Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo

»Merken Sie sich Herr Intendant«, entgegnete er, »daß alles und immer an denjenigen verkauft wird, der den rechten Preis zu bezahlen vermag.«

Dass dieser Roman hier frech unter der Rubrik Wiedergelesenes angezeigt wird, ist wahrlich eine Übertreibung. In der mütterlichen Bibliothek fand ich eine Ausgabe des Romans, die so um die 400 Seiten gehabt haben dürfte und die von einem Burkhard Busse angeblich „in Sprache u. Orthographie in e. zeitgemäße Form gebracht“ worden war. Die hier vorgestellte „vollständige Ausgabe“ – ob diese Beschreibung tatsächlich zutrifft, ist bei dtv auf Anhieb nicht immer zu entscheiden – verfügt über knapp 1.500 und noch dazu eng bedruckte Seiten. Grundlage ist wohl die Zollersche Übersetzung von 1846, die also unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans im französischen „Journal de Débats“ erfolgte, was noch heute eine Vorstellung davon gibt, was für eine Sensation der Roman bei seinem Erscheinen gemacht haben muss.

Was das Buch erzählt, ist einerseits rasch zusammenzufassen: Der Seemann Edmond Dantès aus Marseilles gerät aufgrund seiner Naivität ungewollt in die Verschwörung um Napoleons Rückkehr von der Insel Elba und wird durch ein Zusammentreffen boshaft herbeigeführter Umstände vom stellvertretenden Staatsanwalt in Marseilles ohne Prozess zu einer zeitlich unbegrenzten Haft auf einer Gefängnisinsel verurteilt. Als er nach 14 Jahren endlich fliehen kann, gerät er durch einen weiteren Zufall in den Besitz eines potenziell unbegrenzten Vermögens, mit dessen Hilfe er seine Rache in Szene zu setzen beginnt. Nach etwa einem Drittel erreicht Dantès als Graf von Monte Christo, einer seiner drei hauptsächlichen Tarnidentitäten, Paris, wo der mehr als erfolgreiche Vollzug seiner Rache an den vier Hauptbeteiligten beinahe den kompletten Rest des Romans füllt. Andererseits müsste man, um den zum Teil haarsträubenden Beziehungen und Verwicklungen der Figuren und Ereignisse zu- und untereinander gerecht zu werden, zahlreiche Seiten füllen. Das Buch strotzt nur so von Unwahrscheinlichkeiten – selbst Dumas macht sich auf den letzten Seiten über diese Zumutung lustig –, die als ein von Dantès’ langer Hand ausgetüftelter Plan verkauft werden. Dantès versteht seine Rache dabei als Mission from God (dies dürfte einer der offensichtlichen Gründe gewesen sein, weshalb Dumas’ Schriften 1863 auf dem Index gelandet sind), woran ihm zwar zwischenzeitlich Zweifel kommen, von denen ihn aber sein Autor glücklich gleich wieder befreien kann.

Der Umfang des Buches ergibt sich nicht nur aus den Verwicklungen der Handlung, sondern auch daraus, dass sich Dumas als ein Meister der Retardation erweist: Immer wieder tauchen neue Figuren im Text auf, denen auf umständlichste Weise erklärt werden muss, was bisher geschah (manche Episoden der Fabel werden gleich vier- oder fünfmal erzählt); alle Gespräche werden auf die umständlichste aller möglichen Weisen geführt (die Spitze stellt wahrscheinlich das Gespräch zwischen Dantès und Maximilien in Kapitel 94 dar, in dem der junge Liebhaber Maximilien von seiner vergifteten Liebe Valentine zu Monte Christo um Hilfe eilt, nur um zuerst seitenweise belangloses Gewäsche zu erzeugen, bis er auf den Punkt kommen kann); Handlungsfäden werden auf komplizierteste Weise in Gang gesetzt, nur um dann kurz vor ihrem Abschluss noch einmal umgebogen und in eine andere Richtung weiterentwickelt zu werden und was der Späße mehr sind. Wenn man als Leser nicht atemlos dem Abenteuer folgt, sondern sich den Spaß macht, die Absicht all dieser Verzögerungen und Windungen zu verstehen – immer noch mehr Seiten und damit Honorar aus der ohnehin schon viel zu langen Handlung zu schlagen! –, ist das Ganze nicht ohne Vergnügen zu lesen, wie trivial und unwahrscheinlich es auch sein mag. In summa: Einerseits eine hanebüchene Handlung, die im Detail immer wieder unter der notwendigen Flüchtigkeit ihres zu viel und viel zu schnell schreibenden Autors leidet, andererseits eine auch entgegen aller Wahrscheinlichkeit faszinierende Konstruktion.

Neben diesem formalen Aspekt dürften der Anschluss an die historischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und Dumas’ karikierende Zeichnung der Pariser besseren Gesellschaft wesentlich zu dem Erfolg des Romans beigetragen zu haben: Dantès wird unmittelbar Opfer einer Gesellschaft, die die Verwerfungen ihrer eigenen Zeitgeschichte so weit wie möglich unter den Teppich kehren möchte, um den Ablauf ihrer Geschäfte und Karrieren nicht zu stören. Und er benutzt für seine Rache die Strukturen eben dieser Gesellschaft, in der es an der Oberfläche um Ehre und Ansehen, im Wesentlichen aber immer nur um Geld geht. Dumas erfüllt mit diesem Zeitportrait die beinahe schon moderne Maxime, Kunst gerade dort zu machen, wo man sie am wenigsten erwartet.

Der Roman verdient, in seiner ganzen Komplexität und Trivialität gelesen zu werden. Ich rate daher dringlich davon ab, eine der gekürzten bzw. bearbeiteten Ausgaben zu lesen oder sich mit einer der wirklich zahlreichen Verfilmungen zufrieden zu geben. Wer ein echtes Meisterstück des Fortsetzungsromans – einer der wichtigsten Romanformen des 19. Jahrhunderts – erleben will, greife zu einer möglichst vollständigen Ausgabe wie dieser.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo. dtv 13955. München: dtv, 72019. Broschur, 1495 Seiten. 20,– €.

4 Gedanken zu „Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo“

  1. Hallo Marius,
    es sind nicht nur die Kürzungen; inzwischen sind auch Dreckübersetzungen im Handel, die nicht mal das Niveau des Google-Übersetzers, geschweige denn DeepL, erreichen.

    Aus Dumas, Marguerite von Valois (Ausgabe epubli, sehr lesenswert in alter Übersetzung):
    „Admiral Coligny, La Rochefoucault, der junge Prinz de Condé, Téligny, kurz alle Führer der Partei, triumphierten, als sie im Louvre diejenigen so mächtig und in Paris so willkommen sahen, die drei Monate zuvor König Karl waren und Königin Catharine hätte sich an Galgen aufgehängt, die höher waren als die von Attentätern.“

    Dazu kommt noch bei Hörbüchern die unklare Darstellung, auf welche Ausgabe sich die Angabe „ungekürzte Ausgabe“ bezieht.

    1. Das mit den „vollständigen Ausgaben“ ist überhaupt so eine Sache (ich hatte das mit dem Verweis auf die Ivanhoe-Ausgabe ja angedeutet): dtv zum Beispiel liefert bei „Graf“ und „Musketiere“ sprachlich modernisierte Ausgaben der Zoller-Übersetzungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hier bezieht sich „vollständig“ auf den Text von Zoller; auf welcher Grundlage Zoller übersetzt hat, lässt sich nur raten – aufgrund der zeitlichen Nähe handelt es sich wahrscheinlich um die Buch-Erstausgabe, aber sicher ist das auch nicht –, und man müsste jetzt eigentlich zum halben Dumas-Fachmann mutieren und sich erst einmal kundig machen, ob es auf Französisch einen gesicherten Text gibt, der auch dokumentiert, welche Unterschiede es zwischen den Zeitungs- und dem bzw. den Buchtexten gibt etc. Auf Grundlage dieser Ausgabe müsste dann mal neu übersetzt werden. Aber das zahlt heute natürlich keiner mehr.

      Bei Boer (https://www.boerverlag.de/Dumas_Werke.html) bekommt man wenigstens die Zollersche Übersetzung wieder ungehudelt im Druck, allerdings zu ganz wundervollen Preisen. Die eBook-Ausgaben sind zum Teil von einer unlesbaren Qualität; da muss man ein wenig suchen, bis man eine ordentlich gegengelesene Ausgabe findet.

      Wenigstens für mich ist das allerdings alles nicht wirklich wichtig genug. Jetzt kommen noch die „Musketiere“ und dann eventuell noch „Georges“ und dann hat es sich fürs Erste mit Dumas. Ich habe allerdings vor, dem Fortsetzungsroman noch eine Weile zu folgen, so Sue und Gutzkow und Konsorten. Mal sehen, wie lange das Interesse anhält..

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