Leg’ dich nur ruhig schlafen

Ich war etwa 8 Jahre alt, Du 13. In unserem Kinderzimmer saßen wir fünf Brüder eines Abends, ein jeder an seinem kleinen Tischchen bei einer Talgkerze, mit unseren Schularbeiten beschäftigt. Ich hatte für den Prüfungstag, für den morgenden Tag also, in ein Heft die Gedichte abzuschreiben, die wir im Laufe des Semesters auswendig gelernt hatten. Eben hatte ich den letzten Vers abgeschrieben, als ich so ungeschickt war, das Tintenfaß anstatt der Streusandbüchse zu ergreifen und es über das Heft auszuleeren. Ich heulte jämmerlich; ich war wohl wehleidig. Der Schaden war freilich kaum wieder gut zu machen, weil meine Schreibfertigkeit damals noch kaum ausreichte, 32 Seiten in einer Nacht zu leisten. Für den Spott brauchte ich nicht zu sorgen. Du aber kamst an mich heran, überblicktest das Unheil prüfend und sagtest dann: »Leg’ dich nur ruhig schlafen; ich werde dir die paar Seiten abschreiben.« Ich tröstete mich schnell, schlief wirklich bald ein, und des Morgens fand ich das dumme Heft in Deiner schönen Handschrift auf meinem Tischchen, neben der herabgebrannten Kerze.

Fritz Mauthner
Wörterbuch der Philosophie

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha

Mit einem besonderen Gruß an den Buchladen Zur Schwarzen Geiß.
Ich möchte schweigen, aber ich soll nicht schweigen und ich kann nicht schweigen.

978-3-905707-45-8Fritz Mauthner (1849–1923) dürfte sich hart an der Grenze des kulturellen Gedächtnisses bewegen. Während meines Studiums waren seine »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« noch viel besprochen, wenn auch wenig gelesen. Damals erschien auch noch einmal seine umfangreiche Geschichte des Atheismus im Abendland, und sein als Wörterbuch unbrauchbares, als Lektüre aber anregendes »Wörterbuch der Philosophie«, das er selbst als eine Fortsetzung der »Beiträge« verstand, war bei Diogenes als überdimensioniertes Taschenbuch lieferbar. Vom Dichter Fritz Mauthner wollte man aber schon damals nichts mehr wissen. Um so mehr überraschte es mich, dass mir jetzt eine Neuausgabe seiner Erzählung um den Tod Gautama Buddhas in die Hände fiel.

Der 1913 erstmals erschienene Text ist eine direkte Reaktion auf die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzende Popularisierung buddhistischen Gedankengutes in Europa. Erzählt werden die letzten Tage Gautama Buddhas, stofflich weitgehend orientiert an den Legenden. Inhaltlich allerdings nimmt Mauthner, ähnlich wie es später auch Hermann Hesse in seinem »Siddhartha« tun wird, eine deutlich distanzierte Haltung zu der offenbar als zu pessimistisch empfundenen Lehre ein. Mauthner lässt seinen Buddha nicht nur die Abkehr von allem Weltlichen hin zu einer Bewunderung der Schönheit der Welt und des Lebens überwinden, er erfindet auch eine letzte Lehrpredigt Buddhas hinzu, die sogenannte Schmetterlings-Predigt, in der die bunten Flattermänner zum großen Paradigma einer lebensbejahenden Existenz ohne Wollen und Denken geraten.

Etwas spannender als diese religiöse Gymnastik gerät die Beschreibung der Jünger des Erleuchteten. Während sich Buddha um letzte Einsichten und die Überwindung des Sterbens bemüht, finden unter seinen Schülern die ersten Verteilungskämpfe um Macht und Einfluss in der zukünftigen buddhistischen Kirche statt. Hier findet sich Mauthners eigentliche Absage an den Buddhismus: Die Lehre Buddhas ist diskutabel, der kirchlich organisierte Buddhismus ist es nicht.

Ergänzt wird die Erzählung durch einige Seiten mit Anmerkungen, in denen Mauthner auf die Quellenlage und die moderne Rezeption des Buddhismus im Westen eingeht. Sprachlich dürfte die Erzählung, ebenso wie Hesses Pendant, heute als etwas schwülstig empfunden werden, ansonsten ist sie ein nettes, kleines Schmuckstück für alle, die sich ein wenig für Buddhismus oder Fritz Mauthner interessieren. Hervorzuheben wäre auch die typographische Gestaltung des Bandes, die das gängige Niveau deutlich überragt; wenn nur das Büchlein nicht so viele Druckfehler hätte.

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Konstanz: Libelle, 2010. Pappband, 125 Seiten. 18,90 €.

(Geschrieben für die Reihe 100 Seiten beim Umblätterer, wo
eine leicht gekürzte Fassung dieses Textes erschienen ist.)