Jahresrückblick 2013

Auch für das vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren des Jahres. Dieses Mal mit einer strengen Teilung von Klassikern und Neuerscheinungen.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2013:

  1. Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund – ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
  2. Theodor Fontane: Effi Briest – ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist.
  3. Uwe Johnson: Jahrestage – einer der großen und bedeutenden deutschen Romane des 20. Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2013:

  1. David Markson: Wittgensteins Mätresse – wahrscheinlich nicht wirklich schlecht, aber eine Enttäuschung gemessen an der Stellung, die dem Buch in der Geschichte der literarischen Postmoderne zugeschrieben wird.
  2. Friedrich von Borries: RLF – triviales, unverbindliches und schlecht erfundenes Gefasel um einen Volldeppen aus der Werbebranche.
  3. Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit – ein weiteres Beispiel dafür, wie abgrundtief dumm hoch intelligente und gebildete Menschen sein können.

David Markson: Wittgensteins Mätresse

Weswegen vielleicht jetzt alles leicht in die Länge gezogen erscheint, oder sogar astigmatisch.

Markson_MätresseEin in vielerlei Hinsicht seltsames Buch: Es beginnt vielleicht damit, dass es, obwohl bereits 1988 in den USA erschienen und dort rasch als eines der Muster postmoderner Literatur gehandelt, erst jetzt auf Deutsch erscheint und das wohl auch nur, weil sich die Übersetzerin aus echter Begeisterung ohne Auftrag ans Übersetzen und sich persönlich für sein Erscheinen stark gemacht hat. David Marksons frühere Bücher (Krimis und Western) waren wohl auf Deutsch erschienen, aber in dem Moment, in dem Markson damit begann, Literatur ohne klares Genre zu schreiben, schien das Interesse auf deutscher Seite eingeschlafen zu sein.

Das Buch ist eine Variation der Endzeit-Robinsonade: Die Erzählerin Kate scheint der letzte Mensch auf Erden zu sein. Wie und weshalb es zum Aussterben der Menschheit, ja wahrscheinlich allen tierischen Lebens auf Erden gekommen ist, wird vernünftiger Weise verschwiegen. Kate hat von den USA aus, die Beringstraße querend, sich durch Asien nach Europa durchgeschlagen und ist auf demselben Weg auch wieder dorthin zurückgekehrt. Sie glaubt, vielleicht ein einziges Mal einen anderen Menschen, einmal eine Katze gesehen zu haben, bezweifelt aber wenigstens zeitweilig, dass ihrer Wahrnehmung auch eine Realität entsprach. Sie lebt nun an der Pazifikküste der USA in einem Strandhaus. Sie war einst Malerin (und hat deshalb in den großen Städten Europas in den berühmten Museen gelebt), verbringt aber ihre Tage nun offensichtlich hauptsächlich vor der Schreibmaschine, in die sie den vorliegenden Text tippt. Kate selbst geht davon aus, dass sie während ihrer Zeit in Europa eine Phase des Wahnsinns durchlebt hat, die sie aber jetzt hinter sich glaubt.

Es hat offenbar wenig Zweck, nach der Wahrscheinlichkeit einer solchen Konstruktion zu fragen. Ein Verschwinden allen tierischen Lebens auf Erden, zumindest an Land, würde auch den Untergang wenigstens der Blütenpflanzen unmittelbar nach sich ziehen. Da aber die Erzählerin auch weiterhin Rosen schneidet und Gemüse erntet, müssen wenigstens Insekten überlebt haben, die aber ohne ihre Fressfeinde unter den Wirbeltieren in wenigen Generationen zu einer solchen Plage geworden sein müssten, dass die Erzählerin sicherlich davon zu berichten wüsste. Die Realität der Fiktion ist also schon am Ursprungspunkt ihrer Erfindung äußerst brüchig. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass der Verlag im Waschzettel suggeriert, dass es sich bei der beschriebenen Wirklichkeit auch um ein Wahngebilde der Erzählerin handeln könnte. Eine solche Deutung scheint mir der Text aber eher nicht zu stützen.

Der gesamte Roman lebt einzig von dem einen Grundeinfall, eine Erzählerin zu erfinden, die niemanden mehr hat, dem sie erzählt, ja, die nicht einmal mehr selbst die von ihr erzeugte Erzählung nachliest, sondern ausschließlich noch erzählt, um die Zeit zu füllen. Es handelt sich um die letzte Zuspitzung des literaturtheoretischen Konzepts vom Erzählen als Mittel zum Überleben. Da die Essenz der Erzählung aber vollständig auf den Akt des Erzählens reduziert ist, gerät alles andere weitgehend beliebig: Formal könnte der Text statt 300 auch ebenso gut 3.000 oder 30 Seiten umfassen, inhaltlich ergibt sich aus dem ehemaligen Beruf der Erzählerin gerade noch ein Schwerpunkt bei Künstler-Anekdoten, aber ansonsten kreist das Buch ausschließlich um sich selbst. Da niemandem mehr erzählt wird, ist es auch völlig gleichgültig, ob das Erzählte irgend einer Realität entspricht, und da das Gedächtnis der Erzählerin nicht das beste zu sein scheint, geht alles wild durcheinander: Personennamen und Anekdoten werden frei miteinander kombiniert, Ereignisse aus dem Leben der Erzählerin immer wieder neu variiert, Tatsachen nach Laune erfunden, korrigiert, erneut verändert und widerrufen. Der Text ist nur noch Text und verfügt über keinerlei objektivierende Referenz mehr. Er ist daher auch gänzlich inhaltslos, reine Fiktion ohne jede weitere Funktion.

Da das Fundament dieses selbstverliebten Karussells alles in allem und trotz dem exzessiven Namedropping doch recht dünn ist, hat sich zumindest bei mir nach 100 Seiten zunehmend Langeweile eingestellt: Hat man einmal das Prinzip des erzählerischen Fleischwolfs durchschaut, wird es rasch fade, da es immer und immer wieder dasselbe Fleisch ist, das durchgedreht wird. Nicht besser wird es dadurch, dass der Autor eine recht eigentümliche Art akademischen Humors pflegt:

Was ich weiß, ist, dass Martin Heidegger einmal ein Paar Schuhe besaß, die in Wirklichkeit Vincent van Gogh gehört hatten, und die er anzuziehen pflegte, wenn er im Wald spazieren ging.

Ich habe übrigens keinen Zweifel, dass auch das eine Tatsache ist.

Da lacht der Philosophieprofessor!

Das Buch wäre in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in Europa unter das Schlagwort »experimentelle Literatur« gefallen, und es bleibt ebenso äußerlich und weitgehend beliebig wie ein Großteil der damaligen Produkte. Wie meinte Arno Schmidt so richtig:

Wer ein Buch schreiben will, muß viel zu sagen haben: meistens mehr, als er hat.

In diesem Sinne.

David Markson: Wittgensteins Mätresse. Aus dem Englischen von Sissi Tax. Berlin: Berlin Verlag, 2013. Pappband, Lesebändchen, 336 Seiten. 22,99 €.