klatsch.

Der zweite Band des Raj Quartets, der mit seiner Handlung unmittelbar an die Ereignisse in „Das Juwel in der Krone“ anschließt. Im Mittelpunkt steht diesmal die Familie Layton oder genauer Sarah Layton, die zusammen mit ihrer jüngerern Schwester Susan als Tochter eines englischen Militärs in Nordindien aufgewachsen ist. Bei einer eher beiläufigen Gelegenheit lernt Sarah Lady Manners kennen, die Tante jenes Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fers aus dem vorangegangenen Band; außerdem befindet sich unter den Freunden des Verlobten ihrer Schwester jener Ronald Merrick wieder, der als Polizeichef die Ermittlungen im Fall der Vergewaltigung geleitet hatte. Im Mittelpunkt von Sarahs Aufmerksamkeit aber steht die Hochzeit Susans mit Teddie Bingham, einem englischen Captain.

Zu Beginn des Romans aber wird die Verhaftung Mohammed Ali Kasims im August 1942 geschildert. Kasim ist ein führender moslemischer Funktionär der Kongresspartei und ehemaliger Ministerpräsident der Provinz Ranpur. Er wird wie viele andere Führer der Kongresspartei von den Engländern verhaftet in der Hoffnung, man könne auf diese Weise den befürchteten Aufständen ihre Anführer nehmen und sie auf diese Weise schon vor ihrem Ausbruch verhindern. Kasim wird von britischen Gouverneur der Provinz das Angebot gemacht, aus der Kongresspartei aus- und in sein Kabinett einzutreten, um sich auf diese Weise die drohende Haft zu ersparen. Kasim lehnt es aber ab, sich auf diese Weise instrumentalisieren zu lassen, und geht mit zumindest äußerlich stoischer Haltung in die luxuriöse Einzelhaft, die man ihm zugesteht. Dieser Abschnitt der Erzählung, der über einen der Söhne Kasims, Achmed, eher locker mit der Geschichte der Laytons verknüpft ist, dient Scott dazu, in dem langen Gespräch zwischen Kasim und dem Gouverneur die im ersten Band eher am Rande vorkommenden politischen Hintergründe ausführlicher vorführen zu können.

In einem zweiten Nebenstrang des Romans liefert Scott Material zu dem Fall der Vergewaltigung Daphne Manners nach: Sowohl der ehemalige Polizeichef Merrick als auch der Geliebte Daphnes, Hari Kumar, kommen ausführlich zu Wort und schildern den Fall und seine Umstände aus ihrer jeweiligen Sicht. Hierbei handelt es sich um Material, das eigentlich in den ersten Band gehört, dort aber den Rahmen des Buches gesprengt hätte, ohne etwas Wesentliches zu der Darstellung des Falles beizutragen. Dies bleibt leider auch in diesem zweiten Roman der zentrale Mangel dieses Stoffs: Die erneute Durcharbeitung der Vorgeschichte der Vergewaltigung und die ausführlicher Motivierung der beiden Akteure Merrick und Kumar, die sich beide um die Liebe Daphnes bemüht hatten, bringt nichts Neues: Merrick erweist sich als genau der britische Holzkopf, den man im ersten Band schon in ihm erkennen konnte, und Kumar schafft es nicht, auch nur ein einziges Detail beizusteuern, das einen aufmerksamen Leser des ersten Bandes überraschen würde. Hier wird breitgetreten, was im ersten Band so vorteilhaft auf sich beruhen durfte.

Leider muss ich feststellen, dass sich meine Enttäuschung über „Das Juwel in der Krone“ bei der jetzigen Lektüre nur fortgesetzt hat: Scott ist es nicht gelungen, mich für seine Figuren mehr als beiläufig zu interessieren. Das liegt hauptsächlich daran, dass keine seiner Figuren mehrdimensional oder offen für Entwicklung erscheint. Selbst die beiden differenziertesten Figuren, Ali Kasim und Sarah Layton, ragen nicht über ihre Funktion in der Konstruktion des Textes hinaus. Alles an ihnen ist brav und klug erfunden und dient den Absicht des Autors, aber ihnen wird kein Überschuss mitgegeben, der aus ihnen Personen anstatt nur Figuren werden lässt. Am enttäuschendsten sind dabei Merrick und Kumar, die im ersten Band so etwas wie verhinderte Rivalen waren: Ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung und das Missverhältnis der Macht, die Merrick über Kumar auszuüben in der Lage ist, verhindern eine tatsächliche Rivalität. Daphne Manners verliebt sich in Kumar und weist Merrick ab (Kumar gewinnt), Merrick verhaftet Kumar und wirft ihn nach einer in der Sache gänzlich nutzlosen Nacht der Folter ins Gefängnis (Merrick gewinnt). Dieses Missverhältnis kann nirgends und für nichts erzählerisch fruchtbar gemacht werden, was dazu führt, dass sich im zweiten Band diese beiden Figuren auch nicht für einen einzigen Augenblick begegnen können. Ihre beiden Binnenerzählungen müssen unvermittelt nebeneinander stehen bleiben. Das soll nicht als Vorwurf an den Autor verstanden werden, sondern ist nur die Einsicht in die Konsequenzen aus den soziologischen und politischen Bedingungen des Erzählten. Durch die Einsicht in diese Bedingtheit werden aber leider weder die Figuren noch das Erzählte besser.

Ich werde daher die Lektüre des Raj Quartets mit diesem Band abbrechen, da ich nicht die Hoffnung hege, dass die weiteren Bände, die einen ähnlichen Umfang haben, eine Besserung der Lage bringen werden. Die Reihe ist für jemanden, dem die sozialen und politischen Verhältnisse in Indien in den 40-er Jahren nicht oder nur wenig geläufig sind, vielleicht von einigem Interesse; literarisch aber springt sie leider um ein Weniges zu kurz.

Paul Scott: Der Skorpion. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72128. München: Goldmann, 1997. Broschur, 608 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Paul Scott: Das Juwel in der Krone

Paul Scott (1920–1978) darf in Deutschland als unbekannter Autor gelten und das, obwohl gleich acht seiner Romane ins Deutsche übersetzt wurden: In den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts zwei bei Kiepenheuer & Witsch sowie einer bei Blanvalet; dann von 1985 an sein Raj-Quartet, das zwischen 1965 und 1975 entstanden ist, und zusätzlich den Nachzügler zu dieser Tetralogie, der 1977 sogar den Booker-Preis gewann, den der schon sehr kranke Autor aber leider nicht mehr entgegennehmen konnte. Die fünf zuletzt genannten Bände legte 1997/1998 Goldmann noch einmal im Taschenbuch vor, um Scott damit in die erneute Vergessenheit zu verabschieden.

Ich habe „Das Juwel in der Krone“, den ersten Band des Raj-Quartets, vor 20 Jahren auf eine Empfehlung hin gelesen, und seitdem immer vorgehabt, die Reihe komplett zur Kenntnis zu nehmen. Nun habe ich mich innerlich verpflichtet gefühlt, dem doch noch nachzukommen, bevor ich die Bände wegen des eklatanten Platzmangels in der Bibliothek aussortiere, und habe daher erneut mit diesem Auftaktband begonnen.

Die Handlung spielt im Wesentlichen im Jahr 1942 in der erfundenen nordindischen Stadt Majapur. Den Kern bilden einige wenige Tage im August, nachdem die Cripp’s Mission gescheitert ist und Gandhi den Konflikt mit der britischen Obrigkeit bewusst verschärft. Auch in Majapur und Umgebung kommt es zu Unruhen: Die Leiterin einer Missionsschule wird auf einer Inspektionsfahrt zu einer ihrer Schulen von einer Gruppe Aufständiger überfallen, und dabei wird ein indischer Lehrer getötet. Und es kommt unter anderem in Majapur zur Vergewaltigung einer Engländerin in einem Park durch eine Gruppe von Indern; besonders dieser Vorfall ist in seinen Umständen sehr komplex, und es benötigt das gesamte Buch, bis dem Leser die tatsächlichen Abläufe und ihre Folgen klar sind.

Neben den in diese Ereignisse direkt verwickelten Figuren weist der Roman eine ganze Reihe weiterer Hauotpersonen auf, die dem Geschehen mehr oder weniger nahestehen: der örtlichen Polizeichef, der der später vergewaltigten Engländerin einen Heiratsantrag macht, aber abgewiesen wird, eine reiche Inderin, bei der die junge Engländerin wohnt, und die stellvertretend das aus Sicht der Engländer gesellschaftsfähige Indien repräsentiert, eine russische Emigantin, die ein Hospiz für diejenigen betreibt, die sonst auf der Straße sterben würden, einen jungen Inder, der in England aufgewachsen ist und nach Bankrott und Suizid seines Vaters nach Indien zurückgekehren musste, nur um sich dort als doppelter Außenseiter wiederzufinden, der militärische Anführer und der Chef der zivilen Verwaltung und noch einige mehr.

Scott hat für seine komplexe Schilderung der sozialen Verhältnisse, die den eigentlichen Gehalt des Buches darstellen, und der Ereignisse während der Tage des Aufstandes eine sich langsam fortentwickelnde Erzählform erfunden, die als auktoriale Erzählung zu beginnen scheint, sich aber zunehmend in den Bericht eines namenlosen Erzählers verwandelt, der versucht, die Umstände der Vergewaltigung zu rekonstruieren. So liefert das Buch in der zweiten Hälfte nicht nur Briefe der Figuren, sondern auch Auszüge aus biografischen Erinnerungen, die Niederschrift eines Interviews, Auszüge aus dem Tagebuch des Opfers etc. pp.

Insgesamt muss ich leider sagen, dass dem Roman die Zweitlektüre nicht unbedingt gut getan hat: Wenn der Leser einmal um die Umstände der Vergewaltigung weiß, ist ein wichtiges Spannungselement des Romans verschwunden, so dass mir besonders die ersten zwei Drittel diesmal einige Mühe gemacht haben. Ich schreibe das aber komplett der erneuten Lektüre zu, so dass man sich von einer ersten dadurch nicht abhalten lassen sollte. Ich hoffe, es gelingt mir in der nächsten Zeit einigermaßen zügig die anderen Bände folgen zu lassen.

Paul Scott: Das Juwel in der Krone. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72102. München: Goldmann, 1997. Broschur, 669 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Richard Ford: Frank

»Ich frage mich, wenn man ein Buch schreibt, woher weiß man, wann es vollendet ist? Weiß man das im Voraus? Ist das immer klar? Mir ist das ein Rätsel. Nichts, was ich je gemacht habe, lief auf ein Ende zu.«

Ford-FrankRichard Ford hat die nach seinen eigenen Worten abgeschlossene Frank-Bascombe-Trilogie um ein weiteres Buch ergänzt. Der deutsche Verlag hat klugerweise darauf verzichtet, das Buch mit einer Gattungsbezeichnung zu versehen, denn weder handelt es sich im eigentlichen Sinn um einen Roman, noch sind es vier voneinander unabhängige Erzählungen, die Ford hier präsentiert: Erzählt wird von knapp zwei Wochen Ende 2012. In New Jersey hat vor ein paar Wochen der Hurrikan Sandy gerade da Trümmer hinterlassen, wo Frank Bascombe noch zehn Jahre zuvor gewohnt hat. An seinem jetzigen (und frühere) Wohnort Haddam ist nicht viel passiert, aber das erste Kapitel bringt ihn zurück zu seinem Haus in Sea-Clift, nordöstlich von Atlantic City, um zusammen mit dem Käufer die Überreste seines ehemaligen Hauses zu inspizieren. Das zweite Kapitel schildert eine Begegnung Franks mit einer ehemaligen Bewohnerin seines jetzigen Hauses, die als junges Mädchen nur durch Zufall der Ermordung durch ihren eigenen Vater entgangen ist, der in dem Haus, das jetzt Frank gehört, erst seine Frau und seinen Sohn und schließlich auch sich selbst erschossen hat. Im dritten Teil besucht Frank seine Ex-Frau Ann, die inzwischen auch wieder in Haddam lebt, an Parkinson leidet und sich mit ihrem Mann immer noch nicht wieder versteht. Und schließlich besucht Frank einen todkranken alten Freund, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat und der glaubt, Frank kurz vor dem Tod noch beichten zu müssen, dass er mit Ann geschlafen habe, als sie und Frank noch verheiratet waren.

Das Thema aller dieser Episoden sind Sterben und Tod. Frank Bascombe ist inzwischen 67 Jahre alt (auch wenn er behauptet, er sei 68), er macht sich Sorgen, er könne an Alzheimer leiden, verweigert aber den entsprechenden Test (ein wenig vergesslich ist er auf jeden Fall, aber das muss ja nichts schlimmes bedeuten). Auch ist er körperlich nicht mehr der Fitteste, hat dann und wann Schwindelanfälle und fürchtet sich davor, zu stürzen und sich etwas zu brechen. War der Tenor der früheren Bücher die kontinuierliche Verwandlung Franks, so ist es diesmal das Nachlassen und langsame Verschwinden aus der Welt. Doch bleibt Frank wie schon früher alles in allem ziemlich gelassen:

Der alte Henry James hielt den Tod für ein »bedeutsames« Ereignis. Ich bin mir sicher, das ist er nicht.

Sehr hübsch ist die Wendung, die das Buch noch auf den letzten Seiten nimmt, aber das sollen die Leser ruhig selbst entdecken.

Das Buch ist trotz seiner Kürze (es hat nur ein gutes Drittel des Umfangs der Vorläufer-Romane) nicht ohne Längen (insbesondere das dritte Kapitel fand ich zäh), und Frank schafft es auch auf der kurzen Strecke wieder, seinen Mitmenschen und dem Leser auf die Nerven zu gehen. Oder, um es mit den Worten seiner Tochter Clarisse zu sagen:

»Sei zur Abwechslung mal kein Arschloch, Frank. Sie stirbt.«

Wer sich mit Frank Bascombe trotz allem irgendwann einmal angefreundet hat, sollte dieses Buch auf keinen Fall verpassen. Was ich nicht recht einzuschätzen vermag, ist der Eindruck auf Leser, die Frank mit diesem Buch zum ersten Mal begegnen. Aber das muss ich ja vielleicht auch gar nicht können.

Richard Ford: Frank. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Berlin: Hanser Berlin, 2015. Pappband, 223 Seiten. 19,90 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 4

Nun fing ich an, wegzugehen.

Johnson-Jahrestage-4Erst 1983, also zehn Jahre nach dem dritten Band, erschien der Abschluss der „Jahrestage“. Wahrscheinlich wäre der Roman aufgrund Lebenskrise Johnsons nicht zu Ende geschrieben worden, hätten den Autor nicht massive finanzielle Probleme zu dem Versuch gezwungen, an den Erfolg der früheren Bände anzuschließen. Das Erscheinen des Bandes wurde denn auch entsprechend aktiv vom Verlag beworben, so dass der Band als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Buchmesse 1983 wahrgenommen wurde.

Inhaltlich schließt auch dieser Band nahtlos an den Vorgänger an. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema des Kriegs in Viet Nam (um Johnsons Schreibweise zu übernehmen) in den Hintergrund tritt. Ob dies einer bewussten poetologischen Entscheidung des Autors geschuldet ist oder schlicht der Tatsache, dass dieser Krieg nach 10 Jahren im Bewusstsein des Autors schlicht an Bedeutung verloren hat, kann auf die Schnelle nicht entschieden werden. Die Erzählung der Nachkriegszeit setzt den Schwerpunkt auf die Schulkarriere Gesines unter den politischen und ideologischen Bedingungen der frühen DDR – hier ist ein Glanzstück die Behandlung von Fontanes „Schach von Wuthenow“ im Deutschunterricht der „Elf A Zwei“ (2. August 1968 ff.) –, die alles andere als harmlos verläuft, sondern gleich mehrere politische Prozesse gegen Schüler umfasst. Heinrich Cresspahl, der im Mai 1948 als körperlich gebrochener, kranker Mann aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt, bleibt im letzten Teil der Erzählung nur eine Nebenfigur. Die Chronologie des Lebens Gesines in der Nachkriegszeit wird gegen Ende des Buches in einem eher summarischen Verfahren bis an den Beginn der erzählerischen Jetztzeit herangeführt und so das Ende mit dem Anfang des Buches zu einem Zirkel geschlossen.

Die zwei Monate des Jahres 1968, die erzählt werden, sind hauptsächlich bestimmt vom Näherrücken des 21. August, an dem Gesine in Prag ihrer neue Stelle antreten soll. Die Entwicklung hin zur Zerschlagung des Prager Frühlings wird täglich der New York Times entnommen, wobei Gesine bis zum Ende optimistisch bleibt, dass das Prager Experiment eines humanen, demokratischen Sozialismus gelingen könnte.

Allerdings hat auch dieser Band seinen zentralen Todesfall: Gesines Geliebter D.E., den zu heiraten sie sich inzwischen entschlossen hatte, stirbt bei einem Absturz mit einer Cessna, die er selbst flog, in Finnland. Gesine verheimlicht diesen Todesfall ihrer Tochter, da sie befürchtet, Marie würde sich ansonsten weigern, mit nach Europa zu kommen. Sie selbst beherrscht ihre Trauer nach wenigen Tagen; von ihrer Bank wegen des Trauerfalls freigestellt, reist sie mit Marie in einer Art Abschiedstournee durch verschiedene Städte der USA.

Das Buch endet mit einem Treffen zwischen Gesine und Dr. Kliefoth, ihrem ehemaligen Lehrer und Schulrektor, am 20. August 1968 in Kopenhagen. Johnson lässt offen, ob Gesine tatsächlich am nächsten Tag in Prag in die Wirren des beginnenden Endes des Prager Frühlings gerät. Spekulieren darf der Leser aber, dass ihr die Wiederholung auch dieses Musters (man bedenke die Rückkehr ihres Vaters ins nationalsozialistischen Deutschland) nicht erspart bleiben wird.

Auch nach der zweiten Lektüre, die diesmal in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen wurde als beim ersten Mal (von den Veränderungen des Lesers in 30 Jahren wollen wir schweigen), bleibt dies einer der ganz großen Zeitromane der deutschen Literatur. Johnsons Fähigkeit, nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern zugleich seine Verflechtung mit und Bedingtheit durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu erzählen, macht die „Jahrestage“ nicht nur zu einem bedeutenden Roman, sondern auch zu einem einmaligen Dokument deutscher Lebenswirklichkeit.

Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Juni 1968 – August 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 814 KB. 11,99 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 3

Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir uns gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.

Johnson-Jahrestage-3Der dritte Band der „Jahrestage“ ist der schmalste der Tetralogie und markiert die Lebens- und Schreibkrise in Johnsons Leben. Er umfasst nur zwei Monate aus dem Leben der Protagonistin im Jahr 1968 statt der vier der beiden vorangegangenen Bände. In Gesines Leben gibt es keine bedeutenden Änderungen: Sie beobachtet auch weiterhin im Auftrag der Bank, bei der sie angestellt ist, die Entwicklung in der ČSSR zu dem Ende, dass sie als Vertreterin der Bank nach Europa wechseln soll.

Für ihre Tochter Marie sind es Monate der politischen Desillusionierung: Ihr Idol John Vliet Lindsay, der Bürgermeister von New York, fällt bei ihr als Opportunist in Ungnade, und auch ihre Trauer um den am 5. Juni 1968 niedergeschossenen und tags darauf verstorbenen New Yorker Senator und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy wird erheblich getrübt durch ihre Einsicht in die Inszenierung dieses Todes durch Politik und Familie. Marie ist zudem gegen den bevorstehenden Umzug nach Europa und will ihre Mutter zum Bleiben in den USA überreden, indem sie ihr ein Haus und eine geruhsame Zukunft verspricht, sobald sie selbst Geld verdienen wird.

Ganz kurz taucht an einem Urlaubswochenende mit zwei Kolleginnen aus der Bank die Alternative einer Frauen-WG vor den Toren New Yorks auf, die es Marie eventuell ermöglichen würde, in den Staaten zu bleiben, während ihre Mutter in Europa arbeitet, doch zerschlägt sich dieser Plan nach kurzer Zeit, weil eine der Frauen doch wieder zu ihrem Mann zurückkehrt. Und auch die Beziehung zwischen Gesine und dem bislang wohl noch gar nicht erwähnten D. E., bürgerlich Professor Dietrich Erichson, einem für die Rüstungsindustrie tätigen Physiker Mecklenburger Herkunft, der Gesine regelmäßig Heiratsanträge macht, die anzunehmen sie sich fürchtet, da sie ihrer eigenen Befähigung zu einem bürgerlich ruhigen Leben misstraut, macht keine wirklichen Fortschritte.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Leben Heinrich Cresspahls im Nachkriegsdeutschland dramatisch: Zwar übt er auch unter der russischen Besatzung zunächst weiterhin das Amt des Bürgermeisters von Jerichow aus, doch wird er eines Tages aus für ihn nicht durchschaubaren Gründen verhaftet, wochenlang verhört und schließlich ins Lager Fünfeichen überführt und dort anscheinend vergessen. Die dreizehnjährige Gesine lebt nun im väterlichen (eigentlich eigenem) Haus unter der Aufsicht von Jakob Abs und seiner Mutter, ist in Jakob verliebt, ohne es ihm zu zeigen, besucht wieder die Schule und versucht, ohne ihre wichtigste Vertrauensperson, ihren Vater in den ärmlichen Zeiten zurechtzukommen. Der Band schließt mit der Beschreibung des Wiederaufbaus nicht nur der Infrastruktur der russischen Besatzungszone, sondern auch des politischen Lebens durch von der Besatzungsmacht angeregte Gründungen von bürgerlichen Parteien, die die Entstehung eines deutschen Sozialismus vorbereiten sollen.

Uwe Johnson: Jahrestage 3. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. April 1968 – Juni 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1973. Leinen, Fadenheftung, 357 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 593 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Uwe Johnson: Jahrestage (1)

Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.

Johnson-Jahrestage-1Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich Uwe Johnsons „Jahrestage“ in meinem ersten Semester an der Universität Tübingen. Da kam der Autor zu seiner allerletzten öffentlichen Lesung, denn zur Buchmesse war endlich der vierte und abschließende Band des Romans erschienen, und Johnson las in einem der großen Hörsäle im Tübinger Brechtbau vor einem übervollen Haus aus den Abschnitten, in denen Gesine Cresspahl von ihrem Deutschunterricht und Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ erzählt. Anschließend wollte oder konnte kein einziger der Zuhörer auch nur eine einzige Frage stellen – mir ist bis heute nicht so ganz genau klar, warum nicht –, so dass sich Johnson selbst was fragte und es beantwortete. Ich vermute fast, es ist ihm im Leben oft so ergangen.

Danach habe ich mir die vier Bände, die es damals noch nur im Leineneinband gab, peu à peu zugelegt und mich hineingelesen in die Welt und die Tage der Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, die – darauf bestand ihr Autor bei allen Gelegenheiten – keine Figuren sind, sondern Personen waren und mit denen man demgemäß Umgang zu pflegen hatte. Jetzt, 30 Jahre später, sind die vier Bände nicht nur erneut im Taschenbuch aufgelegt worden, sondern auch als eBook; allerdings auch hier immer noch in vier Teilen anstatt als der eine große Roman, als den Johnson den Text gelesen haben wollte. Wahrscheinlich will man bei Suhrkamp Rücksicht auf die Leser nehmen, sich nicht um den Gewinnst bringen von vier Verkäufen statt einem, und wer bei Suhrkamp mag sich überhaupt noch auskennen mit dem, was ein alter Sturkopf ehemals so alles gewollt haben mag. Ich jedenfalls habe die Dateien zum Geburtstag geschenkt bekommen, und die zweiten Lektüre denke ich mehr oder weniger in einem Zug zu vollenden, falls sich bei über 1.800 Seiten von einem solchen Zug überhaupt sprechen lässt.

Zur Entstehung ist anzumerken, dass es wohl ursprünglich eine Trilogie werden sollte, dreimal vier Monate, dass dann aber das dazwischen gekommen ist, was in den Kurzbiographien des Autors „eine Krise“ heißt und eine Zeit der Depression, der Paranoia und des Alkoholismus war. Und so erschien 1973 ein kurzer dritter Band und erst zehn Jahre später dann der abschließende vierte. Manche Kritiker wollten in dem stilistische Brüche entdeckt haben, als hätten sie zur Kritik des letzten die vorherigen tatsächlich noch einmal gelesen oder könnten sich an sie noch erinnern oder was. Es wird sich zeigen, was davon zu halten ist.

Das Roman hat mindestens vier Erzählebenen: Seine Jetztzeit bilden die 367 Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die hauptsächliche Erzählerin ist Gesine Cresspahl, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow in Mecklenburg geboren als Tochter des Tischlers Heinrich Cresspahl und seiner Frau Lisbeth, einer geborenen Papenbrock. Gesine lebt mit ihrer anfangs neunjährigen Tochter Marie seit sechs Jahren in New York. Sie arbeitet als Auslandskorrespondentin bei einer Bank und steht wohl vor einem Karrieresprung, der im Zusammenhang mit den politischen Reformen der Tschechoslowakei zu stehen scheint. Maries Vater ist jener Jakob, über den der Autor zuvor schon einige Mutmassungen niedergeschrieben hatte; überhaupt ist hervorzuheben, dass die Gesamtheit der sogenannten fiktionalen Texte Uwe Johnsons einen einzigen großen Zusammenhang bildet, den im Gedächtnis zu behalten nicht immer einfach ist. Jedenfalls bilden Gesines Leben und das ihrer Tochter die umfassende Erzählung des Romans.

Die zweite Ebene liefert die Erzählung Gesines von der Geschichte ihrer Eltern, die sie ihrer Tochter Marie erzählt, teils direkt, teils auf Tonband, „für wenn sie tot ist“. Gesines Vater Heinrich, Jahrgang 1888, hatte sich im August 1931, bereits wieder auf dem Weg nach England, wo er als Tischlermeister einen Betrieb leitete, in ein junges Mädchen verguckt: Lisbeth Papenbrock, 18 Jahre jünger als er, der er nach Jerichow folgt und mit der er rasch einig wird, dass sie sich heiraten. Sie gehen dann gemeinsam fort aus Deutschland, in dem der Aufstieg der Nazis schon zu begonnen hat, denen der halbe Sozialdemokrat Cresspahl den Willen nicht nur zur Abschaffung der Republik, sondern auch den zum Krieg schon anmerkt. Doch Lisbeth hat Heimweh, nicht nur nach ihrer Familie, sondern auch nach ihrer Mecklenburgischen Landeskirche, und so nutzt sie die bevorstehende Geburt ihres ersten (und letztlich einzigen) Kindes zur Flucht zurück nach Deutschland. Und Cresspahl folgt ihr, widerwillig, aber er folgt ihr und bleibt dort, wo er nur um ihretwillen lebt. Doch auch damit wird Lisbeth nicht glücklich.

Die dritte Ebene bildet die tägliche Zeitungslektüre Gesines: Jeden Tag erwirbt sie die New York Times, aus der heraus die jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den Roman gelangen: der Rassenkonflikt, politische Umtriebe und Skandale, der Krieg in Viet Nam und die Proteste gegen ihn, die Mafia und die alltägliche Kriminalität schlechthin etc. pp. Diese Ebene bietet zum einen Anlass zur Auseinandersetzung zwischen Gesine und Marie, wobei Marie – die erstaunlich klug und redegewandt für ihr Alter ist – im Vergleich zu ihrer Mutter nicht nur einen amerikanischeren Standpunkt einnimmt, sondern aufgrund ihres Alters natürlich auch eine opportunistischere Grundhaltung zeigt.

Die vierte Ebene besteht aus zumeist kurzen Gedankendialogen Gesines mit Lebenden und Toten, in denen sich Gesine oft selbst in ein kritisches Licht setzt. Hier werden die Kompromisse deutlich, die sie eingeht, oft um ihrer Tochter willen, aber sie kritisiert auch ihre eigene Bequemlichkeit, ihre Furcht, als Ausländerin in den USA negativ aufzufallen, ihre Bindungsängste und vieles mehr.

Sowohl das New York des Jahres 1967 als auch das Mecklenburg der 30er Jahre zeichnen sich durch einen großen Reichtum an handelnden Personen aus, wobei es Johnson oft gelingt, eine Person auf wenigen Seiten markant zu charakterisieren. Wer sich einen kurzen Eindruck von Johnsons Erzählkunst verschaffen will, lese zum Beispiel die Charakterisierung des Jerichower Rechtsanwaltes Dr. Avenarius Kollmorgen auf den Seiten 305 ff. (17. November 1967).

Johnson reduziert das Erzählte zumeist auf das Notwendigste, liefert auch häufig zum Verständnis wesentliche Details erst später in anderen Zusammenhängen nach, so dass vom Leser ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit gefordert wird, um den komplexen Beziehungen der Figuren untereinander zu folgen. Dies wird ein wenig dadurch gemildert, dass ab und zu kurze Zusammenfassungen eingeschoben werden, die die Orientierung erleichtern. Auch sprachlich setzt der Text dem Leser einigen Widerstand entgegen: Neben vereinzelten Dialogen im Mecklenburger Platt, fallen heute besonders jene Stellen auf, an denen Johnson englische Wendungen ins Deutsche übersetzt, die heute als Amerikanismen geläufig sind; interessanterweise merkt man gerade an diesen Stellen dem Text am deutlichsten sein Alter an. Und auch sonst ist Johnsons Deutsch eher kantig als eingängig, was wohl als Abbildung eines Deutsch gelesen werden muss, das nicht nur mecklenburgische Wurzeln hat, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch des Englischen verändert wurde.

Der Roman liefert ein außergewöhnlich reiches und differenziertes Bild sowohl des Lebens im Deutschland der ersten Hälfte der 30er Jahre als auch im New York der 60er Jahre. Johnsons prinzipielles Misstrauen gegen Ideologien und eindimensionale Erklärungen sowie seine klare Haltung gegen Rassismus, Diktaturen und Unfreiheit bilden das Fundament der Erzählung, ohne dass der Autor seine Figuren, pardon, Personen mit dieser Grundhaltung überfrachtet. Johnson erzählt, soweit das überhaupt möglich ist, das Leben selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im vierten Band Theodor Fontane als Schirmherr dieses Romans herbeizitiert wird.

Was die derzeit verkaufte Kindle-Edition des Romans angeht, so sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass Suhrkamp das Erstellen der betreffenden Dateien noch ein wenig üben muss: Bei Verwendung der sogenannten Verleger-Schriftart zeigt mein Kindle Paperwhite nur graphischen Müll an; bei Wahl einer anderen Schriftart wird auf dem Paperwhite nur Flattersatz angezeigt, während bei Anzeige über die App auf dem iPad die kursive Textauszeichnung komplett verloren geht. Zudem werden die meisten Gedankenstriche nur als Bindestriche dargestellt. Da Suhrkamp derzeit für eBooks nur 1 Cent weniger verlangt als für das entsprechende Taschenbuch, darf man als Käufer wohl ein wenig mehr Sorgfalt bei Herstellung und der Prüfung der Dateien erwarten.

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. August 1967 – Dezember 1967. Frankfurt: Suhrkamp, 1970. Leinen, Fadenheftung, 478 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 732 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Alfred Döblin: November 1918 (4)

978-3-10-015557-3 Der abschließende vierte Band des Romanzyklus mit dem Titel Karl und Rosa ist der umfangreichste Einzelband. Erzählerisch spiegelt sein Beginn das Ende des dritten Bandes (respektive zweiten; dazu unten noch einige Sätze) wieder: Wurde dort das bis dahin weitgehend vorherrschende musivische Erzählen durch eine eher kontinuierliche Erzählung des weiteren Lebensweges des US-amerikanischen Präsidenten Wilson abgelöst und so eine erste Abrundung der Erzählung geschaffen, konzentriert sich der vierte Band zu Anfang auf den Lebensweg Rosa Luxemburgs ab dem Februar 1915 mit dem Schwerpunkt ihrer Haftzeit in Breslau. Erst im zweiten Buch setzt die detaillierte Erzählung der deutschen Revolution dort wieder ein, wo Döblin sie im Band zuvor abgebrochen hatte. Dieser letzte Band kehrt aber nicht mehr vollständig zu dem reichen Wechsel der Perspektiven zurück, sondern konzentriert sich auf deutlich weniger Erzählstränge.

Der Verlauf der deutschen Revolution wird weiterverfolgt bis zur Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919, in der Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet werden; vom Prozess gegen die Täter sowie den milden Urteile wird nur summarisch berichtet. Neben der ausführlichen Schilderung dieser Taten liegt das Hauptgewicht der Darstellung auf der versäumten Gelegenheit vom 6. Januar, als sich eine revolutionäre und bewaffnete Masse in Berlin versammelt, aber aufgrund mangelnder Führung nach einige Stunden wieder auseinanderläuft. Die Regierung Eberts – dessen Porträt in diesem letzten Band noch einmal deutlich negativer gerät –  sitzt die Krise eine Woche lang aus, um dann das Wiedereinkehren der bürgerlichen Ruhe zu verkünden und sich auf die Nationalversammlung vorzubereiten. Unter den revolutionären Kräften im engeren Sinne will nur Karl Liebknecht die Niederlage vom 6. Januar nicht akzeptieren und ist bestrebt, die diversen Besetzungen von öffentlichen Plätzen und Gebäuden sowie Pressehäusern aufrecht zu erhalten. Deren gewaltsame Räumung schildert Döblin zum Teil im Detail.

Als außergewöhnlich treten hier besonders zwei längere Passagen hervor, in denen der Text überraschend ins Satirisch-Phantastische umschlägt: Da ist zum einen eine Szene, in der im Finanzministerium eine Abordnung von Matrosen wegen ihrer Löhnung vorstellig wird und mit einem einzigen Satz wie mit einer Zauberformel ein Chaos auslöst, das aber am Ende nur zwölf Sekunden gedauert haben soll. Zum anderen findet sich die Beschreibung einer Geisterstunde auf der Siegesalle, in der die marmornen Denkmäler von ihren Sockeln herabsteigen und einer Prozession der Berliner Gefallenen des Ersten Weltkriegs beiwohnen. Beide Passagen sind überzeugend gestaltet und von kräftiger Wirkung, ragen aber aus dem übrigen Text wie unverbundene Blöcke heraus. Sie bleiben stilistisch und inhaltlich Episode.

Wie schon der Titel andeutet, tritt in diesem Band Rosa Luxemburg, die bislang nur einen Nebenrolle gespielt hatte, als gleichgewichtige, neue Figur zum bisherigen Ensemble hinzu. Auch Rosa leidet an Visionen, bei ihr ausgelöst durch Schuldgefühle und die Isolation ihrer Haft in Breslau. In ihren Visionen tritt vorerst nur Hannes auf, ein früherer Geliebter, der an der Ostfront gefallen ist; später wird auch Rosa vom Teufel besucht. Es ist aus dem Roman allein nicht verständlich, wieso Döblin seine Figur der Rosa mit einem solchen psychischen Ballast belastet, für den sich in der Biografie Luxemburgs wohl keinerlei Anhaltspunkte finden lassen. Was die Visionen selbst angeht, so gehen Rosas nicht wesentlich über die früheren Friedrich Beckers hinaus, sondern sie scheinen nur von anderem Inhalt zu sein. Diese Stilisierung Rosas ist mir weitgehend unverständlich geblieben; dementsprechend mühsam fand ich besonders die späteren Passagen zu diesem Motiv zu lesen.

Von den bereits bekannten Figuren werden die Schicksale Stauffers und Beckers weiter verfolgt: Stauffer, der im vorangegangenen Band bis zum Ende einer bürgerlichen Komödie begleitet wurde, wird noch weiter zur Normalität geläutert. Seine geliebte Lucie erweist sich als Alkoholikerin und Stauffer selbst als unverbesserlicher Casanova – da sich das Paar aber mit sich selbst, ihren und des Partners Schwächen befreundet, geht es in eine sonst nicht weiter erwähnenswerte Bürgerlichkeit ein. Stauffers Karriere als Dramatiker findet darin ihr Ende.

Spannender ist die weitere Geschichte Friedrich Beckers: Er scheint seine Visionen weitgehend überwunden zu haben und versucht sich wieder im Schuldienst. Er wird dabei aber nahezu augenblicklich in die Affäre um den Rektor seiner ehemaligen Schule verwickelt, der in den vorangegangenen beiden Bänden als Nebenfigur eingeführt worden war. Doch Beckers Versuche, sowohl den Rektor als auch einen beteiligten Schüler vor dem Schlimmsten zu bewahren, scheitern: Der Rektor wird vom alkoholisierten Vater des Schülers, der eine homoerotische Beziehung zwischen beiden vermutet, so verprügelt, dass er an den Folgen stirbt; der Schüler flieht aus dem an dieser Tat zerfallenden Elternhaus und schließt sich den Revolutionären an, die das Polizeipräsidium besetzt halten. Becker folgt dem Jungen bis dorthin und wird mit ihm Zusammen bei der Erstürmung des Gebäudes verletzt. Obwohl sich Becker mehrfach die Möglichkeit bietet, sich dem nachfolgenden Prozess zu entziehen, besteht er darauf, wie die anderen Revolutionäre angeklagt und abgeurteilt zu werden. Nach drei Jahren Haft versucht er es noch mehrfach mit einer bürgerlichen Existenz, wird aber schließlich Narr in Christo, der als Obdachloser das Land durchstreift und mehrfach im Namen eines radikalen Christentums die öffentliche Ordnung stört. Auch er wird bis zu seinem Tod von Visionen, insbesondere des Teufels, verfolgt. Mit Beckers Tod und der Verklappung seiner Leiche endet der Zyklus.

Abschließend noch einige Sätze zu dem Problem der erzählerischen Großstruktur des Zyklus: Wie bereits in der Einführung erwähnt, war der Zyklus ursprünglich als Trilogie geplant, wurde dann aber faktisch als Tetralogie veröffentlicht, da der zweite Teil weit über das geplante Maß hinausgewachsen war. So liegen derzeit zwei Ausgaben vor, von denen die eine (dtv) den Roman als Tetralogie präsentiert, während die hier besprochene Ausgabe von S. Fischer den zweiten und dritten Band als Teilbände 2.1 und 2.2 behandelt. Es ist nun fraglos so, dass der dritte Band (= 2.2) einen ersten, vorläufigen Abschluss des Zyklus liefert, der so weder im ersten noch im zweiten Band (= 2.1) zu finden ist. Da der erste Band bereits vorab veröffentlich war, ließe sich argumentieren, dass Döblin das vorläufige Ende geschrieben hat, um die beiden Teilbände des zweiten Teils einem Verleger unabhängig vom abschließenden dritten Teil anbieten zu können. Dies spräche dafür, dass es sich strukturell eher um eine »Trilogie in vier Bänden« als um eine Tetralogie handelt. Am Ende ist diese Frage aber wohl so unerheblich, dass hier schon zu viel über sie gesagt worden ist.

Mit insgesamt über 2.200 Seiten muss dieser Zyklus als einer der bedeutendsten zeitgeschichtlichen deutschen Romane gewertet werden. Er ist sicherlich aufgrund der starken spirituellen Anteile, die sich letztendlich wohl nicht auf die Darstellung psychischer Phänomene werden reduzieren lassen, keine einfache, geschweige denn eingängige Lektüre. Dennoch ist es mir letztlich unverständlich, dass er im Bewusstsein der Leser so wenig verankert zu sein scheint. Doch teilt er dieses Schicksal schließlich mit dem übrigen Werk Döblins, von Berlin Alexanderplatz einmal abgesehen.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Karl und Rosa. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 783 Seiten. 19,90 €.

Alfred Döblin: November 1918 (3)

978-3-10-015556-6 Der dritte Band Heimkehr der Fronttruppen bringt den Erzählbogen, den Döblin in Bürger und Soldaten 1918 eröffnet hatte, zu einem Abschluss. Die Erzählung aus Verratenes Volk wird unmittelbar fortgesetzt: Die vom militärischen Hauptquartier aus organisierten Truppen aus dem Westen kehren in ihre Berliner Kasernen zurück. Sie werden von staatlichen Vertreter der neuen Republik als ungeschlagene Helden empfangen, während die politisch organisierte Linke die Befürchtung hegt, dass der Einzug der Truppen nur das Vorspiel zu einem Militärputsch darstellt. Doch ganz im Gegenteil lösen sich die Truppen in kurzer Zeit bis auf Reste auf, da die Soldaten einfach massenweise davonlaufen. Die militärische Führung sieht sich plötzlich einem Chaos gegenüber, während Ebert und seine Volksbeauftragten fürchten, dass die Soldaten den Spartakisten zulaufen und die Gefahr eines revolutionären Aufstandes verschärfen werden.

Das Militär reagiert auf die chaotisch verlaufende Auflösung der Truppen durch die Bildung von Freichors nach Lützowschem Vorbild, aus Freiwilligen gebildet, die sich einer scharfen Disziplin unterwerfen und sich unter den Befehl der Regierung stellen. Auch Liebknecht fürchtet, dass ihm die Situation aus der Hand geraten und sich die revolutionäre Bewegung verselbstständigen könnte. Die historisch-politische Ebene des Buches läuft auf die Eröffnung des 1. Rätekongress in Berlin am 16. November zu.

Interessanterweise bricht Döblin die kontinuierliche Erzählung der deutschen Ereignisse aber bereits um den 14. November herum ab und konzentriert sich auf den letzten knapp 60 Seiten des Romans auf den US-amerikanischen Präsidenten Wilson und sein Engagement für den Friedensvertrag und die Gründung des Völkerbundes sowohl in Europa bei den Verhandlungen der Sieger als auch in den USA, wo sowohl Senat als auch die Mehrheit der Bevölkerung diesen Bemühungen reserviert gegenüberstehen. Das Leben Wilsons wird bis zu seinem Tod weiter verfolgt, um anschließend auf nur zwei Seiten die weitere geschichtliche Entwicklung zu umreißen und mit einem Schrei die drohende Katastrophe des Zweiten Weltkriegs anzukündigen.

Auch im dritten Band werden die Geschichten Friedrich Beckers und Erwin Stauffers fortgeführt: Beckers Träume drängen sich mehr und mehr in seine Tageswahrnehmung herein. Er leidet unter Visionen von Personen, mit denen er spirituelle Streitgespräche führt – darunter wahrscheinlich auch mit dem Teufel persönlich, der in verschiedenen Gestalten erscheint. Ausgelöst ist diese Erkrankung nicht nur durch die Erlebnisse des Krieges und die erlittene Verletzung, sondern auch durch ein tiefes persönliches Schuldgefühl, dass er sich bei Ausbruch des Krieges nicht gegen den Krieg gestellt habe. Über diesen Visionen und ihrem Einfluss auf Becker zerbricht nicht nur die junge Beziehung zu Hilde, sondern auch die Freundschaft mit Johannes Maus, der sich ganz der revolutionären Idee verschrieben hat, geht darüber zu Bruch. Becker flieht schließlich in den christlichen Glauben, dem er bislang immer skeptisch gegenübergestanden hatte, und findet auf diesem Weg wenigstens ein wenig inneren Frieden.

Erwin Stauffer dagegen findet seine alte Geliebte Lucie wieder und in ihr das späte Glück seines Lebens. Lucie ist inzwischen seit langem verheiratet, will sich aber für Stauffer scheiden lassen und zu diesem Zweck mit ihm zusammen nach Amerika reisen. Unterwegs kommt es auch zur einer dramatischen Versöhnung mit Tochter und Ex-Frau, als Stauffer beinahe Opfer eines Unfalls mit einen Gasofen wird. Die hier ausgespielte bürgerliche Komödie überzeugt zwar in ihrer Ironie und als privater Gegensatz zum politischen Geschehen auf der nationalen und Weltbühne, ist aber inhaltlich sicherlich der schwächste Teil der Erzählung.

Bemerkenswert scheint mir, dass sowohl Becker als auch Stauffer als Variationen des Faust gestaltet zu sein scheinen: Becker ist der tragische Gelehrte, der mit dem Teufel um seine Seele ringt, Stauffer ist der weltliche Lebemann, der »Helenen in jedem Weibe« sieht und »durch das wilde Leben« geschleift wird. Die zahlreichen Faust-Zitate der Romane weisen auf diesen Hintergrund der beiden Spiegelfiguren Becker und Stauffer hin.

Alles in allem muss Döblin das Kompliment gemacht werden, dass es ihm gelungen ist, ein umfassendes und solides Bild der Ereignisse vom Ende des Ersten Weltkrieges und der nachfolgenden Wochen zu zeichnen. Einzig die Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Industrie fehlen in seiner Darstellung. Nach Umfang und zeitgeschichtlicher Genauigkeit steht der Romanzyklus zumindest gleichranging neben Werken wie Johnsons Jahrestage oder Strittmatters Der Laden. Hier gibt es einen echten Klassiker des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Heimkehr der Fronttruppen. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 573 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …

Alfred Döblin: November 1918 (2)

978-3-10-015555-9 Der zweite Band Verratenes Volk schließt zeitlich unmittelbar an den ersten an und umfasst die Tage vom 22. November bis zum 7. Dezember 1918. Schwerpunkt des Schauplatzes ist Berlin, ohne dass die Ereignisse in Straßburg komplett ausgeblendet würden. Einzelne Episoden spielen auch in Hamburg, München, Kassel oder Paris. Das Personal wird noch einmal erweitert: Sowohl das Berliner Proletariat als auch eine alte Kasseler Adelige kommen ausführlich zu Wort.

Auf der privaten Ebene verfolgt der Roman die beiden ehemaligen Offiziere Friedrich Becker und Johannes Maus weiter, die beide auf getrennten Wegen inzwischen in Berlin angekommen sind. Während Maus sich von den revolutionären Ereignissen mitreißen lässt, gerät Becker zunehmend in eine Isolation, aus der ihn weder Maus noch sein ehemaliger Kollege – Becker ist Altphilologe und war vor dem Krieg Gymnasiallehrer – Krug noch die ihm von Straßburg aus nachgereiste Krankenschwester Hilde befreien können. Parallel zu der mehr und mehr Platz einehmenden Geschichte Beckers wird die des Dramatikers Erwin Stauffer erzählt: Stauffer, den die revolutionären Entwicklungen weitgehend gleichgültig lassen, findet anlässlich eines Umzugs einen Stapel ungeöffneter Briefe, die seine Ex-Frau ihm unterschlagen hatte. Es handelt sich um Briefe einer Schauspielerin, mit der Stauffer vor über 20 Jahren eine kurze Affäre hatte. Wutentbrannt über die Unterschlagung reist Stauffer nach Hamburg, um seine Frau, mit der er seit 19 Jahren keinen Kontakt mehr hatte, zur Rede zu stellen. Diese fertigt ihn allerdings kurz und knapp ab. Doch hat die Reise wenigstens den Effekt, dass Stauffer seine nun erwachsene Tochter kennenlernt. Er reist nach Berlin zurück und macht sich von dort aus auf die Suche nach seiner ehemaligen Geliebten.

Weniger umfangreiche Episoden schildern den Alltag Berliner Arbeiter, heimgekehrter Soldaten, kleinerer und größerer Schieber usw. Auch einige der Straßburger Figuren werden, wie schon angedeutet, weiter verfolgt.

Auf der historischen Ebene schildert Döblin drei der um die Macht in der jungen Republik ringenden Parteien: Den Volksbeauftragten Ebert und sein Kabinett aus Mitgliedern der SPD und USPD, die versuchen, einen Putsch zu verhindern und die Wahl zur Nationalversammlung auf den Weg zu bringen, das Hauptquartier des Heeres in Kassel, das sich – wohl in der Hauptsache aufgrund des Widerstandes Hindenburgs – nicht zu einem Militärputsch entschließen kann und deshalb in Teilen mangels einer Alternative eine illusionistische monarchistische Linie vertritt, und die Spartakisten um Karl Liebknecht – Rosa Luxemburg spielt in diesem Band eine Nebenrolle –, der vor einer Radikalisierung der Revolution zurückscheut, da er den sich daraus zwangsläufig entwickelnden Bürgerkrieg fürchtet. Ihm zur Seite steht der russische Berater Radek, der auf eine Verschärfung der revolutionären Umtriebe drängt und in Deutschland ein Rätesystem etabliert sehen möchte.

Höhe- und Endpunkt des zweiten Bandes bilden die bewaffneten Zusammenstöße in Berlin am 6. November, unmittelbar vor dem Einzug der rückkehrenden Fronttruppen nach Berlin. Deutschland scheint am Rande des Bürgerkriegs zu stehen; sowohl die militärische Führung als auch die Arbeiterschaft erwartet, dass die jeweils andere Seite zum bewaffneten Kampf um die Staatsmacht übergehen wird.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Verratenes Volk. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 489 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …