Der weiße Neger Wumbaba kehrt zurück

wumbaba2Axel Hacke hat eine Fortsetzung seines kleinen »Handbuchs des Verhörens« geliefert: Nach dem Erscheinen von »Der weiße Neger Wumbaba« hat Hacke in Briefen und E-Mails und auf den Lesereisen mit dem Büchlein soviel neues Material bekommen, dass er gleich zwei Nachfolgebändchen liefern wird. Der erste – »Der weiße Neger Wumbaba kehrt zurück« – ist soeben erschienen und als Abschluss der Trilogie ist »Das Vermächtnis des weißen Negers Wumbaba« geplant.

Auch diesmal versammelt Hacke wieder Fälle des Verhörens von Gedichten, Lied- und anderen Texten. Diesmal ist sogar ein hochliterarischer Fall dabei: Thomas Manns »Buddenbrooks« – aber ich wll nicht zuviel verraten. Nur soviel vielleicht noch: Hacke liefert auch eine »persönliche Hitparade deutschsprachiger Verhörsänger«, auf deren erstem Platz Herbert Grönemeyer – »The King of Wumbaba« – landet, unter anderem mit der schon klassisch zu nennenden Verhörzeile: »Sein Schamhaar liegt in meinem Bett …«!

Auch dieser Band wurde wieder kongenial von Michael Sowa in seiner typisch lakonischen und ironischen Art illustriert. Für Fans des weißen Negers Wumbaba ein absolutes Muss! Auch zum Verschenken an Leute mit Sinn für Sprachwitz nur zu empfehlen.

Axel Hacke & Michael Sowa: Der weiße Neger Wumbaba kehrt zurück. Zweites Handbuch des Verhörens. München: Antje Kunstmann, 2007. 72 Seiten, Pappband, fadengeheftet. 8,90 €.

Peter Weiss: Die Notizbücher

weiss_notizPeter Weiss gehörte unter den linken politischen deutschen Autoren nach Bertold Brecht zu den artistisch begabtesten. Seine Karriere begann er als Maler und setzte sie als Filmemacher fort, bis er 1960 mit dem hoch artifiziellen Text »Der Schatten des Körpers des Kutschers« in der Bundesrepublik als Autor Aufsehen erregte – nicht unbedingt bei einem breiten Publikum, aber bei Kritikern und Autorenkollegen, die rasch begriffen, dass sie hier so etwas wie einen Gründungstext für das vorliegen hatten, was sie später »Experimentelle Literatur« nennen sollten. Seine eigentlichen Erfolge feierte Weiss dann aber in den 60er Jahren als Dramatiker: »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats …«, »Die Ermittlung«, »Gesang vom Lusitanischen Popanz« und »Viet Nam Diskurs« waren große nationale und zum Teil auch internationale Erfolge, die durchweg kontroverse Reaktionen hervorriefen. Erst nachdem »Trotzki im Exil« und das Stück »Hölderlin« nicht an diese Erfolge anschließen können, wandte sich Weiss enttäuscht von der Bühne ab und konzentriert sich ganz auf die erzählende Prosa.

In den Jahren von 1970 bis 1980 entstehen die drei Bände der »Ästhetik des Widerstandes«; auch sie kontrovers aufgenommen, aber unfraglich als großer Roman der 70er Jahre anerkannt. Als der letzte Band im Jahr 1981 erscheint, wird er begleitet durch die Veröffentlichung der »Notizbücher 1971–1980«, die Weiss bewusst an die Arbeitsjournale Bert Brechts angelehnt hatte. Sie liefern einen Einblick in den Entstehungsprozess der »Ästhetik des Widerstandes« und werden zu einem überraschenden Verkaufserfolg. Weiss entschließt sich deshalb, auch die Notizbücher aus dem ersten Jahrzehnt seiner schriftstellerischen Karriere entsprechend aufzubereiten. So erscheinen ein Jahr später – bereits postum – auch die »Notizbücher 1960–1971«.

Weiss-Kenner wissen schon lange, dass es sich bei den veröffentlichten Notizbüchern – trotz gegenteiliger Bekundungen von Peter Weiss – um literarische Bearbeitung der eigentlichen Quellen handelt. Die Originale liegen zusammen mit dem übrigen literarischen Nachlass von Peter Weiss im Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. Es handelt sich um 71 Notizbücher, darunter auch die von Weiss in den »Notizbüchern« immer wieder erwähnten »großen Notizbücher«, mit zusammen 9.700 Seiten. Mit der nun in der Digitalen Bibliothek vorgelegten Edition wird das Konvolut der Originale erstmals vollständig zugänglich gemacht.

Die Notizbücher umfassen die Zeit ab 1950 bis 1982, wobei erst ab 1962 eine weitgehend geschlossene Folge vorliegt. Weiss hatte sein Notizbuch immer dabei und hielt darin Einfälle, Briefentwürfe, Buchempfehlungen, Adressen und Telefonnummern, Skizzen etc. fest. Die elektronische Edition gibt den Text-Bestand der Notizbücher so wieder, dass er auch ohne Faksimiles gut nachvollzogen werden kann. Dort, wo Weiss Skizzen oder Illustrationen einfügt, werden die entsprechenden Seiten sowohl textlich umgesetzt als auch als Abbildung beigegeben. Auch die zahlreichen beschrifteten Lesezeichen, die Weiss benutze, um bestimmte Passagen rasch auffinden zu können, sind sorgfältig und vollständig dokumentiert. Ergänzend hat man den Text der beiden bei Suhrkamp erschienenen »Notizbücher« beigegeben, hierbei allerdings auf die zahlreichen Bilder der gedruckten Ausgaben verzichtet, was vermutlich aus lizenzrechtlichen Gründen geschah.

Diese CD-ROM-Ausgabe der Notizbücher von Peter Weiss wird für Weiss-Liebehaber und -Kenner sowie für die Weiss-Forschung ein unverzichtbares Arbeitsmittel sein. Die Vorteile der Ausgabe liegen natürlich nicht nur in den beigegebenen Erläuterungen, Tabellen und Registern, sondern auch in den für Ausgaben der Digitalen Bibliothek selbstverständlichen Vorzügen der Volltextsuche, die eine effiziente und vollständige Durchforstung des Textbestandes nach bestimmten Themen, Motiven oder Personen erst möglich macht. All dies zu einem bei einer gedruckten Ausgabe gänzlich undenkbaren Preis von nur 45,– €, der es auch dem nur beiläufig an Weiss Interessierten möglich macht, zu den Quellen vorzudringen.

Peter Weiss: Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Jürgen Schutte in Zusammenarbeit mit Wiebke Amthor und Jenny Willner. Digitale Bibliothek Band 149. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 45,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Nicht allein der Untergang des Abendlandes …

spengler1Der Status von Spenglers Hauptwerk als Klassiker ist allein dadurch belegt, dass sein Titel als eine feste Größe in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist und sich der Name des Autors fest mit dieser Phrase verbunden hat, ohne dass der Großteil der heutigen Benutzer mehr als eine vage Vorstellung davon haben, welche Gedanken und Begründungszusammenhänge am Ursprung der Phrase mit diesen Worten verbunden wurden. Spenglers Hauptwerk ist dazu auch zu umfang- und voraussetzungsreich; zudem ist seine Sprache dicht und durchweg anspruchsvoll und verstellt eine Kenntnisnahme en passant. Trotz diesen einigermaßen hohen Hürden muss man den ersten Band des »Untergangs« wahrscheinlich als eines der einflussreichsten philosophischen Werke der Weimarer Zeit ansehen: Am Ausgang des Ersten Weltkrieges erschienen, erlebte er in kürzester Zeit zahlreiche Auflagen; 1922 erschien der zweite Band und ein Jahr später die Neubearbeitung des ersten, ohne den anfänglichen Erfolg wiederholen zu können, der im Jahr 1918 sicherlich wesentlich dem Zusammentreffen von Katastrophenstimmung und Titel zu danken gewesen war.

»Der Untergang des Abendlandes« war vielfältiger und nicht immer sachlicher Kritik ausgesetzt. Allerdings stammt die einsichtsvollste Rezeption des Buches wahrscheinlich von Theodor W. Adorno, dessen immer noch sehr lesenswerter Aufsatz »Spengler nach dem Untergang« (auf der Grundlage ein Vortrags von 1938 in Englisch bereits 1941 erschienen; auf deutsch 1950 im »Monat«) eine intensive und Spengler durchaus sehr ernstnehmende Auseinandersetzung dokumentiert.

Wenn die Geschichte der Philosophie nicht so sehr in der Lösung ihrer Probleme besteht als darin, daß die Bewegung des Geistes jene Probleme wieder und wieder vergessen macht, um die sie sich kristallisiert, dann ist Oswald Spengler vergessen worden mit der Geschwindigkeit der Katastrophe, in die, seiner eigenen Lehre zufolge, die Weltgeschichte überzugehen im Begriff ist. Nach einem populären Anfangserfolg hat sich die öffentliche Meinung in Deutschland sehr rasch gegen den ›Untergang des Abendlandes‹ gekehrt. Die offiziellen Philosophen warfen ihm Flachheit vor, die offiziellen Einzelwissenschaften Inkompetenz und Scharlatanerie, und im Betrieb der deutschen Inflations- und Stabilisierungsperiode wollte niemand etwas mit der Untergangsthese zu schaffen haben. Spengler hatte sich mittlerweile durch eine Reihe kleinerer Schriften anmaßenden Tones und wohlfeiler Antithetik so exponiert, daß die Ablehnung dem gesunden Lebenswillen leicht genug wurde. [GS 10., S. 47.]

Die digitale Ausgabe von Spenglers Hauptwerk innerhalb der Digitalen Bibliothek versammelt zusätzlich auch die von Adorno angeführten ›kleineren Schriften‹, so dass eine konzise Ausgabe Ausgewählter Schriften entstanden ist, die – und das ist ein besonderer Vorzug dieser Ausgabe – durch die Fragmente von Spenglers »Frühzeit der Weltgeschichte« abgerundet wurde.

Dass es bis heute ein populäres Interesse an Spenglers »Untergang« gibt, belegen die zahlreichen Buchausgaben. Allerdings lohnt eine gründliche Spengler-Lektüre nicht nur aus modisch-pessimistischer Perspektive, sondern auch aus kulturhistorischer: Bei Spengler überschneiden sich zwei bedeutende Einflusslinien des 19. Jahrhunderts – sowohl Goethe als auch Nietzsche haben Spenglers Denken geprägt, wie Spengler selbst gleich zu Anfang seines »Untergangs« betont.

Während Spengler von Goethe wesentlich die morphologische Grundidee seines Geschichtsbildes bezieht, also die Vorstellung davon, auch Kulturen besäßen als quasi organische Entitäten natürliche Phasen wie Jugend, Reife und Alter, liefert ihm Nietzsche die Vorstellung eines auf Macht und Erweiterung der Herrschaft gerichteten Willens, der als natürliche Triebfeder des geschichtlichen Prozesses begriffen wird. Diese Kombination, die dem Goetheschen Menschen- und Weltbild letztendlich wesentlich fremd werden muss, muss als eine der eingängigsten konservativ-pessimistischen Geschichtsphilosophien des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Sie hat in ihrer grundlegenden Simplizität durchaus die Kraft zur Mythenbildung.

Dies soll nicht bedeuten, dass sich Spenglers komplexes und kenntnisreiches Werk, das sich mit einer Fülle von kulturellen Formen und Erscheinungen auseinandersetzt, auf eine solch einfache Formel reduzieren ließe oder dass eine solche Reduktion wünschenwert wäre. Im Gegenteil spiegeln Spenglers Werke in mehrfacher Brechung den widersprüchlichen Reichtum an lebensweltlichen und philosophischen Konzepten der Weimarer Kultur und erhellen manche Züge im Denken etwa Stefan Georges, Gottfried Benns oder Ernst Jüngers.

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Ausgewählte Schriften. Digitale Bibliothek Band 152. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Oliver Gehrs: Der Spiegel-Komplex

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Weitgehend eine journalistische Luftnummer: Weder für das offensichtlich beabsichtigte Skandalbuch noch für eine Biographie Austs wird ausreichend Material präsentiert. Zudem sollte der Titel besser »Mein Aust-Komplex« heißen, denn bis der Autor mit seinem Objekt tatsächlich beim Spiegel in Hamburg angekommen ist, sind zwei Drittel des Buches vorüber.

Das Buch ist geprägt durch einen mäkelnden Grundton, den Gehrs wahrscheinlich für eine Form des kritischen Journalismus hält. Selbst wenn Aust einmal etwas fraglos richtig macht, hat Gehrs noch etwas auszusetzen. Was Gehrs letztlich auszusetzen hat, bleibt aber unklar: Dass Aust sein Fähnlein nach dem Wind hängt, versteht sich von selbst – er ist ein Journalist; dass Aust als Journalist das zum Thema macht, was ihn selbst betrifft, versteht sich ebenso von selbst – er ist ein Mensch; dass Aust (selbst nach dem Urteil Gehrs) viel arbeitet, um Geld zu verdienen, versteht sich wiederum von selbst – auch Gehrs dürfte ein Buch mit dem Titel »Der Spiegel-Komplex« nicht aus rein altruistischen Motiven heraus geschrieben haben.

Gehrs ist seinem Gegenstand weder sprachlich noch intellektuell oder moralisch gewachsen. So deutet er etwa an vier verschiedenen Stellen des Buches eine Beziehung zwischen Kati Witt und Aust an (Witt habe so unsägliche Dinge getan, wie Aust in der Redation des Spiegel abzuholen oder mit ihm im Berliner Restaurant Borchardt zu ›schmusen‹), ohne dass auch nur an einer Stelle klar würde, was er damit eigentlich mitteilen will. Wen geht das etwas an? Und was soll es dem Leser über Aust oder den Spiegel sagen? An anderen Stellen macht er sich über Austs bevorzugte Hemdenfarbe, seine Körpergröße oder seine Brille lustig. Das alles ist sehr dürftig und höchstens ein Beweis von schlechtem Geschmack. Kants Kategorischer Imperativ lautet in Gehrs Fassung: »Handle stets so, wie Du auch behandelt werden möchtest.« Vielleicht erklärt ihm bei Gelegenheit mal ein gutmeinender Philosoph den Unterschied zwischen dem Kategorischen Imperativ und der Goldenen Regel. Zum Ausgleich lernen wir dann noch eine neue Art von Latein kennen:

… nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem Kaspar Hauser am 14. Dezember 1833 von einem Unbekannten mit einem Messer so schwer verletzt wurde, dass an der Stelle nun ein Gedenkstein steht. »Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Art getötet«, so lautet die lateinische Inschrift.

Nein, die Inschrift des Gedenksteins lautet »Hic occultus occulto occisus est«, was soviel bedeutet wie das, was Gehrs als Zitat anführt. Doch vielleicht meint Gehrs auch, eine laxe Sprache und unpräzise Gedanken seien Tugenden der Polemik. Wenigstens darin würde er sich täuschen.

Die merkwürdigste Stelle im ganzen Buch war für mich aber diese:

Jahre danach stellt Aust einen jungen Redakteur nicht ein, weil der ihm verschweigt, über den Fall berichtet zu haben. »In Bewerbungs­gesprächen«, schreibt Aust in den Brief mit der Absage, »wird nicht gelogen.«

Da habe ich mir still ein »inde ira et lacrimae?« an den Rand notiert.

Oliver Gehrs: Der Spiegel-Komplex. München: Droemer, 2005. 335 Seiten. 19,90 €.

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten

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Eine Zweitlektüre, diesmal gekontert durch das Buch »Der letzte Mythos der RAF« von Butz Peters. Die entscheidende Schwierigkeit im Umgang mit Heins Text ist damit zugleich markiert: Der Leser ist bei einer unbelehrten Lektüre dazu geneigt, Heins Darstellung des Todes der fiktiven Figur Oliver Zurek für die Wirklichkeit des Todes von Wolfgang Grams zu halten. Ein solcher Zugriff – wie er etwa auch Peters’ Verständnis des Romans zugrunde zu liegen scheint – verstellt wahrscheinlich eher den Blick auf das wesentliche Thema des Buches. Am besten löst man sich bei der Lektüre – so schwer das auch immer fallen mag – gänzlich von der Frage, was in Bad Kleinen »wirklich« geschehen ist.

Hein erzählt in der Hauptsache die Geschichte Dr. Richard Zureks, eines pensionierten Oberstudiendirektors, und seiner Familie, nachdem einer der Söhne bei einem Zugriff von Polizei und GSG 9 ums Leben gekommen ist. Die Umstände seines Todes und die anschließende Behandlung des Falles in dem Medien entsprechen in weiten Teilen denen, die den Tod von Wolfgang Grams in Bad Kleinen im Jahr 1993 begleitet haben. Dabei vermeidet Hein sorgfältig jede Tatsachenfeststellung zu den realen Ereignissen in Bad Kleinen. Allerdings ist der Roman weitgehend in der personalen Perspektive Richard Zureks erzählt, der bis zum Ende des Romans davon überzeugt ist, dass sein Sohn in »Kleinen« von einem GSG-9-Mitglied erschossen worden ist. Diese perspektivische Beschränkung, die für die Intention des Romans wesentlich erscheint, bringt es mit sich, dass es sich leicht als ein Plädoyer für die These von der Ermordung Wolfgang Grams’ mißverstehen lässt – was denn auch in der Vergangenheit ausführlich geschehen ist.

Tatsächlich dürften aber nicht diejenigen Texteile die wesentlichen sein, die mehr oder weniger an der Wirklichkeit entlang geschrieben sind, sondern gerade diejenigen, in die Hein die Arbeit der Fiktion investiert hat. Der Protagonist des Buches ist der Vater des Toten, Richard Zurek, ein staatsgläubiger und demokratietreuer Lehrer und Schulrektor, der an Disziplin und Ordnung glaubt und der seine Schüler mit ihrem Mißtrauen gegen den deutschen Staat und seine Politiker im besten Falle für naiv, im schlimmsten für Idioten hält. Vor dem Tod seines Sohnes stehen für ihn die Gerechtigkeit der staatliche Ordnung und die Aufrichtigkeit ihrer Repräsentanten fraglos fest; nach den – aus seiner Perspektive – »ungeklärten« Ereignissen von Kleinen entwickelt Richard Zurek zunehmend Zweifel an seiner bisheriger Haltung.

Letztlich geht dieser umstürzende Prozess soweit, dass Richard Zurek in einer pathetischen und nicht unkomischen Szene seinen Eid als Beamter öffentlich widerruft. Diese Wandlung Richard Zureks vom Paulus zum Saulus ist gleichbedeutend mit einer religiösen Wandlung: Sein Glaube an den Staat wird abgelöst von seinem unbedingten Glauben an die Unschuld seines Sohns, seine abstrakte Treue zum Staat abgelöst von der konkreten Liebe zu seinem Sohn. Zurek scheint erst am Tod seines Sohnes klar zu werden, welche Macht familiäre Bindungen über den Menschen haben. Diese innere Wandlung Zureks ist zugleich Trauerarbeit: Es ist kein kleiner Augenblick des Romans, wenn Zurek nach dem Ende des letzten Prozesses in der Sache seines Sohnes feststellt: »Ich glaube, ich habe erst heute verstanden, dass er tot ist.« [S. 263]

Die interessanteste Figur des Romans ist aber wahrscheinlich nicht der Protagonist Richard Zurek, sondern seine Frau Rike. Bedingt durch die weitgehend personale Erzählweise des Romans erscheint sie beinahe als eine Randfigur, erweist sich in einigen wenigen starken Szenen als eine praktische und in der Wirklichkeit verwurzelte Person, der es gelungen ist, ihren idealistischen Ehemann mit ihrer Klugheit durchs Leben zu bringen, ohne ihn ändern zu wollen oder zu bevormunden. Man lernt ein wenig bedauern, dass Rike Zureks Geschichte in weiten Teilen des Buches durch die ihres Mannes verdeckt und überschrieben ist. Aber man kann auf 270 Seiten nicht alles haben.

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005.) Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2006. Broschur, 270 Seiten. 8,90 €.

Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren

haasHanns Dieter Hüsch hat einmal beiläufig vorgeschlagen, einen Verein zum Schutz aussterbender Tonarten zu gründen; immer wenn er zum Beispiel etwas in C-Dur bringe, sage ihm irgendein Musiker, das können man nicht mehr machen. Solch »aussterbende Tonarten« gibt es – cum grano salis – natürlich auch in der Literatur. Eine von ihnen ist in gewissem Sinne die Liebesgeschichte, die zwar wohl nie aus der Literatur verschwinden wird, heute aber mehr denn je unter dem Generalverdacht von Trivialität und Verkitschtheit steht – nicht zu Unrecht, wenn man sich den überwiegenden Teil der Produktion einmal anschaut.

Was also macht ein Autor, wenn ihm eine Liebesgeschichte zufällt, und noch dazu eine, die unter einer heftigen Neigung zum Klischee leidet: Da vergißt einer die erste Verliebtheit seiner Jugend sein Leben lang nicht und beschäftigt sich deshalb jahrelang mit dem Wetter an dem Urlaubsort seiner Eltern, an dem er dieser Jugendliebe begegnet ist. Schließlich tritt er mit seinem obskuren Spezialwissen bei »Wetten, dass..?« auf und knüpft auf diesem Weg wieder an seine alte Liebe an. Er fährt an den alten Urlaubsort, nur um dort seine ehemalige Geliebte kurz vor der Hochzeit mit seinem ehemaligen Erzrivalen zu finden. Die Geschichte spitzt sich dann noch dramatisch zu, und einige Offenbarungen und späte Einsichten stehen ins Haus. Alles in allem für einen einigermaßen ernsthaften Schriftsteller wahrscheinlich ein Fall der Kategorie »Kann man nicht mehr machen«.

Was unternimmt nun ein intelligenter Autor in einem solchen Fall? Lässt er die Finger von dem Stoff und vergisst die Sache? Wolf Haas hat eine Form gefunden, die Geschichte zu erzählen und dabei ihre und seine Integrität zu bewahren: »Das Wetter vor 15 Jahren« beruht auf der Fiktion, Haas habe ein Buch mit dieser Geschichte tatsächlich bereits geschrieben, und präsentiert nun ein fünftägiges Gespräch zwischen dem Autor und der Journalistin einer Literaturbeilage, in dessen Verlauf nicht nur die Geschichte peu à peu erzählt wird, sondern der Autor auch reichhaltiges Material zum Prozess des Schreibens, zur Literaturkritik, zur Kunst der Interpretation und einigem anderen liefert. Für den Schluss hebt sich Haas noch eine zusätzliche, kleine Pointe auf, die hier nicht verraten werden soll.

Ein außergewöhnliches Buch, wie man selten auf eines stößt: intelligent erfunden, gut geschrieben, reich Gedanken und doch nirgends überladen. Bon!

Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Hoffmann und Campe, 2006. Pappband, 224 Seiten. 18,95 €.

Rosendorfers »Deutsche Geschichte« (Bände 1–5)

dtgeschvDas Erscheinen des fünften Bandes von Herbert Rosendorfers »Deutsche Geschichte. Ein Versuch« habe ich zum Anlass genommen, auch die vorhergehenden Bände noch einmal zu lesen und mir so einen Überblick über den Stand des Projektes zu verschaffen. Mit bislang über 1.300 Seiten dürfte Rosendorfers »Deutsche Geschichte« der anspruchsvollste Versuch eines historischen Laien sein, eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte für historische Laien zu schreiben.

Der erste Band erschien 1998 und umfasst die Zeit von den historisch nur ungenau zu fassenden Anfängen der deutschen Geschichte bis zum Wormser Konkordat (1122), der derzeit letzte Band treibt die Erzählung bis ins Jahr 1740, in dem Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der »Soldatenkönig«, und Kaiser Karl VI. sterben. Dabei ist der Ausdruck ›Erzählung‹ nicht zufällig gewählt. Rosendorfer betont in seinen Nachworten, dass er ausdrücklich nicht den Anspruch habe, ein Geschichtsbuch im traditionellen Verständnis zu schreiben, sondern eine Erzählung der deutsche Geschichte. Das hat für die Leser in aller erster Linie den Vorteil, dass sie von Fußnoten und Quellenzitaten weitgehend verschont bleiben. Die Bücher erfüllen tatsächlich in weiten Teilen den Ansatz, dass sich einer die Mühe macht, uns den Gang der Geschichte zu erzählen, Personen wie Figuren einzuführen, die Ereignisse als Stoff zu betrachten, der von sich aus Interesse verdient und nicht erst durch das Einbinden in ein Geschichtsverständnis interessant wird.

Dabei konzentriert sich Rosendorfer durchaus nicht nur auf die Geschichte im engeren Sinne, sondern zu nahezu jeder Epoche gibt er auch einen Überblick über die kulturelle Entwicklung, den Stand von Kunst und Wissenschaften, und er thematisiert vom ersten Band an auch die Lage jener, die in der ›großen Geschichte‹ gewöhnlich nicht vorkommen, der sogenannten kleinen Leute. Dabei ist ihm durchaus klar, dass seine Sympathie für den ›kleinen Mann‹ anachronistsch ist und den Personen seiner Haupterzählung wesentlich fremd. Überhaupt zeigt Rosendorfer nicht häufig Sympathie für eine der historischen Personen seiner Erzählung; die allermeisten kommen schlecht weg im Urteil des Autors. Rosendorfer neigt zu einem Geschichtspessimissmus, nicht ideologischer Natur, sondern aus einem insgesamt zum Pessimistischen tendierenden Menschenbild heraus. Unbedingt erwähnt werden müssen auch seine massiven und immer präsenten Vorbehalte gegen die katholische Kirche – weniger gegen das Christentum –, später auch gegen bestimmte Zweige der protestantischen Richtung und eine ungewöhnlich scharfe allgemeine Ablehung des Islam, die besonders im letzten Band hinzugekommen ist. Dies wird die Lektüre für bestimmte Personen über Strecken wahrscheinlich etwas mühsam machen. Wenn man, wie ich, das alles in einem Zug liest, verspürt man irgendwann die Neigung, dem Autor ein »Ja, ja, schon gut« an den Rand zu schreiben.

Entscheidend für Rosendorfers Zugriff auf die deutsche Geschichte dürfte aber sein, dass er sich keiner Geschichtstheorie verschreibt, weder was das Große und Ganze angeht noch bei der Darstellung der Details und der einzelnen historischen Person. Rosendorfer glaubt offenbar nicht, dass sich das geschichtliche Geschehen einem systematischen Zugriff öffnet oder das sich Ereignisse oder Entscheidungen besser verstehen lassen, wenn sie streng unter ein psychologisches, ökonomisches, soziologisches oder sonstiges Theoriegerüst gezwungen werden. Das bedeutet nicht, dass Rosendorfer nicht alle diese Aspekte heranziehen würde, wenn es ihm sinnvoll erscheint, aber die Zugriffe bleiben eklektizistisch und immer eng orientiert am jeweiligen Ereignis. Eine solche Grundhaltung gibt dem Autor auf der einen Seite eine große Freiheit der Gewichtung der diversen Aspekte, auf der anderen Seite bringt es die Gefahr mit sich, dass seine Erzählung ins Beliebige und Anekdotische abgleitet. Dies mag auch hier und da tatsächlich geschehen, bleibt aber mit Blick auf das Ganze unerheblich.

Resümierend muss man den Büchern sicherlich die Einmaligkeit des Projektes zugute halten. Jeder Leser, der nicht ganz unbeleckt in Geschichte und Kultur der Deutschen ist, wird in jedem Band schnell auf Punkte stoßen, an denen er nicht einverstanden ist mit Darstellung und Urteil des Autors, aber dem steht auf der anderen Seite die alles in allem gelungene Darstellung der deutschen Geschichte als interessanter und spannender Prozess gegenüber, dessen einzige wirkliche Konstante seine stetige und unberechenbare Veränderung ist. Rosendorfers »Deutsche Geschichte« macht Lust auf mehr Geschichte, auf die Lektüre der einen oder anderen Biografie oder auf eine tiefergehende Beschäftigung mit der einen Epoche oder dem anderen Aspekt. Als historisches Lesebuch scheint es mir konkurrenzlos gelungen zu sein. Es an der Anzahl seiner vermeintlichen Fehler oder Schwächen zu messen, erscheint kleinlich angesichts dessen, was hier gelungen ist.

Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte. Ein Versuch.

  • I – Von den Anfängen bis zum Wormser Konkordat. Nymphenburger, 1998. Pappband, 253 Seiten. 18,90 €. Auch dtv 12817. 9,– €.
  • II – Von der Stauferzeit bis zu König Wenzel dem Faulen. Nymphenburger, 2001. Pappband, 319 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13152. 9,50 €.
  • III – Vom Morgendämmern der Neuzeit bis zu den Bauernkriegen. Nymphenburger, 2002. Pappband, 351 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13282. 9,50 €.
  • IV – Der Dreißigjährige Krieg. Nymphenburger, 2004. Pappband, 191 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13484. 9,50 €.
  • V – Das Jahrhundert des Prinzen Eugen. Nymphenburger, 2006. Pappband, 312 Seiten. 22,90 €.

P.S.: Besprechung des abschließenden sechsten Bandes.

Walter Hinck: Roman-Chronik

Hinck_RomanchronikKurz gefasste Literaturgeschichten treffen offenbar ein Bedürfnis der Zeit. So hat jetzt auch der Germanist Walter Hinck – emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln – mit seiner »Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts« einen kurzgefassten Durchgang durch die deutschsprachige Romanliteratur des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Der Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« ist dabei zwar etwas vollmundig geraten, aber ansonsten ist Hincks kleine Literaturgeschichte so schlecht nicht.

Hinck bespricht insgesamt 37 Romane, die zwischen 1900 und 2000 erschienen sind. Jeder Autor ist nur mit einem Werk vertreten (die einzige Ausnahme bildet Herman Broch, dessen Trilogie »Die Schlafwandler« aufgenommen worden ist), und die Liste der Autoren entspricht dem, was man bei einem solchen Buch erwarten darf: Heinrich und Thomas Mann, Franz Kafka und Hermann Hesse, Heinrich Böll und Alfred Andersch, Thomas Bernhard und Arno Schmidt usw. usf. Auch die Auswahl der Romane ist großteils eher sehr konventionell, nur hier und da erlaubt sich Walter Hinck einen Ausreißer: Dass von Thomas Mann etwa der selbstverliebte und zeitferne Roman »Königliche Hoheit« statt des »Zauberbergs« gewählt wurde, begründet Hinck damit, dass er keine Lust gehabt habe »Hunderte von Auslegungen und Spekulationen wiederzukäuen«, ohne allerdings zu verraten, wer solches denn von ihm verlangt oder auch nur erwartet hätte. Auch dass er von Günter Grass statt des einzig im Sinne einer Chronik relevanten Romans »Die Blechtrommel« den weitgehend formlosen und in seinem Anspruch hybriden Spätling »Ein weites Feld« bespricht, bleibt unverständlich. Als einzige wirkliche Überaschung und spannende Ausnahme in der sonst konventionellen Zusammenstellung dürfte Norbert Gstreins »Die englischen Jahre« aus dem Jahr 1999 gelten.

Im Einzelnen findet der Kenner zahlreiche kleinere Fehler, die aber bei der Lektüre des Bandes gar nicht stören müssen. Hincks Roman-Chronik ist ein anregendes Lesebuch, das einen, wenn man den Empfehlungen folgt, mit einer breiten Palette von interessanten deutschsprachigen Roman-Autoren des 20. Jahrhunderts bekannt macht. Gerade den notorisch schlecht belesenen Studenten der Neueren deutschen Literatur kann man das Buch als Lektüreplan sorglos an die Hand geben, und auch der eine oder andere Leser wird aus dem Buch eine knappe Orientierung in der verzweigten Geschichte der Romanliteratur des vergangenen Jahrhundert finden können.

Der mitgelieferte Anspruch, die Roman-Chronik lassen »eine Geschichtschronik durchscheinen«, der sich auch in dem etwas protzigen Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« niedergeschlagen hat, erweist sich letztendlich als gänzlich banal:

Besondere Aufmerksamkeit richtet sich also auf Romane, in denen der Gang der politischen und der Sozialgeschichte, der Kultur-, der Alltags- und der Mentalitätsgeschichte seinen Fußabdruck in der Erzählung hinterlassen hat. [S. 9]

Das gilt in dieser Allgemeinheit offensichtlich für jeden Roman – wie weltabgewandt er sich auch immer geben mag, da sein Autor immer auch »ein Mensch mit Menschen« ist – und wird auch nicht weiter spezifiziert. Man kann diesen Aspekt daher getrost auf sich beruhen lassen.

Wer nicht zuviel von diesem Buch erwartet, sondern es als Anregung und kleinen Wegweiser benutzt, dem kann es wahrscheinlich gute Dienste leisten. Wer etwas mehr erwartet, ist sicherlich mit den Bänden 3–5 des Romanlexikons in der Reclamschen Universalbibliothek besser bedient.

Walter Hinck: Roman-Chronik. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. DuMont, 2006. Pappband, 282 Seiten. 24,90 €.

Hier geht’s um die Wurst

Heidelbach_Wurst Wiglaf Droste und Vincent Klink geben seit einiger Zeit zusammen das Magazin »Häuptling Eigener Herd« heraus, das inzwischen bei Heft 28 angekommen ist. Darin geht es ums Essen, Kultur und Unkultur, und das Schönste daran ist, dass die Herausgeber und Autoren sich selbst nicht so besonders ernst nehmen. Nikolaus Heidelbach ist einer der bemerkenswertesten Illustratoren in der deutsche Buchlandschaft. Sein Stil ist unverkennbar, seine Illustrationen sind anspielungsreich und hintergründig, hier und da auch unvergleichlich böse. Heidelbach hat u. a. zahlreiche Kinderbücher illustriert und dabei sehr oft in einmaliger Weise die Abgründigkeit der kindlichen Welt getroffen. Und diese drei haben nun zusammen ein Buch gemacht: »Wurst«.

Eigentlich sollte »Wurst« ein Heft des Magazin »Häuptling Eigener Herd« werden, aber Heidelbachs farbige Illustrationen verlangten nach einem anderen Publikationsort. Und so hat Wiglaf Droste den Kölner Verlag DuMont dazu überredet, ein Buch daraus zu machen. Das Buch bringt genau das, was der Titel verspricht: Es dreht sich alles um die Wurst.

Die Beiträge – deren Autoren jeweils mit einer Heidelbachschen Vignette bezeichnet sind – reichen von der autobiographisch gefärbten Erzählung über eine kosmologische Theorie der Fenchelsalami, Listen mit Wursttiteln in Film und Literatur sowie klassischen Wurstzitaten (dass Heine mit seinen »Göttinger Wurstzitaten« hier fehlt, schmerzt gerade im Heine-Jahr ein wenig), einer kleinen Wurstkunde bis hin zu Rezepten, bei denen dem Fleischfresser bereits beim Lesen der Zutatenliste das Wasser im Munde zusammenrinnt.

Dabei beweist sich insbesondre Vincent Klink einmal mehr als begnadeter Erzähler: Seine Geschichte »Allah schaut weg« über vier Köche aus Afrika, die in München die lokale Küche kennenlernen wollen, um später in der Heimat Touristen bekochen zu können, ist ein kleines Meisterstück lakonischer Erzählkunst.

Und der Band ist reichhaltigst illustriert: Nikolaus Heidelbach setzt die Themen Wurst und Erotik, Wurst und Religion und insbesondere Wurst und Tod auf immer neue Weise ins Bild: Eine Saitenwurst, in der sich der Tod versteckt, eine modebewusste Dame auf hochhackigen Schuhen, die sich als Gipfel der Eleganz eine Scheibe Blutwurst umgeschlagen hat, eine verführerische »Kleine Wurstgöttin« mit Senftöpchen, ein goyascher schlafender Koch, dessen Schlaf Flederwürste gebiert. Mein Lieblingsstück ist vielleicht das ganz stille Doppelblatt »Die Hl. Martha führt den Tod mit Blutwurst in Versuchung«.

Ein Lesebuch, ein Bilderbuch, ein Rezeptbuch, ein Verschenk- und Sichselbstbeschenkbuch – und das alles zum Preis eines bescheidenen Abendessens beim Italiener um die Ecke.

Wiglaf Droste / Nikolaus Heidelbach / Vincent Klink: Wurst. DuMont, 2006. Leinen, fadengeheftet, 160 Seiten. 24,90 €.

Katharina Hacker: Die Habenichtse

habenichtseNun waren die Preisrichter mit ihrem Urteil doch rascher fertig als ich mit meiner Lektüre. Katharina Hackers Roman »Die Habenichtse« ist mit dem Deutschen Buchpreis 2006 ausgezeichnet worden. Die Auswahl der Shortlist im Jahr 2005 war von erstaunlicher Qualität gewesen und das Buch, das den Preis schließlich erhielt, Arno Geigers »Es geht uns gut«, war eine durchweg positive Überraschung. Das ließ für dieses Jahr viel hoffen.

»Die Habenichtse« beginnt mit drei Erzählsträngen, die sich nach etwas mehr als einem Drittel des Buches miteinander vereinen:

1. Die Geschichte von Jakob und Isabelle beginnt in Berlin, wo sich die beiden nach vielen Jahren wieder begegnen. Sie kennen einander aus ihrer Studienzeit in Freiburg, haben damals eine einzige Nacht miteinander verbracht, die Jakob offenbar so einprägsam war, dass er – inzwischen Jurist in Berlin – für viele Jahre darauf wartet, ob ihm das Schicksal Isabelle noch einmal über den Weg führt. Isabelle arbeitet als Graphikerin in Berlin für eine kleine Werbeagentur. (Wer erstellt einmal eine Bibliografie all jener Romanen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, in denen wenigstens eine der Hauptfiguren in der Werbung arbeitet?) Und sie begegnen einander auf einer Feier am Abend jenes unvergesslichen 11. September 2001. Jakob und Isabelle heiraten rasch, und Jakob geht im Auftrag seiner Berliner Firma nach London, in Vertretung eines Kollegen, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen ist – auch dies schicksalhaft, wie Jakob meint, denn eigentlich wäre er an jenem Tag im WTC gewesen, hätte er nicht, um Isabelle sehen zu können, seine Reise vorverlegt.

2. Jim ist ein Londoner Kleinkrimineller und Dealer, der mit Leidenschaft an Mae hängt, einer labilen und drogensüchtigen jungen Frau, die früh aus dem Roman verschwindet, nachdem Jim einmal mehr seine Gewalttätigkeit nicht unter Kontrolle hatte. Jim sucht nach Mae, versucht dem Einfluss seines Bosses zu entkommen und nistet sich in der Wohnung eines entfernten Bekannten ein, der sich für längere Zeit nicht in London aufhält. Jims Geschichte steckt voller Klischees, sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher, und sein Milieu wird ungefähr so geschildert, wie sich ein deutscher »Tatort«-Zuschauer die Verbrecherwelt vorstellen mag. Jim bleibt als Figur mager und ohne rechten Hintergrund; wir verstehen nur, dass er ein Umhergetriebener ist, aber wir verstehen nicht, warum. Eine schlimme Kindheit wird angedeutet, das frühe Ausreißen von Zuhause, das diesen Mann »hart« gemacht hat etc. Aber das alles bleibt vage und eher entworfen als erzählt.

3. Sara ist ein kleinwüchsiges und vielleicht auch geistig zurückgebliebenes kleines Mädchen, das mit ihrem älteren Bruder Dave und ihren Eltern in derselben Straße Londons wohnt, in die auch Jakob und Isabelle einziehen werden und in der Jim seine Fluchtwohnung hat. Sara lebt in einem zerrütteten Elterhaus: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter gänzlich willenlos, der Bruder die einzige Person, die sich um Sara kümmert. Die Eltern halten Sara im Haus, lassen sie nicht in die Schule gehen, ob aus Scham, aus Bequemlichkeit oder aus Gedankenlosigkeit wird letztendlich nicht klar, weil Saras Eltern recht schemenhaft bleiben. Sara wird von ihrem Vater geschlagen, eine Stelle des Romans deutet auch einen sexuellen Missbrauch an, sie muss oft mehrere Tage hungern, wenn beide Eltern aus dem Haus sind und auch ihr Bruder den häuslichen Missständen zu entfliehen versucht.

Alle diese Personen und einige Neben- und Randfiguren werden in den beiden hinteren Dritteln des Buches miteinander in Beziehung gesetzt. Genauso aseptisch, wie das klingt, ist es auch. Der größte Mangel des Buches scheint mir zu sein, dass es sich bei allen Figuren um Gedankenkonstrukte, um Platzhalter in einer Installation der Autorin handelt: Keine der Figuren hat Geist, keine der Figuren hat Leben, selbst ihre inneren Widersprüche sind konstruiert und erzeugen keine Spannung. Jim steht für die Gewalt, Isabelle für die Sexualität, Jakob für Weltflucht und Konfliktscheu, Sara für das geschundene, unschuldige Opfer usw. usf. Katahrina Hacker schiebt diese Figuren auf dem Schachbrett ihres Romans 300 Seiten lang herum, ohne dass dabei irgendetwas Relevantes oder auch nur Überraschendes herauskommen würde. Und tatsächlich spielt sie mit all dem bloß: Nichts hat tatsächlich ernsthafte Konsequenzen in diesem Roman – zwei Katzen sterben, das ist aber schon das Ärgste, obwohl die Allgegenwart von Gewalt immer wieder behauptet wird – und von der Gnadenlosigkeit der Zerstörung eines Shakespeares, dessen »King Lear« Katharina Hacker kokett zitiert, hat der Roman auch nicht einen Schimmer. Alles bleibt papieren und – und das ist das Schlimmste überhaupt – langweilig. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch über weite Strecken gänzlich humorfrei zu sein scheint.

Nur hier und da blitzt einmal auf, dass das auch ein spannendes Buch hätte werden können: Wenn Jakob sich etwa im Auftrag eines Klienten mit Wolf-Heinrich Graf von Helldorf beschäftigt, bekommt man plötzlich eine Seite lang einen Eindruck davon, was die Autorin alles hätte erzählen können. Hier und da sind Wirklichkeitsdetails genau recherchiert und punktgenau getroffen. Aber das geht rasch vorbei und wieder zieht Katharina Hacker seitenlang ihre Figuren übers Brett. Ich jedenfalls habe mich herzlich gelangweilt bei der Lektüre.

Katharina Hacker: Die Habenichtse. Frankfurt: Suhrkamp, 2006. Pappband, 309 Seiten. 17,80 €.