Hans Peter Duerr: Diesseits von Eden

[…] und er teilt mit, »eine der wichtigsten Lehren«, die ihm ein mexikanischer Nahua vermittelte, habe gelautet: »Denken ist ein Krankheitssymptom«, womit Rätsch allerdings lediglich dokumentiert, daß er an dieser Krankheit nicht zu leiden scheint.

Hans Peter Duerrs Bücher waren schon immer etwas anders. Duerr hatte von Anfang an die Tendenz, etablierte Ansichten mittels breit angelegter Sammlungen empirischer Berichte zu kontern. Schon sein fünfbändiges Hauptwerk Der Mythos vom Zivilisationsprozess war über weite Strecken eine Dokumentation von Duerrs stupender Belesenheit. Diese Tendenz erreicht in seinem neuem Buch ihren Höhepunkt: Ohne den Untertitel „Über den Ursprung der Religion“ bzw. das dreiseitige Vorwort wäre es den Lesern wohl kaum möglich, konzise anzugeben, wovon das Buch eigentlich handelt.

Das Vorwort verortet das Vorhaben des Buches, eine naturalistische Erklärung für die Herkunft der Religion zu liefern, ursprünglich in die Studienzeit Duerrs. 55 Jahre später liefert er nun diesen Band, dem jegliche Definition oder auch nur nähere Bestimmung des Untersuchungsfeldes mangelt. Das, was einer Theorie am nächsten kommt, ist folgender Abschnitt des Vorworts:

Deshalb ist es vielleicht sinnvoll, von »Religiösen Erfahrungen« nur dann zu sprechen, wenn in ihnen explizit Götter oder Geistwesen vorkommen, zum Beispiel in gewissen Nahtod-Erfahrungen, Erscheinungen, »Präsenz«-Erlebnissen oder Besessenheitsepisoden. Zum anderen will ich belegen, daß so gut wie überall auf der Welt ursprünglich all das, was den Menschen »nicht ganz geheuer« war, was sie als mysteriös, unverständlich, unerklärbar, außergewöhnlich, geheimnisvoll empfanden, also das, was Parapsychologen heute als »Anomalie« bezeichnen, den Religionen zugrunde liegt.

Im Rest des Buches fehlt jeder weitere Versuch, der Aufreihung empirischer Einzelfälle eine irgendwie geartete theoretische oder anderweitige Ordnung zu geben. Duerr arbeitet sich in lockerer Folge von unheimlichen Orten und Gegenständen über semantische Betrachtungen über Ausdrücke für das Unheimliche in diversen Sprachen, den Mesmerismus, der Deutung von Entführungen durch Aliens, sogenannten Präsenzen, Geister- und Marienerscheinungen, Sex mit Jesus und anderen eingebildeten Entitäten, Besessenheit, automatisches Schreiben und Malen, multiple Persönlichkeiten, Satanismus bis zu Fällen der Besessenheit durch den Heiligen Geist in den Pfingstgemeinden vor. Die Sammlung endet ebenso unvermittelt wie sie begonnen hat.

Dabei ist das Buch nicht nur abwechslungsreich und humorvoll, sondern es versetzt auch hier und da einzelnen Ethnologen, Esoterikern oder Parapsychologen einen Hieb und ist alles in allem geleitet von einer gesunden empirischen Einschätzung der Welt. Nur zeigt es eben nicht den leisesten Versuch, für die oben zitierte These zu argumentieren oder sie auch nur plausibel zu machen. Seine Lektüre hat mich mehrfach an das Beethovensche „wer es nicht greifen kann lässts bleiben“ denken lassen. Offenbar ist Duerr inzwischen vollständig jenseits allen akademischen Gehabes angekommen. Es ist daher anzunehmen, dass auch dieses Buch fachwissenschaftlich weitgehend ignoriert werden wird.

Hans Peter Duerr: Diesseits von Eden. Über den Ursprung der Religion. Berlin: Insel, 2020. Pappband, 753 Seiten. 38,–€.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele

Der Optimist glaubt, daß die Menschheit eines Tages den Tod besiegen wird. Und der Pessimist befürchtet, daß ihr dies tatsächlich gelingen könnte.

Duerr Dunkle NachtNach seinem Ausflug in die griechische Antike wendet sich Hans Peter Duerr wieder einem eher ethnologischen Thema zu: Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen, wobei er an keiner Stelle einen Zweifel daran lässt, dass er beides für innerpsychische Phänomene hält, denen keine wie auch immer geartete transzendente oder metaphysische Bedeutung oder gar Wirklichkeit entspricht. Daher taucht der Terminus Nahtod-Erfahrung – außer im Untertitel des Buches – auch stets in Anführungsstrichen bei ihm auf. Anlass der Beschäftigung mit diesem Thema sind zwei „Nahtod-Erfahrungen“ Duerrs (die erste davon hatte er bereits 1982), die sich so stark von den von Duerr zuvor gemachten Erlebnissen mit Drogen und Halluzinationen unterschieden, dass sein Interesse an dem Phänomen geweckt wurde.

Wie schon bei seinen früheren Büchern überwiegt bei Duerr die Dokumentation der überlieferten Erfahrungen bei weitem jeden Versuch, eine wie auch immer geartete theoretische Erklärung für die geschilderten Erlebnisse zu liefern. Duerr analysiert zuerst mit unzähligen Belegen die zentralen, „Nahtod-Erfahrungen“ weitgehend gemeinsamen Elemente, wobei sich bei einigen zeigt, dass ihre jeweilige Ausprägung stark durch die Kultur- und Glaubenszugehörigkeit der „Jenseitsreisenden“ geprägt ist. Anschließend nimmt er eine ebenso umfangreich belegte Abgrenzung der „Nahtod-Erfahrungen“ von anderen sogenannten psychischen Grenzerfahrungen vor: Schamanen-Reisen, Ekstasen, Halluzinationen, Träumen, Drogenerfahrungen, Entführungsphantasien, Teufels-Bessenheiten und zuletzt auch den Zuständen bei Herzstillstand. Eine kleine, nicht ganz vollständige Zusammenfassung der möglichen Bedingungen von „Nahtod-Erfahrungen“ liest sich so:

Ein solcher Zustand kann nicht nur bei Entspannung, extremer sensorischer Deprivation, Unfällen, Todesangst oder bei einer Überdosis gewisser pflanzlicher Drogen wie Iboga oder Stechapfel eintreten, sondern ebenfalls, wenn man vom Blitz getroffen wird oder möglicherweise auch, wenn man von einem hohen Felsen in die Tiefe springt. (S. 335)

Zu Ende des Buches findet sich dann doch noch ein eher theoretisches Kapitel, in dem – im umgangssprachlichen Sinne – esoterische Deutungen der „Nahtod-Erfahrungen“ unter Rekurs auf Wittgenstein und einen handfesten Realitätssinn (um es nicht Realismus zu nennen) abgewiesen werden.

Ich kann es nur abschätzen, aber ich vermute, das Buch stellt die umfangreichste Dokumentation von „Nahtod-Erfahrungen“ dar, die je erstellt wurde. Duerrs Belege reichen von der Antike bis in die Gegenwart und entstammen Berichten von sechs der sieben Kontinente. Duerr unterscheidet nicht systematisch zwischen religiös und profan überschriebenen Erlebnissen; überhaupt ist seine Darstellung von einer erfrischenden, vorurteilslosen Distanz gegenüber den meisten gerade gängigen ideologischen Positionen.

Die eine oder den anderen wird das Buch wegen seines nahezu ausschließlich dokumentarischen Ansatzes enttäuschen; selbst dort, wo Duerr bereit ist, sich auf eine eher abstrakte Diskussion des Themas einzulassen, geschieht dies in rein falsifikatorischer Absicht. So werden manche Leser nach der Lektüre zwar mit einem unvergleichbar reicheren Wissen über das Phänomen, aber – soweit sie sich auf Duerrs Argumente einlassen – mit keiner zufriedenstellenden Erklärung zurückbleiben. Und erfahrungsgemäß ist das etwas, was die wenigstens auszuhalten verstehen.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele. Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen. Berlin: Insel, 2015. Pappband, 688 Seiten. 29,95 €.