Die Britannica lesen …

britannicaIn der westlichen Welt, dem Gebiet der sogenannten christlich-abendländischen Kultur wird man heute schon als Ausnahme-Erscheinung angesehen, wenn man die Bibel, das Buch der Bücher, komplett gelesen hat. Aber es gibt ein Buch, bei dem es noch weitaus ungewöhnlicher ist, es komplett gelesen zu haben: Die Enzyclopædia Britannica! Die Britannica oder die EB, wie Ihre Benutzer sie liebevoll abkürzen, ist das umfangreichste moderne Lexikon der westlichen Welt. Und sie ist nicht nur umfangreich, sie ist auch gut! Der amerikanische Journalist A. J. Jacobs hat es unternommen, die rund 33.000 Seiten der Britannica zu lesen. Und er hat ein Buch darüber geschrieben! Nun wird manch einer denken, was soll schon dabei herauskommen, wenn einer über eine so langweilige Sache wie das Lesen eines Lexikons ein Buch schreibt. Sie werden sich wundern, was für ein erstaunlich lebendiges und witziges Buch dabei herausgekommen ist!

Die Geschichte, die Jacobs von seiner Lektüre erzählt, ist von Anfang an eine sehr persönliche: Er versucht nämlich mit seiner Lektüre der Britannica seinen Vater zu übertreffen, einen erfolgreichen Anwalt, der auch einmal damit begonnen hatte, die EB zu lesen, aber früh schon stecken geblieben war. Außerdem versuchen Jacobs und seine Frau seit einiger Zeit ein Kind zu bekommen und angesichts der von seinem Sprößling zukünftig zu erwartenden Fragen will Jacobs dringend etwas für seine Bildung tun. Er arbeitet als Journalist beim New Yorker Magazin »Esquire«, und wie viele Menschen fürchtet er, langsam zu verblöden, nachdem er mit dem aktiven Lernen aufgehört hat. Und last not least will er mit seinem neu erworbenen Wissen auch ein wenig angeben und auftrumpfen – aber das legt sich mit der Zeit.

All dies führt dazu, dass er sich die aktuelle Ausgabe der EB (2002) bestellt und einfach bei A mit dem Lesen beginnt. Dazu muss man denjenigen, die nie in die EB hineingeschaut haben, erklären, dass die EB grob gesprochen in zwei Teile gegliedert ist (eigentlich sind es mehr, aber das soll uns hier nicht interessieren): Von den 29 Lexikon-Bänden sind nur die ersten zwölf so aufgebaut, wie man es von einem »normalen« Lexikon kennt: Viele Stichwörter und zu jedem eine mehr oder weniger kurze Erklärung, eventuell einige Hinweise zur weiteren Lektüre – fertig, nächstes Stichwort. Diese Bände 1–12 heißen Micropædia, durchlaufen das gesamte Alphabet und umfassen gut 13.000 Seiten. Auf sie folgen 17 weitere Bände (13–29), die Macropædia, etwa 20.000 Seiten (jede Seite der Britannica umfasst dabei den Text von mehr als vier (!) Schreibmaschinenseiten), die nur durch etwa 600 Stichwörter gegliedert sind. Zu jedem dieser Stichwörter bietet die Macropædia einen umfassenden Einführungstext. Um das in diesen umfangreichen Texten enthaltene Wissen sinnvoll aufzuschlüsseln, verfügt die EB über zwei zusätzliche Indexbände.

Durch diesen Aufbau ist die EB wie kein anderes Lexikon für eine vollständige Lektüre geeignet, denn die Nutzer bekommen in der Macropædia große Wissensgebiete in systematischer Darstellung präsentiert. Und so liest Jacobs sich durch beide Teile der EB zugleich, immer dem Alphabet folgend. Das Glück für die Leser des Buches ist nun, dass Jacobs ein witziger Kopf ist, der uns nicht nur an ausgewählten Stichwörtern seiner 15 Monate dauernden Wissens-Odysee teilnehmen lässt, sondern der uns auch erzählt, wie seine Frau, seine Verwandten und Bekannten, nicht zuletzt seine Kollegen auf sein Projekt reagieren, wie ihn das Wissen verändert, was ihn betroffen macht, was ihm merkwürdig vorkommt usw. usf. Jacobs kümmert sich überhaupt um die Kultur und den Kult der Information: Er interviewed den Moderator von »Jeopardy!« und wird Kandidat beim amerikanischen »Wer wird Millionär?«, nur um an der 32.000-$-Frage zu scheitern, weil sein Gedächtnis und sein »allwissender« Telefonjoker versagen. Und schließlich besucht er die Redaktion der Britannica in Chicago und macht unmittelbare Bekanntschaft mit der mühsamen Arbeit der Lexikon-Recherche.

Und nebenher versöhnt er sich mit seinem Vater, zeugt mit seiner Frau endlich ein Kind, lernt lauter Sachen, die er vorher nicht wusste, erinnert sich an Dinge und Zusammenhänge, die er schon einmal vergessen hatte, und behält zugleich seine Distanz zu all dem, was er da liest. Mit der Zeit kennt er den Jargon der Britannica und benennt ihn auch, er lernt ihre Vorlieben und Idiosynkrasien (gleich mal im Lexikon nachschlagen, was das nun wieder bedeutet!) erkennen, schärft seinen Blick für Skuriles, Absurdes und Erschreckendes. Und das wichtigste: Er hält durch! Nach 15 Monaten kommt er tatsächlich beim Stichwort »Żywiec« an und hat es geschafft. Er gibt zu, nicht jedes Wort und nicht jede Seite stets mit der gleichen Aufmerksamkeit studiert zu haben, aber er hat alle Seiten gelesen. Was er tatsächlich davon behalten hat und wird, wird keiner – auch er selbst nicht – jemals wirklich wissen.

Das Buch ist vom Verlag List sorgfältig und liebevoll ausgestattet worden: Es hat einen Goldschnitt (sogar an allen drei Schnitten, wo sich die EB mit einem vergoldeten Kopfschnitt begnügt), ein Lesebändchen, trägt das Markenzeichen der EB, die schottische Distel, auf dem Umschlag und am Fuß jeder Seite, hat lebende Kolumnentitel, die das jeweilige Stichwort, bei dem man sich gerade befindet, anführen und – natürlich! – ein Register. Einzig Kunstledereinband und Fadenheftung fehlen, aber die hätten das Buch nur unvernünftig teuer gemacht. Ein Reiseabenteuer durch die Wissenskreise, eine äußerst vergnügliche und intelligente Unterhaltung zwischen Sachbuch und Autobiographie. Ich habe mich lange nicht mehr so vergnügt mit einem Buch unterhalten!

A. J. Jacobs: Britannica & ich. Von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. List, 2006. Pappband mit Schutzumschlag und Lesebändchen. 427 Seiten. 19,95 €.

Richard P. Feynman: Sechs physikalische Fingerübungen

121017246_120fbf6982Laut Vorwort des amerikanischen Originalverlages handelt es sich bei dem Buch um die »sechs einfachsten Kapitel« der »Lectures on Physics«, die unter den Einführungen für Physikstudenten eine Art Kultstatus inne haben. Dass die Originalausgabe dieser Auswahl 1995 erschienen ist, also 30 Jahre nachdem Feynman den Physik-Nobelpreis erhalten hat, zeugt von der ungebrochenen Popularität, die er in den Vereinigten Staaten besitzt. Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, dass Feynman als akademischer Lehrer und als Persönlichkeit zahlreiche Menschen beeinflusst und tief beeindruckt hat.

Durch die Auswahl sind die Kapitel natürlich wenig miteinander verbunden und auch was den Anspruch an das Verständnis der Leser recht unterschiedlich. Das Büchlein beginnt mit einem Kapitel, das sich auf einem sehr allgemeinen Niveau mit der Tatsache auseinandersetzt, dass die Welt aus Atomen zusammengesetzt ist, es folgt ein Kapitel zur Entwicklung der Quanten- und Elementarteilchenphysik, eines zum Verhältnis der Physik zu anderen Naturwissenschaften – mit einem Schwerpunkt auf der Biologie, mit der sich Feynman im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere ebenfalls intensiver beschäftigt hat –, eines zum Energieerhaltungssatz, eines zur Gravitationstheorie und ein letztes, doch schon recht anspruchsvolles, zur Quantenmechanik und der Heisenbergschen Unschärferelation.

Für naturwissenschaftlich Interessierte, die ihre Schulphysik einmal wieder auffrischen und vielleicht auch etwas erweitern wollen, eine anregende und lohnende Lektüre. Für die allermeisten Nichtphysiker wird der eine oder andere anregende Gedanke oder neue Perspektive abfallen. Mir etwa ist nie zuvor die enge Abhängigkeit zwischen Quantenmechanik und der Unschärferelation auf so einfache und einleuchtende Art klar gemacht worden.

Feynman, Richard P.: Sechs physikalische Fingerübungen. Aus dem Amerikan. von Inge Leipold.
Piper, Sonderausgabe 2004. ISBN 3-492-04665-7
Gebunden – 224 Seiten – 12,90 Eur[D]