Zwei antike Dramen: Medea und Philoktet

In Neuübersetzungen Kurt Steinmanns sind in diesem Herbst gleich zwei antike Tragödien erschienen: Die Medea des Euripides bei Manesse in einem großformatigen, zweisprachigen Prachtband und der Philoktet des Sophokles bei Diogenes. Obwohl inhaltlich auf den ersten Blick sehr unterschiedlich, haben beide Stücke ein ganz ähnliches dramaturgisches Problem, nämlich die extreme Position ihrer Protagonisten in einer von Rationalität und Pragmatismus geprägten Welt wahrscheinlich erscheinen zu lassen.

Cover Philoktet

Philoktet ist ein spätes Drama von Sophokles. Der Titelheld wird in der Ilias am Rande erwähnt, zugleich aber deutet Homer an, dass er bei der Eroberung und Zerstörung Trojas eine entscheidende Rolle spielen wird. Allerdings befindet er sich in dem Zeitraum, den die Ilias schildert, nicht vor Troja; er wurde, da er an einer unheilbaren Fußwunde leidet, von den Anführern der Griechen auf der unbewohnten Insel Lemnos ausgesetzt. Dort lebt er seit vielen Jahren ein kärgliches und schmerzerfülltes Leben und kann sich überhaupt nur deshalb am Leben erhalten, weil er den wundertätigen Bogen des Herakles besitzt. Die Griechen vor Troja sehen sich nun aber aufgrund einer Weissagung genötigt, Philoktet nach Troja zu holen, denn nur mit Hilfe seiner Bogenkünste soll angeblich der Fall Trojas zu bewerkstelligen sein.

Man schickt nun ausgerechnet Odysseus, gegen den Philoktet einen besonderen Hass hegt, zusammen mit Neoptolemos, dem Sohn des inzwischen gefallenen Achill, aus, um Philoktet, ob mit, ob gegen seinen Willen nach Troja zu schaffen. Neoptolemos und Odysseus sind dabei nur bedingt einig, wie das zu geschehen habe: Der notorische Lügner und Täuscher Odysseus entwickelt einen Plan, wie sie Philoktet durch eine Lüge aufs Schiff bringen können, wo er keine Wahl mehr hat, ihnen nach Troja zu folgen, während Neoptolemos sich innerlich gegen diese Täuschung sträubt, letztlich aber dem Drängen Odysseus’ nachgibt. Hinzukommt, dass Neoptolemos selbst gute Gründe hat, Odysseus zu misstrauen, denn als man ihn nach dem Tod seines Vaters nach Troja geholt hat, erweist es sich, dass man dessen Rüstung bereits Odysseus zugesprochen hat, der sich durchaus weigert, sie dem Sohn auszuhändigen.

Der Hauptteil des Dramas besteht nun darin, dass Neoptolemos Philoktet davon überzeugt, dass er ihn nach Griechenland bringen werde, so dieser nur bereit sein, seine Insel zu verlassen und in sein Schiff zu steigen. Je mehr er Philoktet aber versichert und ihm schwört, ihn nicht zu verraten, desto mehr entfernt er sich vom Plan der Täuschung und erkennt, dass die Instrumentalisierung des Philoktet nicht rechtens sein kann. Als der ursprüngliche Plan zu scheitern droht, tritt Odysseus selbst auf, enthüllt die wahren Ziele der Mission, und als sich Philoktet weigert, ihm nach Troja zu folgen und eher den Tod vorziehen würde, als Odysseus und den Griechen zu Willen zu sein, beraubt man ihn seines Bogens und überlässt ihn dem sicheren Tod durch Verhungern. Nachdem so das größtmögliche Elend über Philoktet hereingebrochen ist, kehrt überraschend Neoptolemos zurück und gibt ihm seinen Bogen zurück, was den vorherigen Konflikt aber nur erneuert. Aufgelöst wird die ausweglos erscheinende Lage durch einen Deus ex machina: Herakles selbst erscheint über der Bühne, gibt Philoktet den göttlichen Befehl, Odysseus zu folgen – was der in seiner Frömmigkeit sofort befolgt –, und verspricht ihm Heilung vor Troja durch die Söhne des Asklepios.

Gemessen an modernen Ansprüchen an Dramen und Dramaturgie ist das Stück – sagen wir es höflich – schwierig: Der vorgebliche Protagonist erscheint nahezu vollständig statisch, so dass er sich schon nach kurzer Zeit nur noch selbst reproduziert, und die Lösung des Konflikts entsteht nicht aus der Entwicklung des Dramas heraus, sondern ist vollständig aufgesetzt, nachdem der Autor seine Figuren in eine absolute Aporie geführt zu haben scheint. Wer tatsächlich eine Entwicklung durchläuft ist Neoptolemos, wobei diese Entwicklung sich nicht organisch aus seinem Konflikt mit Odysseus ergibt, sondern ebenfalls weitgehend unorganisch und spontan gesetzt wird. Wie in zahlreichen anderen griechischen Dramen erweist sich der verarbeitete Mythos als widerständisch gegen die Absichten des Autors, der einmal mehr die Ehrung göttlicher Gebote gegen die Verfolgung politischer Absichten ausspielt; um den Mythos so zu deuten, muss allerdings vernachlässigt werden, dass der Ursprung der Mission des Odysseus selbst eine Prophezeiung ist, also hier – wie überhaupt in der Ilias – widerstreitende göttliche Motive einander unversöhnlich gegenüberstehen.

Mag dem aus moderner Sicht sein, wie es wolle, das ursprüngliche Publikum scheinen solche intellektuellen Einwände wenig gestört zu haben, denn wir wissen, dass der alternde Dichter 409 v.u.Z. den Wettstreit beim Athener Dionysosfest mit diesem Stück gewinnen konnte. Der unmittelbare Eindruck des leidenden Philoktet scheint alle anderen Erwägungen aus dem Feld geschlagen zu haben.

Auch die Medea des Euripides (431 v.u.Z.) hat im Zentrum eine von starken Emotionen getriebene Titelfigur: Medea befindet sich in Korinth in der misslichen Lage, ein Flüchtling zu sein. Sie hat Iason geholfen, ihrem Vater das berühmte Goldene Flies zu rauben und die beiden haben zusammen mit ihren beiden noch jungen Söhnen in Korinth Asyl gefunden. Dort hat sich Iason allerdings der Königstochter Glauke verbunden und seine Ehefrau verlassen. Er weiß diese Untreue recht gut rational zu rechtfertigen, denn er weist darauf hin, dass seine Verbindung mit dem Königshaus nicht nur für ihn, sondern auch für Medea und die Söhne eine Sicherung ihres Status als Fremde in Korinth bedeutet. In ihrem Zorn gegen Iason und Glauke aber wütet Medea und schwört öffentlich Rache. Da sie als Zauberin gefürchtet ist, will Kreon, der König Korinths, sie mit den Kindern aus dem Land verbannen; auch weist es sich, dass der König von Athen, der zufällig des Weges kommt, Medea eine neue Heimstatt anbietet, so dass sie nur von ihrem Hass zu lassen bräuchte, um vergleichsweise unbeschadet der misslichen Lage, in der sie sich befindet, zu entkommen.

Die Tragödie wäre keine, wenn Medea diesen Ausweg wählen würde. Doch sie stellt sich im Gegenteil verständig, erbittet von Kreon einen Tag Aufschub und zeigt sich ihrem Mann gegenüber scheinbar einsichtig, schickt dann aber Glauke als Geschenk ein vergiftetes Kleid, an dem nicht nur die Königstochter, sondern auch der König selbst sterben. Im Anschluss tötet sie ihre beiden Söhne, um sich an Iason zu rächen und sein Geschlecht zum Ende zu bringen und kann sich dann auf einem zauberischen Drachenwagen, der von ihrem Großvater, dem Gott Helios, stammt, der drohenden Bestrafung durch die Korinther entziehen. Auf ihrer Flucht entführt sie noch die Leichen ihrer beiden Söhne, um selbst diese noch Iason zu entziehen.

Dieses Drama steht und fällt mit der Überzeugungskraft des Zorns Medeas. Auch hier steht eine Einzelne, die auf dem Recht ihrer Verletztheit und ihres Leidens beharrt, gegen eine pragmatische und rationale Gesellschaft, die von ihr erwartet, sich zu ihrem eigenen und dem Vorteil ihrer Söhne mit den widrigen Umständen abzufinden. Medea ist sicherlich eines der bis heute wirkungsmächtigsten antiken Dramen, gerade weil es sich über jede schlichte, eingängige und rationale Moralisierung hinwegsetzt: Niemand bezweifelt, dass Medea jegliche Grenze der griechischen Moral überschreitet, als sie ihre eigenen Kinder tötet; die Ermordung ihrer Rivalin und des ihr feindlich gesinnten Königs ließe sich noch diskutieren, doch die Ermordung der eigenen Kinder liegt jenseits dessen, was sich im griechischen Denken noch rechtfertigen ließe. Und dennoch entzieht Euripides seine Protagonistin einer Bestrafung und lässt auf der Bühne eine zer- und verstörte Gesellschaft zurück.

Es ist nicht ohne Reiz diese beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Tragödien, die beide entgegen dem allgemeinen Vorurteil nicht mit dem Tod ihrer/s Titelheldi/en enden, nebeneinander zu lesen. Die absolute Setzung des Individuums gegen die durchaus vertretbaren Ansprüche der Gesellschaft an sie schafft eine unerwartete Verbindung zwischen beiden.

Kurt Steinmanns Übersetzungen bewähren sich einmal mehr: Trotz seiner strengen formalen Voraussetzung, die Struktur des griechischen Originals weitgehend in der Übersetzung abzubilden, sind zwei sehr gut lesbare Texte entstanden, die sich dem heutigen Deutsch anschmiegen ohne dabei den Charakter der Bühnensprache aufzugeben. Zwei spannende Gelegenheiten, sich dem antiken Theater anzunähern.

  • Euripides: Medea. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann.  München: Manesse, 2022. Leinen, Fadenheftung, 240 Seiten (17×24 cm) mit acht farbigen Abbildungen. 60,– €.
    Von diesem Titel existiert auch eine limitierte Vorzugsausgabe.
  • Sophokles: Philoktet. Aus dem Altgriechischen von Kurt Steinmann. Zürich: Diogenes, 2022. Leinen, 138 Seiten. 25,– €.

Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans

Als Vorbereitung für die Lektüre von Shaws Die heilige Johanna habe ich noch einmal Schillers sehr merkwürdiges Stück über Jeanne d’Arc gelesen. Es entstand um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert unmittelbar nach der Wallenstein-Trilogie und Maria Stuart. Der Stoff hat Schiller offenbar erheblichen Widerstand entgegengesetzt, was auf der einen Seite das Märchenhafte – „romantische“! – des Stückes erklärt, andererseits die schon einigen Zeitgenossen unangenehme Veränderung des historischen Schicksals Johannas, indem Schiller sie auf dem Schlachtfeld sterben lässt und Verrat, Prozess und Hinrichtung schlicht ausblendet.

Das Problem des Stoffes dürfte auch bereits für Schiller im Wesentlichen gewesen sein, dass Johannas Auftrag und ihre aus diesem Auftrag folgende Autorität auf ihren Visionen beruhen. Dabei ist es unerheblich, ob diese Visionen die Jungfrau Maria (Schiller) oder die heilige Katharina und Margareta (so die historischen Quellen) präsentiert haben; es besteht in jedem Falle die Notwendigkeit den Status dieser Visionen zu reflektieren. Bei Schiller geschieht dies nur am Rande, in dem er in einer späten Szene des dritten Aufzugs den Teufel leibhaftig in der Gestalt eines schwarzen Rittes auftreten lässt, der Johanna davor warnt, sich nach Reims zu begeben und ihre Sendung zu erfüllen. Nur an dieser einzigen Stelle objektiviert Schiller das Eingreifen der christlichen Hinterwelt in das historische Geschehen (konsequenterweise wurde die entsprechende Szene bei den zeitgenössischen Aufführungen denn auch zumeist gestrichen); ob Johanna aber eine Gesandte oder Wahnsinnige, eine Heilige oder Ketzerin ist, bleibt völlig unklar, da diese Frage – ganz gleich, wie sie beschieden würde – die tragische Dramaturgie des Stücks aushebeln würde. Aus diesem Grunde darf der Prozess um Johanna bei Schiller nicht einmal erwähnt werden.

Schiller ist daher dazu gezwungen, Johanna auf ganz merkwürdige Weise zu psychologisieren: Da sie, um ohne den historischen Verrat an ihr eine tragische Figur werden zu können, in irgendeiner Weise schuldlos schuldig werden muss, erfindet er in die bis dahin durchweg unmenschliche Figur das unwillkürliche Gefühl einer Verliebtheit hinein, das ihren Sündenfall herstellt. Im inneren Bewusstsein ihrer Schuld gerät sie in ein Miss­ver­hält­nis zu ihren Mitmenschen, die ihr Verhalten in Unkenntnis der inneren Verhältnisse Johannas missdeuten müssen, was zu Johannas plötzlichem und wenig notwendigem Fall aus der Gnade von König, Hof und Familie führt. Ihre nachfolgende Besinnung und Sühnung im Tod bei der Rettung ihres Königs sind notwendig im Sinne der tragischen Dramaturgie, aber psychologisch eine Niederlage, da die durch ihre Verliebtheit einmal gewonnene Menschlichkeit der Figur sogleich wieder aufgegeben wird, um sie in ihr tragisches Ende zu zwingen. Man wundert sich, dass gegen dieses erkünstelte Pathos nicht mehr Zeitgenossen Einwände erhoben haben.

Natürlich muss Schiller zugute gehalten werden, dass der historische Stoff schon auf den ersten Blick für eine Dramatisierung außergewöhnliche Schwierigkeiten bereit hält. Will man ihn aber – man entschuldige diesen faden Scherz – nun einmal auf Teufel komm raus dramatisieren, ja, tragödisieren, so ist Schillers Wurf allein deswegen einiger Respekt zu zollen. Und doch scheint ihm gleich zweierlei nicht zu gelingen: weder die Menschlichkeit seiner Protagonistin zu gewinnen, noch den Stoff aus dem Legendenhafte ins Historische zu transponieren. Doch wenigstens den Versuch des einen oder anderen darf man vielleicht erwarten.

Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans. In: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 4. Berlin: Aufbau, 2005. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 901 Seiten.