José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis

3-498-06215-8Roman um eines der Heteronyme Fernando Pessoas: Ricardo Reis wurde am 19. September 1887 in Porto geboren. Er besuchte dort eine Jesuitenschule und erhielt eine klassische Schulbildung. Reis wurde Mediziner und verdiente seinen Lebensunterhalt wahrscheinlich als praktizierender Arzt. Nach Gründung der portugiesischen Republik 1919 ging er nach Brasilien ins Exil. Seine Dichtung folgt klassischen Vorbildern; sein Lieblingsbuch waren dementsprechend die Satiren des Horaz.

José Saramagos Buch lässt Ricardo Reis in den letzten Tagen des Jahres 1935 nach Portugal zurückkehren; Fernando Pessoa ist etwa einen Monat zuvor verstorben. Reis kommt in einem kleinen Hotel mit Blick auf den Tejo unter, und sein erster Gang durch die Stadt führt ihn zum Grab Fernando Pessoas, dessen Tod wohl der eigentliche Anlass seiner Rückkehr ist. Sehr bald nach dem Besuch am Grab stellt sich zum ersten Mal der Geist Pessoas leibhaftig im Hotelzimmer Ricardos ein. Pessoa legt Reis gegenüber eine etwas spöttische Grundhaltung an den Tag; besonders mokiert er sich darüber, dass der lebenslange Einzelgänger nun gleich mit zwei Frauen anbändelt bzw. anzubändeln versucht: Reis beginnt eine Affäre mit Lídia, einem Zimmermädchen des Hotels, das zufällig denselben Namen trägt wie die fiktive Geliebte seiner Gedichte, und verliebt sich außerdem in Marcenda, ein junges, körperlich leicht behindertes Mädchen, das zusammen mit seinem Vater regelmäßig im Hotel zu Gast ist.

Reis, der in Brasilien zu einigem Wohlstand gekommen zu sein scheint, lässt sich eine Weile lang treiben, durchstreift Lissabon, betrachtet Denkmäler, liest Zeitungen, dichtet auch hin und wieder einige Verse. Erst eine Vorladung der Polizei, die erfahren möchte, welche Absichten der Herr Doktor mit seiner Rückkehr nach Portugal verbindet, rüttelt ihn auf. Er beschließt sich wenigstens zeitweilig in Lissabon niederzulassen, sucht sich eine Wohnung am Miradouro de Santa Catarina, nicht nur, weil sich dort eine Statue des Adamastor findet, sondern auch, weil der Blick auf den Hafen Lissabons für das letzte Kapitel des Romans von Bedeutung ist. Zudem sucht er sich eine Stelle als Vertretungsarzt, da er sich noch nicht entschließen kann, eine eigene Praxis zu eröffnen.

Auch in der neuen Wohnung führt er das Verhältnis mit Lídia weiter, die an ihren freien Tagen nicht nur mit dem Senhor Doktor das Bett teilt, sondern ihm auch den Haushalt führt. Ebenso verfolgt er seine Verliebtheit zu Marcenda weiter, so weit sogar, dass er ihr einen schließlich Heiratsantrag macht, den sie ablehnt, um sich von Ricardo auf Nimmerwiedersehen zu trennen. Die einzige andere Person, von der Reis regelmäßig Besuch bekommt, ist der Geist Pessoas, der aber immer mehr schwindet und ihm erklärt, es brauche nicht nur neun Monate, um zur Welt zu kommen, sondern ebenso lange um endgültig aus ihr zu verschwinden. Als Lídia schwanger wird und sich entschlossen zeigt, das Kind auszutragen, zeigt sich einmal mehr Ricardos Zögerlichkeit: Eine Heirat mit Lídia kommt für ihn gar nicht in Betracht, aber auch für eine Adoption kann er sich nicht entscheiden.

Der Roman endet in der Nacht vom 8. auf den 9. September 1936: Am 8. September unternahmen die Matrosen dreier portugiesischer Kriegsschiffe den Versuch einer Meuterei gegen das Regime Salazar, die aber bereits im Hafen von Lissabon blutig scheiterte. Einer der getöteten Matrosen ist Lídias Bruder, ein aktiver Kommunist und einer der Anführer der Meuterei. Bevor Ricardo Lídia noch einmal wiedersieht, holt ihn in der Nacht Fernando Pessoa ab und beide begeben sich gemeinsam zum Friedhof.

Diese alles in allem sehr schlichte, bruchlos zwischen Realismus und Fantastik wechselnde Fabel stellt Saramago vor den Hintergrund der politischen Entwicklung Portugals, Spaniens und Europas im Jahr 1936. In Spanien gewinnen die Kommunisten die Wahl, was innerhalb kurzer Zeit zu einem Militärputsch und dem Spanischen Bürgerkrieg führt. In Deutschland und Italien herrschen Faschisten, mit denen das Salazar-Regime weitgehend sympathisiert. Die portugiesische Öffentlichkeit ist von nationalem Pathos und Sendungsbewusstsein durchdrungen, fürchtet aber auch, dass die spanischen Unruhen auf Portugal übergreifen könnten. Zugleich ist die zivile Gesellschaft Portugals von Furcht und polizeilicher Gewalt gezeichnet.

Sprachlich ist das Buch über weite Strecken von erstaunlich langen, schwingenden und musikalischen Sätzen geprägt, die nach kurzem Einlesen zumindest bei mir einen regelrechten Sog entwickelten. Ich kann die Wirkung des Originals aufgrund mangelnder Sprachkenntnis nicht beurteilen, muss aber auch ohne das dem Übersetzer Rainer Bettermann das Kompliment machen, dass hier ein beeindruckendes und hoch originelles Sprachkunstwerk gelungen ist.

Für mich eine echte Entdeckung, die meine stofflich begründeten Vorurteile gegen Saramago nahezu vollständig über den Haufen geworfen hat. Dies wird in meiner Lesegeschichte nicht das letzte Buch von ihm bleiben.

José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis. Aus dem Portugiesischen von Rainer Bettermann. Reinbek: Rowohlt, 21998. Pappband, 496 Seiten. Derzeit nur als rororo 22308 für 9,90 € lieferbar.

Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo

feuchtwanger_toledo Endlich also Feuchtwanger! Feuchtwanger ist eine der ganz großen Lücken meiner Lesegeschichte. Nun hat der Aufbau Verlag anlässlich der 50. Wiederkehr des Todestages drei Kassetten mit Romanen Feuchtwangers auf den Markt gebracht: zum einen fünf historische Romane – darunter eben auch Die Jüdin von Toledo –, zum zweiten die »Wartesaal«-Trilogie und zum dritten die Josephus-Trilogie. Ich habe das zum Anlass genommen, endlich mit der Feuchtwanger-Lektüre zu beginnen.

Die Jüdin von Toledo behandelt die legendenhafte Affäre Alfons VIII. von Kastilien mit einer schönen Jüdin, die seit dem 16. Jahrhundert zahllose Bearbeitungen in Romanzen, Dramen und Erzählungen erfahren hat, selbst aber natürlich alles andere als originell ist, sondern letztendlich auf den Aufenthalt des Odysseus auf der Insel der Kalypso zurückgeht. Was den Roman Feuchtwangers auszeichnet, ist, dass er diese Legende in ein historisch genaues Zeitbild Spaniens im 12. Jahrhundert einpasst, die Geschichte der »Fermosa« mit den historischen Ereignissen verknüpft und ihr auf diese Weise mehr als die übliche tragische Liebesgeschichte abgewinnt.

Feuchtwangers Erzählung beginnt mit der Rückkehr Jehuda Ibn Esras nach Toledo. Er ist eine Art Wirtschaftsminister für Alfons VIII., der gerade in einen achtjährigen Frieden mit den Moslems der iberischen Halbinsel hat einwilligen müssen. Jehuda kehrt mit einer fast erwachsenen Tochter und einem jüngerern Sohn in das toledanische Haus seiner Familie zurück, das zuvor von den Baronen Castro bewohnt war, mit denen Alfons VIII. verfeindet ist. Alfons ist mit seinem neuen Minister nicht sehr zufrieden, da dessen Vorsicht, Umsicht und Bedachtsamkeit seinem ritterlichen Wesen zuwider sind. Alfons erscheint als eine Art gezähmter Raufbold, der sich nur ungern sagen lässt, was gut für sein Land ist.

Als Alfons die Tochter Jehudas, Raquel, kennenlernt, verliebt er sich widerstrebend in sie. Er lässt für sie ein altes Lustschloss in der Umgebung Toledos wieder herrichten und verfügt, dass sie dort zu wohnen habe. Vater und Tochter willigen in dieses Arrangement ein, und Alfons verfällt dort seiner Liebe zu Raquel so sehr, dass er darüber sein Land und seine Frau vergisst. Seine Frau Leonora aber, immerhin Tochter des englischen Königs Heinrich II., verzehrt sich vor Eifersucht und dynastischen Befürchtungen, denn Raquel gebiert Alfons den lang ersehnten Sohn und möglichen Thronfolger. Leonora stiftet also einen Krieg an, der ihren Mann aufs Schlachtfeld zwingen soll, wo er seine kleine Jüdin hoffentlich rasch vergessen soll. Um sicher zu gehen, stiftet sie – während Alfons sich im Krieg befindet – auch noch einen der Barone Castro zur Ermordung Jehudas und seiner Tochter an. Das Kind bleibt verschont, da es Jehuda schon zuvor hat in Sicherheit bringen lassen, um es der christlichen Taufe zu entziehen. Den aus dem Krieg nach Toledo geschlagen zurückkehrende König trifft die Nachricht von der Ermordung Raquels schwer. Er geht als veränderter, tief getroffener Mann aus dieser Kriese hervor.

Feuchtwanger leuchtet den Stoff gründlich aus: Ihn interessieren über die tragische Liebesgeschichte hinaus das Verhältnis von Privatem und Historischem, die wirtschaftlichen Grundlagen von Krieg und Frieden, das Verhältnis der drei abrahamitischen Religionen zueinander sowohl im historischen als auch im aktuellen Sinn. Er setzt der kriegerischen bzw. feindlichen Opposition der Angehörigen der Glaubensgruppen die tolerante Auseinandersetzung freier Geister im Hause Jehudas gegenüber, in dem ein moslemischer Skeptiker, ein christlicher Zweifler und ein junger jüdischer Wahrheitssucher gleichberechtigt miteinander umgehen, ohne dass dazu einer von seiner Religion oder seiner Herkunft Abstand nehmen müsste.

Als etwas mühsam mögen einige jüngere Leser wahrscheinlich die leicht manieristische Sprache des Romans empfinden, die auch hier und da Kobolz schießt. Was mir am meisten gefehlt hat, ist psychologische Dynamik der Figuren: Außer Alfons und Raquel wandelt sich eigentlich keine der Figuren, und selbst bei diesen beiden erscheint die Verwandlung mehr behauptet als durchgeführt. Und Sätze wie die folgenden sind schon das Höchste, wozu sich Feuchtwanger aufschwingt:

Don Alfonso hörte zu, ablehnend, doch mit Teilnahme. Seine Welt war nun einmal die der Ritter. Die Wahrheit eines Königs war eine andere als die eines alten Juden und Bänkers. Seine, Alfonsos, Philosophie waren die Lieder Bertrans. Dabei hat dieser Ephraim vermutlich recht, und wenn er, Alfonso, in zwölf Jahren seinen Krieg erfolgreich führen will, muß er jetzt die Untern verhätscheln.

Die Wahrheit eines Königs ist nicht die eines Bänkers und dennoch hat der Bänker wahrscheinlich recht? Was für eine Sorte von Wahrheit soll denn das bitte sein? Und »Seine Welt war nun einmal die der Ritter« befindet sich psychologisch etwa auf dem Niveau von »La donna è mobile«.

Insgesamt ein gut lesbarer, stoffreicher Roman über die hochmittelalterliche Phase der Reconquista.

Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo. Mit dem Nachwort des Autors von 1955. Aufbau Taschenbuch 5638. Berlin: Aufbau, 112008. 511 Seiten. 9,95 €.