Shortlists (3) – nicht zu Ende gelesen!

Blogger-Kollege Jürgen Fenn hat auf seiner Schneeschmelze auf eine Umfrage des französischen Radiosenders France Culture hingewiesen, der seine Hörer nach nicht zu Ende gelesenen Romanen gefragt hat. Fenn weicht – kluger Weise? – jeder Diskussion der Ergebnisse aus und listet einfach nur die Top-10 auf:

  1. Ulysses von James Joyce
  2. Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell
  3. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust
  4. Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien
  5. Die Schöne des Herrn von Albert Cohen
  6. Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil
  7. Rot und Schwarz von Stendhal
  8. Madame Bovary von Gustave Flaubert
  9. Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez
  10. Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Céline

Wie bei vielen Fällen statistischer Daten ist die Deutung schwierig: Zwar haben auf die Umfrage immerhin 3.000 Hörer geantwortet, aber sie dürften dennoch kaum eine repräsentative Stichprobe bilden, denn zum einen handelt es sich um Franzosen – wofür sie selbstredend nichts können – und zum anderen sind sie Hörer eines Kultursenders. Jenes führt dazu, dass sechs von zehn Titeln von französischen Autoren stammen, dieses, dass alle Titel zumindest in dem Verdacht stehen müssen, zur Hochkultur zu gehören.

Aber vielleicht liegt die Vorhersehbarkeit der Antworten auch in der Frage begründet: Während kaum jemand auf Fragen wie „Am Fuß welcher 8.000er haben Sie bereits gestanden, ohne sie bestiegen zu haben?“ oder „In welchen Ozeanen haben Sie schon gebadet, ohne sie durchschwommen zu haben?“ antworten würde, machen Kulturmenschen bei der Frage nach abgebrochenen Lektüren sofort Männchen und geben hechelnd genau jene Antworten von sich, die von ihnen erwartet werden; und je anonymer die Befragten, desto stereotyper die Antworten.

Natürlich führt der Joycesche Ulysses das Feld in jeder dieser Umfragen an. Der durchaus begründete Ruf der Bedeutung dieses Romans steht in direkt reziproker Proportionalität zum Glauben des kultivierten Lesers, er müsse ihn einerseits gelesen haben, er – der Roman, nicht der Leser – werde aber andererseits zu Recht für unlesbar gehalten; es versteht sich von selbst, dass beides falsch ist. Nicht der Ulysses ist unlesbar, sondern die meisten seiner Leser begegnen ihm mit zumeist unbewussten Konzepten, wie ein Roman zu funktionieren habe, denen das Buch aber in nur ver­schwin­den­den Anteilen entspricht. Anders gesagt: Die Leser des Ulysses scheitern in der Regel an ihren anderwärts sich bewährenden Vorurteilen, nicht am Buch.

Ganz anders dagegen ein Fall wie Der Mann ohne Eigenschaften: Hier scheitert das Zuendelesen bereits an der Tatsache, dass der Roman gar nicht zu Ende geschrieben worden ist, dass also auch die umfangreichste und gründlichste Lektüre immer den Fall liefert, dass man das Buch nicht zu Ende gelesen hat; was aber naturgemäß die wenigsten der Befragten wissen dürften, da sie lange vor diesem nicht existenten Ende aufgegeben haben. Das wiederum liegt daran, dass Musil für einen impliziten Leser schreibt, der deutlich intelligenter und aufmerksamer ist als der reale. Das meiste, was Musil schreibt, entkommt seinen Lesern also direkt über den Kopf hinweg ins Nichts.

Ganz anders wiederum ein Fall wie Der Herr der Ringe, ein Buch, das, wenn man ehrlich ist, nicht nur von gähnender Langweiligkeit ist, sondern auch seine wichtigste Pointe bereits im Titel des dritten Bandes ausschwatzt: Die Rückkehr des Königs. Ganz abgesehen davon, dass man inzwischen bequem die Verfilmung anschauen kann.

Ganz anders wiederum ein Fall wie Madame Bovary, bei dem es sich nur mit massivster Humorlosigkeit oder Gehirnamputation erklären lässt, wenn einer das Buch nicht zu Ende liest. Man sieht leicht, wohin das führt.

Aber – und deshalb schreibe ich das alles hier– am andersten ein Fall wie Die Schöne des Herrn, zumindest für einen deutschen Leser – für mich: Mir war die Existenz des Buches bis zu dieser Umfrage komplett entgangen, was sich am einfachsten daraus erklärt, dass Elke Heidenreich es empfohlen hat. Etwas verwundert darüber, dass ich dieses eine Buch der Liste so gar nicht einordnen konnte, habe ich mir beim deutschen Verlag eine Leseprobe der Übersetzung her­un­ter­ge­la­den und durfte gleich auf der zweiten Seite  folgendes lesen:

Um den knirschenden Kies zu vermeiden, wagte er einen Sprung in die mit Muschelwerk eingefassten Hortensienbeete.

Was für ein Mann! Nicht nur läuft er seit Textbeginn mit nacktem Oberkörper durch den Roman, er wagt es auch, in mehrere Hortesienbeete zugleich zu springen! Mir läuft es eiskalt den Nasenrücken herunter. Aber gleich geht es weiter: Völlig unvorbereitet und unvorhersehbar hat unser Held etwas in der Hand:

Er lächelte ohne Grund und ging auf und ab, von Zeit zu Zeit seine automatische Pistole in der Hand wiegend.

Ja, seinen Ballermann hat er wohl aus der Hose gefischt, weil der Autor nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Und auch die Übersetzung hat es in sich:

In dem Salon, dessen Wände mit rotem Samt ausgeschlagen und mit vergoldetem Holz getäfelt waren, …

Nun kann zwar ein Salon mit Samt ausgeschlagen sein, aber seine Wände können es nicht. Um etwas mit etwas anderem ausschlagen zu können, bedarf das erste Etwas so etwas wie eines Innenraums, was Wände schlechthin nicht haben. Aber es wird noch besser:

Stieß sie sich an irgendeiner Unzulänglichkeit, wie eine brüchige Rampe, ein aus den Fugen geratenes Eisengitter, ein versiegter öffentlicher Brunnen, …

Verzweifelnd nach vorn blätternd, entdecke ich, dass das Buch nicht nur einen Übersetzer, sondern auch noch einen grundlegenden Überarbeiter der Übersetzung hat. Nur damit man es recht versteht: Ein französischer Roman aus dem Jahr 1968 wurde nicht nur 1983 ins Deutsche übersetzt, sondern die Übersetzung war offenbar derart, dass 2012 eine grundlegende Überarbeitung erschien. Dabei ist das Buch zweimal durchs Lektorat gegangen, und dann steht ein Satz wie der oben zitierte auf der achten Textseite. Das ist kein Deutsch! Auch wenn auf der Straße und in der Tagesschau so gesprochen wird, ist das kein Deutsch. Wer mag, kann den Grund gern unter „Kongruenz im Kasus“ nachschlagen. Was auch immer im Original steht, es kann nicht auch nur halbwegs so schrecklich sein wie das, was im Deutschen daraus geworden ist.

Und auch wenn ich kaum angefangen habe, werde ich dieses Buch nicht zu Ende lesen. Weil es fürchterlich ist; weil der Übersetzer oder der Üb­er­ar­bei­ter kein Deutsch kann; weil solche Bücher unerträglich sind. Von Frau Heidenreich empfohlen: „Wenn ich jetzt sagen müsste, welches das schönste Buch ist, was ich in meinem Leben gelesen habe, wäre es dieses.“ – Jo!

Und wie geht sowas jetzt in eine Umfrage ein?

Shortlists (2)

Warnung : »Überlegen Sie sich’s zwanzig Mal, ehe Sie irgend ‹Gesammelte Werke› kaufen ! Sie werden von selbst vorsichtiger, wissen Sie erst, daß Sie sich jedesmal mit einem kompletten Fremdleben, einem Superschicksal, belasten : mehr, als Sie bewältigen können. – Wer mehr als 1 Dutzend ‹Gesamtausgaben› besitzt, ist ein Charlatan ! – Oder aber : er hat sie nicht gelesen.«

Apodiktisch, wie wir ihn lieben, spricht hier Arno Schmidt ein hartes Wort über jene Buchlieberhaber aus, die nicht nur einen großen Teil der zu erübrigenden Zeit mit Lesen verbringen, sondern in deren Wohnungen sich die Bücherregale mit den Bildern um den Platz an den Wänden streiten und oft, zu oft gewinnen. Da wird ein neuer Autor entdeckt, und man deckt sich vorsorglich mal mit einer Werkauswahl oder eine ‹Gesamtausgabe› ein, denn es könnte ja sein, dass einen gleich morgen in aller Frühe, noch vor Öffnung der ersten Buchhandlungen oder Bibliotheken der ununterdrückbare Drang überfällt, Honoré de Balzacs »Das Alter einer schuldigen Mutter« zu lesen, und man hätte es nicht im Haus.

Deshalb als Gegengewicht zur ersten Shortlist und für alle, denen es ähnlich geht, hier als Klagegesang:

10 Autoren, für die ich gern mehr Zeit haben würde:

  1. Christoph Martin Wieland: Auch ich habe den Reprint in den goldenen Zeiten der Greno Verlages gekauft und brav die wichtigen Romane gelesen: »Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva«, »Die Geschichte des Agathon«, die unvergleichliche »Geschichte der Abderiten« und auch den anspruchsvollen »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Und dennoch bleibt das Bewusstsein, das da noch Bände um Bände von Schätzen zu heben sind.
  2. Jean Paul: Vielleicht die subjektiv schmerzlichste Lücke. Noch zu Schulzeiten habe ich nach ¾ der »Flegeljahre« aufgegeben, dann im Studium all die kleineren Sache gelesen, damit die Hanser-Werkausgabe wenigstens nicht ganz ungenutzt herumsteht, aber mir nie die Ruhe und Zeit genommen, die großen Romane durchzugehen.
  3. Thomas Pynchon: Gerade vor ein paar Tagen habe ich noch mit einem Freund darüber gesprochen, dass meine frühe Pynchon-Lektüre so lange her ist, dass ich mich kaum daran erinnere. Ich wäre schon neugierig, wie »Gravity’s Rainbow« heute, nach beinahe 30 Jahren auf mich wirken würde. In »Mason & Dixon« bin ich irgendwo in der Mitte stecken geblieben und »Against the Day« liegt seit dem Erscheinen unangetastet hier herum.
  4. Honoré de Balzac: Auch hier vermute ich, dass wahre Schätze zu heben sind, habe aber bis auf einige Inseln keinen blassen Schimmer, was der Kontinent der »Menschlichen Komödie« birgt.
  5. Heimito von Doderer: »Die Strudlhofstiege« war – wie bei so vielen – die »Einstiegsdroge«, und dann ist einfach immer wieder etwas dazwischen gekommen. Da muss noch einmal ganz von vorne begonnen werden.
  6. William Faulkner: Noch während des Studiums sind die blauen Bände des Diogenes Verlags ins Bücherregal gewandert und seitdem brav von Wohnung zu Wohnung mit umgezogen. Gelesen habe ich bislang einige Erzählungen, aber noch keinen einzigen der Yoknapatawpha-Romane, noch nicht einmal auf Deutsch. Statt dessen hat man irgenwann einmal den 10-bändigen Hemingway durchgelesen und ärgert sich heute über die verschwendete Zeit!
  7. Ludwig Tieck: Auch so ein Autor, bei dem man das Gefühl hat, nie an ein Ende kommen zu können, gleichgültig wieviel man auch immer von ihm gelesen hat. Wenn es nur wenigstens einmal die Novellen komplett wären …
  8. Marcel Proust: Da ist das Misstrauen gegen die deutsche Übersetzung der »Suche nach der verlorenen Zeit« die Hauptursache, dass ich beim ersten Versuch schon im Swann stecken geblieben bin. Vielleicht gelingt ein neuer Anlauf mit der überarbeiteten Fassung? Aber die Zeit, die Zeit …
  9. Johann Gottfried Herder: Auch so ein typischer Ausschnitt-Autor, also einer, von dem man immer nur die »Stellen« aufsucht und hier ein wenig in den »Ideen« schmökert und dort einige Seiten den »Briefen zur Beförderung der Humanität« folgt, sich aber nie zu einer gründlichen Lektüre entschließt, obwohl man weiß, dass von hier gewaltige Einflussströme ausgehen, denen man immer und immer wieder begegnet. Was einem allein bei Nietzsche alles auffallen könnte, wenn man Herder wirklich gründlich kennte, …
  10. Johann Wolfgang von Goethe: Ganz gleich, wieviel Goethe ich wie oft gelesen habe, das hört nicht auf …

Shortlists (1)

Markus Kolbeck aka Dostojewskij macht uns auf eine für Deutschland angeblich neue Modewelle aufmerksam: Shortlists. Solche Listen sind in allen Lifestylebereichen eine hilfreiche Orientierung, da sie in der Regel nach dem Muster »Blinde betreiben Farbberatung« erstellt werden. Auch Möchtegernlesern wird der Weg gewiesen!

Auch ich werde mich daher nicht lumpen lassen und eine neue Rubrik einführen, die in lockerer Folge Listen für Kenner und Liebhaber liefern wird. Heute:

10 Bücher, über die Sie beruhigt mitreden können, ohne sie gelesen zu haben:

  1. Die Bibel – zum einen ist sowieso klar, was drin steht, zum anderen kennt man ja die beiden wichtigen Teile aus dem Kino, zum dritten: Haben Sie sich mal den Stil von dem Autor angekuckt?
  2. Johann Wolfgang von Goethe: Faust – unfraglich ein Meisterwerk! Wenn auch der zweiten Teil seine Längen hat.
  3. Karl Marx: Das Kapital – unbedingt den Witz von dem Mann erzählen, der »Das Kapital« von Karl May liest und sich wundert, dass so wenig Indianer drin vorkommen! Ansonsten genügt der Satz: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«
  4. Herman Melville: Moby-Dick – betonen Sie, dass jetzt endlich eine deutsche Ausgabe vorliegt, die einen Bindestrich im Titel hat. Erwähnen Sie außerdem »diesen Übersetzer-Streit, den es da mal gegeben hat«.
  5. James Joyce: Finnegans Wake – ist anerkannt unlesbar! Vergessen Sie nicht, sich über diese »angebliche deutsche Übersetzung« zu mokieren.
  6. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften – hat von den anderen auch keiner gelesen, so lässt sich rasch Einigkeit erzielen. Sagen Sie: »In dem Fall liegt Reich-Ranicki aber mal daneben!«
  7. Arno Schmidt: Zettel’s Traum – sagen Sie einfach, dass Sie einen Bekannten haben, der das Buch besitzt. Nennen Sie aufs Geratewohl irgendein Gewicht für das Buch, das ihnen unvorstellbar hoch vorkommt; wenn Sie sich zu sehr vergriffen haben sollten, lachen Sie nachher und meinen es ironisch. Echte Kenner erkennt man daran, dass Sie den Titel mit Apostroph aussprechen!
  8. Hans Henny Jahnn: Fluß ohne Ufer – erwähnen Sie, dass der Autor früher Orgelbauer war und später Pferde-Urin getrunken hat, weil er das für gesundheitsfördernd hielt. Lassen Sie den Namen Hubert Fichte fallen und ziehen Sie wissend die Augenbrauen hoch!
  9. Patrick Süskind: Das Parfüm – haben ohnehin alle gelesen – oder wenigstens den Film gesehen, also einfach mitnicken! Fragen Sie: »Kennen Sie auch ›Die Taube‹?« Und wieder nicken! Lassen Sie sich nicht auf die Fangfrage ein, ob in »Die Taube« eine Gehörlose vorkommt!
  10. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft – einfach nur nicken und lässig abwinken: Klar, versteht sich von selbst!