Jahresrückblick 2011

In news:de.rec.buecher wird zum Jahresende regelmäßig die Frage nach den drei besten und drei schlechtesten Büchern gestellt, die man im vergangenen Jahr gelesen habe. Da ich drb inzwischen nicht mehr verfolge, werde ich von nun an meinen Jahresrückblick hier publizieren.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2011:

  1. Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe – solche Bücher erscheinen einmal in zehn, vielleicht auch nur einmal in zwanzig Jahren.
  2. Wolfgang Koeppen: Trilogie des Scheiterns – eine der wenigen gelungenen deutschsprachigen Fortsetzungen der frühen europäischen Moderne nach dem zweiten Weltkrieg.
  3. Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe – ein erstaunlich vielfältiges Buch auf gewollt reduzierter Basis.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2011:

  1. Michel Onfray: Anti-Freud – redundante und dumme Polemik gegen eine missverstandene Vaterfigur.
  2. Matthias Matussek: Wir Deutschen – »Ein Buch von einer so guten Laune, dass man sich gleich übergeben möchte.«
  3. Janne Teller: Nichts – hybrider und banaler Versuch über den Nihilismus.

 

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe …

… des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares

Mein Leben ist, als würde man mich damit schlagen.

978-3-596-17218-4Das Prosa-Hauptwerk des wichtigsten portugiesischen Lyrikers des 20. Jahrhunderts. Entstanden ist der Text wohl in der Hauptsache zwischen 1929 und 1934, wobei sich Pessoa wahrscheinlich darüber im Klaren war, dass kaum Aussichten bestanden, ihn veröffentlichen zu können. Überliefert wurde er in der berühmt-berüchtigten Truhe in Pessoas Nachlass, aus der peu à peu das Gesamtwerk hervorgegangen ist. Die Originalausgabe erschien erst 1982, die vollständige deutsche Übersetzung 2003 bei Amman.

Wie bei einem großen Teil seiner übrigen Werke wird auch »Das Buch der Unruhe« einem fiktiven Autor zugeschrieben. Allerdings betont Pessoa, dass es sich bei Bernardo Soares nicht um ein vollständiges Heteronym handelt:

Auch wenn sich Bernardo Soares von mir in seinen Vorstellungen, seinen Gefühlen, seiner Art zu sehen und zu verstehen unterscheidet, so doch nicht in der Art, in der er sie äußert. Er ist eine andere Persönlichkeit, der ich durch meinen mir eigenen natürlichen Stil Ausdruck verleihe, dabei unterscheidet uns einzig der unvermeidbar besondere Ton, der sich zwangläufig aus der Besonderheit seiner Emotionen ergibt.
Die [anderen heteronymen] Autoren […] haben nicht nur andere Vorstellungen und Gefühle als ich, sondern greifen auch auf einen anderen Stil und eine andere Kompositionstechnik zurück. Hier ist jede einzelne Person nicht nur unterschiedlich erdacht, sondern auch vollkommen unterschiedlich beschaffen. Daher ist [bei ihnen] auch der Vers bestimmend. Sich in Prosa zu andern [sic!] ist weit schwerer. [Anhang, S. 553]

Pessoa wählt die Form der Herausgeberfiktion, um seinen erfundenen Autor einzuführen: In einem kurzen Vorwort beschreibt er, wie er Soares kennengelernt habe und dass ihm das Buch aus dem Nachlass des Autors zur Veröffentlichung anvertraut wurde.

Schon der Versuch, das Buch einem bestimmten Genre zuzuordnen, stößt auf Schwierigkeiten. Soares selbst, dem das Vorwort ein Alter von »ungefähr dreißig Jahren« zuschreibt, bezeichnet es als eine »Autobiographie ohne Ereignisse«; dem ersten Blick präsentiert es sich als ein lückenhaftes Tagebuch – der erste Eintrag ist auf den 9.3.1930 datiert, einer der letzten auf den 26.7.1934 –, beim weiteren Lesen scheint es sich jedoch mehr um eine Mischung aus Tage- und Notizbuch zu handeln, wofür es mit knapp 450 Seiten allerdings sehr umfangreich ist. Auch scheint Soares alles, was er schreibt, eindeutig für andere Leser zu schreiben, wenn er auch zweifelt, ob das Buch jemals veröffentlicht werden wird. Um das Buch zu beschreiben, ist man geneigt, aufzuzählen was es nicht ist, bzw. was sein Autor nicht tut: Er erzählt keine Geschichte, er gibt keine Autobiographie im klassischen Sinne, er scheint kein zentrales Thema zu haben, andererseits aber eine gewisse Anzahl von Motiven immer und immer wieder zu thematisieren, ohne dass irgend eine Art von Fortschritt zu erkennen wäre, er liefert abgerissene Gedanken zu philosophischen, religiösen und mystischen Themen, ohne Anspruch auf eine einheitliche Theorie oder auch nur Widerspruchsfreiheit.

Womit sich Bernardo Soares dagegen ausführlich beschäftigt, ist er selbst. Er arbeitet als Hilfsbuchhalter in einer Textilfirma, wohnt in einem kleinen Zimmer in Lissabon, geht regelmäßig spazieren und er – schreibt. Da es aufgrund seines weitgehend einsamen und äußerlich eintönigen Lebens kaum irgendwelche Ereignisse zu berichten gibt, sind es seine inneren Erlebnisse, seine Gefühle und Gedanken, die den Stoff des Schreibens liefern. Als sei dies nicht schon wenig genug, zweifelt Bernardo Soares überhaupt daran, irgendetwas zu sagen zu haben:

Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher – all jene, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe. [S. 25]

Soares ist ohne jede Ambition, glaubt nicht an das Handeln, misstraut seinen Gefühlen, träumt unbestimmte Träume und bewundert den Himmel, registriert Hitze und Regen, doch nichts scheint ihn wirklich zu berühren:

Zwischen mir und dem Leben ist eine dünne Glasscheibe. So deutlich ich das Leben auch erkenne und verstehe, berühren kann ich es nicht. [S. 91]

Außer der reinen Chronologie, dem eher zufälligen Nacheinander der einzelnen Einträge – die deutsche Ausgabe hat 481 Einträge auf knapp 450 Seiten – scheint es kaum eine Ordnung zu geben. Doch je länger man liest, desto besser erkennt man, dass die wiederkehrenden Motive mit großer Sorgfalt ausgewählt sind: So ist Soares natürlich alles andere als zufällig ein Buchhalter, also einer der die Geschäftsgänge aufzeichnet, ohne selbst Geschäfte zu machen. Und natürlich fasziniert ihn immer wieder der Himmel, denn der Himmel ist stets derselbe, aber an jedem Tag ein anderer. Und ebenso selbstverständlich sind Träume für Soares wichtig, nicht nur als Gegenwelt zu dem von ihm verachteten und zugleich ersehnten Leben, sondern auch als der Ort einer ungesteuerten Kreativität, eines Schöpfens ohne Ziel mit Handlungen ohne Sinn und weltliche Bedeutung.

Zu Anfang meiner Lektüre dachte ich, dass ein solches Buch nicht funktionieren kann, dass ein solches Konzept keine 450 Seiten Text trägt. Aber ich wurde eines besseren belehrt. Wenn ich auch der Meinung bin, dass eine Überarbeitung für eine Publikation und damit eine Verdichtung dem Buch sicher gut getan hätte, muss ich zugestehen, dass ich bis zur letzten Seite fasziniert gewesen bin und auch sicherlich noch weitere 100 Seiten dieser Prosa gelesen hätte, ohne zu murren.

Ein Buch sicherlich nicht für alle Leser, besonders nicht für jene, die Handlung, Spannungsbogen und eine Heldin bzw. einen Helden  von einem Buch erwarten. Es ist eher für Leser geschrieben, die mit einem Autor in aller Ruhe ein Gespräch führen möchten.

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel. Fischer Taschenbuch 17218. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 32008. 574 Seiten. 12,95 €.

Auch die gebundene deutsche Erstausgabe bei Amman ist immer noch lieferbar!

José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis

3-498-06215-8Roman um eines der Heteronyme Fernando Pessoas: Ricardo Reis wurde am 19. September 1887 in Porto geboren. Er besuchte dort eine Jesuitenschule und erhielt eine klassische Schulbildung. Reis wurde Mediziner und verdiente seinen Lebensunterhalt wahrscheinlich als praktizierender Arzt. Nach Gründung der portugiesischen Republik 1919 ging er nach Brasilien ins Exil. Seine Dichtung folgt klassischen Vorbildern; sein Lieblingsbuch waren dementsprechend die Satiren des Horaz.

José Saramagos Buch lässt Ricardo Reis in den letzten Tagen des Jahres 1935 nach Portugal zurückkehren; Fernando Pessoa ist etwa einen Monat zuvor verstorben. Reis kommt in einem kleinen Hotel mit Blick auf den Tejo unter, und sein erster Gang durch die Stadt führt ihn zum Grab Fernando Pessoas, dessen Tod wohl der eigentliche Anlass seiner Rückkehr ist. Sehr bald nach dem Besuch am Grab stellt sich zum ersten Mal der Geist Pessoas leibhaftig im Hotelzimmer Ricardos ein. Pessoa legt Reis gegenüber eine etwas spöttische Grundhaltung an den Tag; besonders mokiert er sich darüber, dass der lebenslange Einzelgänger nun gleich mit zwei Frauen anbändelt bzw. anzubändeln versucht: Reis beginnt eine Affäre mit Lídia, einem Zimmermädchen des Hotels, das zufällig denselben Namen trägt wie die fiktive Geliebte seiner Gedichte, und verliebt sich außerdem in Marcenda, ein junges, körperlich leicht behindertes Mädchen, das zusammen mit seinem Vater regelmäßig im Hotel zu Gast ist.

Reis, der in Brasilien zu einigem Wohlstand gekommen zu sein scheint, lässt sich eine Weile lang treiben, durchstreift Lissabon, betrachtet Denkmäler, liest Zeitungen, dichtet auch hin und wieder einige Verse. Erst eine Vorladung der Polizei, die erfahren möchte, welche Absichten der Herr Doktor mit seiner Rückkehr nach Portugal verbindet, rüttelt ihn auf. Er beschließt sich wenigstens zeitweilig in Lissabon niederzulassen, sucht sich eine Wohnung am Miradouro de Santa Catarina, nicht nur, weil sich dort eine Statue des Adamastor findet, sondern auch, weil der Blick auf den Hafen Lissabons für das letzte Kapitel des Romans von Bedeutung ist. Zudem sucht er sich eine Stelle als Vertretungsarzt, da er sich noch nicht entschließen kann, eine eigene Praxis zu eröffnen.

Auch in der neuen Wohnung führt er das Verhältnis mit Lídia weiter, die an ihren freien Tagen nicht nur mit dem Senhor Doktor das Bett teilt, sondern ihm auch den Haushalt führt. Ebenso verfolgt er seine Verliebtheit zu Marcenda weiter, so weit sogar, dass er ihr einen schließlich Heiratsantrag macht, den sie ablehnt, um sich von Ricardo auf Nimmerwiedersehen zu trennen. Die einzige andere Person, von der Reis regelmäßig Besuch bekommt, ist der Geist Pessoas, der aber immer mehr schwindet und ihm erklärt, es brauche nicht nur neun Monate, um zur Welt zu kommen, sondern ebenso lange um endgültig aus ihr zu verschwinden. Als Lídia schwanger wird und sich entschlossen zeigt, das Kind auszutragen, zeigt sich einmal mehr Ricardos Zögerlichkeit: Eine Heirat mit Lídia kommt für ihn gar nicht in Betracht, aber auch für eine Adoption kann er sich nicht entscheiden.

Der Roman endet in der Nacht vom 8. auf den 9. September 1936: Am 8. September unternahmen die Matrosen dreier portugiesischer Kriegsschiffe den Versuch einer Meuterei gegen das Regime Salazar, die aber bereits im Hafen von Lissabon blutig scheiterte. Einer der getöteten Matrosen ist Lídias Bruder, ein aktiver Kommunist und einer der Anführer der Meuterei. Bevor Ricardo Lídia noch einmal wiedersieht, holt ihn in der Nacht Fernando Pessoa ab und beide begeben sich gemeinsam zum Friedhof.

Diese alles in allem sehr schlichte, bruchlos zwischen Realismus und Fantastik wechselnde Fabel stellt Saramago vor den Hintergrund der politischen Entwicklung Portugals, Spaniens und Europas im Jahr 1936. In Spanien gewinnen die Kommunisten die Wahl, was innerhalb kurzer Zeit zu einem Militärputsch und dem Spanischen Bürgerkrieg führt. In Deutschland und Italien herrschen Faschisten, mit denen das Salazar-Regime weitgehend sympathisiert. Die portugiesische Öffentlichkeit ist von nationalem Pathos und Sendungsbewusstsein durchdrungen, fürchtet aber auch, dass die spanischen Unruhen auf Portugal übergreifen könnten. Zugleich ist die zivile Gesellschaft Portugals von Furcht und polizeilicher Gewalt gezeichnet.

Sprachlich ist das Buch über weite Strecken von erstaunlich langen, schwingenden und musikalischen Sätzen geprägt, die nach kurzem Einlesen zumindest bei mir einen regelrechten Sog entwickelten. Ich kann die Wirkung des Originals aufgrund mangelnder Sprachkenntnis nicht beurteilen, muss aber auch ohne das dem Übersetzer Rainer Bettermann das Kompliment machen, dass hier ein beeindruckendes und hoch originelles Sprachkunstwerk gelungen ist.

Für mich eine echte Entdeckung, die meine stofflich begründeten Vorurteile gegen Saramago nahezu vollständig über den Haufen geworfen hat. Dies wird in meiner Lesegeschichte nicht das letzte Buch von ihm bleiben.

José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis. Aus dem Portugiesischen von Rainer Bettermann. Reinbek: Rowohlt, 21998. Pappband, 496 Seiten. Derzeit nur als rororo 22308 für 9,90 € lieferbar.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier

978-3-8031-1236-1Kleiner dialogischer Essay um einen Anarchisten, der aus lauter Konsequenz zum Egoisten und aus lauter Egoismus zum Bankier geworden ist. Wahrscheinlich ist es ironisch gemeint, wahrscheinlich auch politisch, vielleicht sogar humoristisch. In jedem Fall ist es aber unerheblich, da keiner der verwendeten Grundbegriffe – Natur, Freiheit, Gesellschaft, Fiktion, Anarchie, Tyrannei, Egoismus – auch nur im Ansatz definiert wird. Von daher bleibt alles im Bereich der Beliebigkeit kaffeehäuslichen Intellektuellengebrummels. Wer sowas mag, um sich einen sonnigen Nachmittag im Garten seines Häuschens in der Toscana zu vertreiben, dem sei es empfohlen. Die anderen mögen die Zeit sinnvoller nutzen.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier. Übersetzt von Reinhold Werner. Berlin: Wagenbach, 2006. Leinen, Fadenheftung, 89 Seiten. 13,90 €.

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa

978-3-446-23107-8Kurze biografische Erzählung, deren Inhalt der Titel bereits umreißt. Die Erzählung beginnt mit der Fahrt Pessoas ins Krankenhaus am Abend des 28. November 1935 und endet mit seinem Tod aufgrund einer Leberzirrhose am 30. In dieser Zeit wird er von den wichtigsten seiner Heteronyme besucht: Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Bernardo Soares, Ricardo Reis und António Mora kommen einer nach dem anderen, um sich von ihrem Autor zu verabschieden. Dabei erlaubt sich Tabucchi besonders bei Ricardo Reis massive Eingriffe in dessen Biografie: Er sei gar nicht, wie Pessoa bestimmt hat, nach Brasilien ausgewandert, sondern sei aufs Land gezogen und habe sein Leben als Provinzarzt verbracht. Warum Tabucchi versucht, Reis als Angeber hinzustellen, wird aus der Erzählung heraus nicht klar; ich bezweifle auch sehr, dass er erhebliche Gründe dafür hat.

Wie in vielen Fällen von biografischen Fiktionen überzeugt auch diese am Ende nicht. Das beginnt mit der immer problematisch bleibenden Notwendigkeit, die Voraussetzungen der geschilderten Situation in den personal gehaltenen Text einzuflechten, was dazu führt, dass man den Protagonisten lauter Sachen denken und sagen lässt, die normalerweise in seinem Kopf nichts zu suchen hätten. Und das endet nicht bei der Frage, für wen – außer dem Autor – eine solche Erzählung eigentlich gedacht sein soll: Der uniformierte Leser versteht den Witz nicht, der informierte zuckt mit den Schultern und vergisst es gleich wieder.

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1998. Broschur, 67 Seiten. 9,90 €.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa?

978-3-446-20963-3Kleine, aber höchst nützliche Aufsatzsammlung zu Fernando Pessoa, die auch zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit diesem Autor sehr geeignet ist. Die meist kurzen Aufsätze sind thematisch vom Allgemeinen zum Besonderen hin sortiert: Es beginnt mit einer recht ausführlichen Darstellung von Pessoas Leben und Werk, gefolgt von einer Übersicht über die Heteronyme und ihre Werkanteile, Porträts einiger der Dichterpersönlichkeiten,  die Pessoa in sich erzeugt hat, und geht schließlich zu spezielleren Fragen über. Und obwohl Tabucchi Literaturwissenschaftler ist, sind diese Aufsätze frei von Jargon und theoretischem Gehabe. Ergänzt wird das Büchlein durch eine kleine Auswahl von Texten Pessoas, auf die in den Aufsätze Tabucchis Bezug genommen wurde.

Alles in allem ein musterhaftes kleines Büchlein, das einen schnellen und kompetenten Zugang zum Werk dieses anspruchsvollen, portugiesischen Schriftstellers eröffnet.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa? Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1992. Broschur, 156 Seiten. 14,90 €.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa

3-250-10282-2 Crespos Buch ist die umfangreichste Biografie des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa, die auf Deutsch vorliegt. Sie ist erstmals 1988 in Barcelona erschienen und wurde 1996 auf Deutsch vorgelegt, wohl schon mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse 1997, bei der Portugal Gastland war. Die von mir gelesene deutsche Erstausgabe ist sprachlich an einigen Stellen sehr mangelhaft; ob und wie weit das in der »korrigierten« Taschenbuchausgabe bei Fischer 1998 behoben wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Das Buch ist für einen deutschen Leser, der sich nicht schon zuvor mit der portugiesischen Literatur auseinandergesetzt hat, keine leichte Kost, da Crespo einige literarhistorische Kenntnisse schlicht voraussetzt. So werden Begriffe wie z. B. Saudosismus oder Paulismus weitgehend als bekannt vorausgesetzt. Dem gemeinen deutschen Leser empfehle ich daher, sich durch die Lektüre einer portugiesischen Literaturgeschichte (etwa der von Helmut Siepmann) etwas vorzubereiten. An anderen Stellen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass auch Crespo nicht so genau weiß, worüber Pessoa gerade redet, was ihn  allerdings nicht hindert, sich seitenweise darüber auszulassen.

Auch was die Darstellung des Werks Pessoas angeht, wünschte man sich an vielen Stellen weniger abgehobenes Palaver und mehr konkrete Information. So findet sich an keiner Stelle eine systematische Darstellung aller von Pessoa verwendeten Heteronyme. Der Leser würde gerne erfahren, welche Heteronyme Pessoa überhaupt verwendet hat, in welcher Reihenfolge sie wahrscheinlich entstanden sind, welche biografischen Daten über sie vorliegen und welche Charakteristika ihre Werke voneinander unterscheidet. Ich will nicht sagen, dass sich nicht ein bedeutender Teil dieser Informationen im Buch finden lässt, nur eben hier und da, so wie es dem Autor gerade in den Sinn gekommen ist.

Wie schon angedeutet, verbessert sich diese Lage auch dadurch nicht, dass zumindest die deutsche Erstausgabe sehr flüchtig übersetzt und produziert worden ist. Es finden sich zahlreiche schlicht ungrammatikalische Sätze, die weder dem Übersetzer noch dem Lektorat hätten entgehen dürfen.

Insgesamt ein recht schlechtes Buch, das aber leider im deutschen Sprachraum konkurrenzlos geblieben zu sein scheint. Beide Ausgaben sind inzwischen lange vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa. Das vervielfältigte Leben. Aus dem Spanischen und Portugiesischen von Frank Henseleit-Lucke. Zürich: Ammann, 1996. Pappband, 496 Seiten, davon 16 mit Abbildungen.