Amélie Nothomb: Biographie des Hungers

Wirklich, die Welt war ziemlich komisch. Und es gab Sprachen ohne Ende. Es würde nicht einfach sein, sich auf diesem Planeten zurechtzufinden.

Amélie Nothomb schreibt ganz wundervolle, autobiographisch unterfütterte Erzählungen. Ich habe sie vor vielen Jahren mit »Liebessabotage« entdeckt, das sich inhaltlich zu »Biographie des Hungers« wie ein kleiner, nicht konzentrischer Inkreis verhält. »Biographie des Hungers« erzählt etwa fünfzehn Jahre aus dem Leben der Tochter eines belgischen Diplomaten, die es aufgrund der regelmäßig alle drei Jahre erfolgenden väterlichen Versetzungen von Japan über China, den USA und Bangladesch nach Burma und schließlich Laos verschlägt; »Liebessabotage« war die Geschichte der ersten Liebe des jungen Mädchens im Pekinger Diplomatenviertel. Auch Nothombs Bücher »Mit Staunen und Zittern« und »Der japanische Verlobte« (von dem ich das allerdings nur vermute, da ich es bislang nicht gelesen habe) gehören zu diesen autobiographischen Zirkel. Ansonsten schreibt Nothomb auch noch Krimis, von denen zumindest einer ein ziemlich grobes Plagiat eines Hörspiels von Friedrich Dürrenmatt (lustigerweise im selben Verlag!) darstellt. Belesen ist die junge Frau also auch noch!

Wie der Titel schon besagt, fokussiert Nothomb diese Erzählung auf das Phänomen des Hungers, das sich zuerst als Gier des kleinen Mädchens nach Süßigkeiten und – man staunt – Wasser darstellt, sich dann in Bangladesch ganz in den unerträglichen Hunger der einheimischen Bevölkerung veräußerlicht, um sich schließlich als Anorexie der Ich-Erzählerin zu manifestieren, die sie fast zu Tode bringt. Alles rundet sich mit einer Rückkehr der 21-Jähringen an den Ort ihrer kindlichen Selbstvergottung in Japan und der Begegnung mit ihrem ersten Kindermädchen.

Nothombs Erzählen zeichnet sich in der Hauptsache durch drei Eigenschaften aus: Einen knappen, lakonischen Stil, präzise, von allem Überflüssigen befreite Beobachtungen und einen distanzierten, oft ironischen Humor. Man darf wahrscheinlich nicht zuviel auf einmal von ihr lesen, aber wenn man von Zeit zu Zeit bei ihr vorbeischaut, ist sie immer wieder ein Genuss.

Amélie Nothomb: Biographie des Hungers. Aus dem Französischen von Brigitte Große. detebe 24042. Zürich: Diogenes, 2010. Broschur, 207 Seiten. 9,90 €.

Edith Wharton: The House of Mirth

978-0-940450-31-8Dieser 1905 erschienene Roman war der erste bedeutende Erfolg Edith Whartons als Schriftstellerin und lange Zeit wohl einer der meistgelesenen Romane der USA. In Deutschland ist es Wharton nie recht gelungen, aus dem Schatten des bedeutenderen Henry James herauszutreten, auch wenn zahlreiche ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt wurden. Der Titel dieses Buches zitiert eine Stelle aus dem Prediger Salomon:

7.4 The heart of the wise is in the house of mourning; but the heart of fools is in the house of mirth. (Das Herz der Weisen ist im Klagehause, und das Herz der Narren im Hause der Freude. (Luther, 1912))

Erzählt werden gut zwei Jahre aus dem Leben der jungen Lily Bart, die aus der Schicht des New Yorker Geldadels des ausgehenden 19. Jahrhunderts stammt. Ihr Vater ist bankrott gegangen und verstorben und auch ihre Mutter lebt seit einiger Zeit nicht mehr. Lily wurde von einer Tante ins Haus genommen, die Lilys schmales Einkommen aus dem Erbe aufstockt, um es ihr zu ermöglichen, ein standesgemäßes Leben zu führen und einen Mann zu finden, der ihr auch zukünftig das luxuriöse Leben bieten kann, an das sie gewöhnt ist. Lily versteht auch sehr gut, dass dies ihr einziges realistisches Lebensziel ist, auch wenn sie die Gesellschaft, in der sie sich bewegt  wegen deren Hohlheit und Geistlosigkeit verachtet. Verliebt ist Lily dagegen in den Rechtsanwalt Lawrence Selden, der aber als Ehemann aufgrund seiner mangelhaften finanziellen Verhältnisse nicht ernsthaft in Betracht kommt. Dennoch verdirbt sich Lily für einen Flirt mit Selden leichtsinnig ihre Chancen bei einem der besten Kandidaten für die Rolle des Ehemanns und kann sich auch danach nicht entschließen, ihre Eheschließung als das Geschäft anzusehen, um das es sich offenbar handelt.

Der dramatische Knoten der Handlung wird geschürzt, in dem sich Lily, die deutlich mehr Geld ausgibt , als sie zur Verfügung hat, vom Ehemann einer Freundin Geld leiht; sie ist allerdings in der naiven Annahme, Gus Trenor lege ihr eigenes Geld für sie gewinnbringend an. Als Gus für das Geld eine entsprechende freundschaftliche Gegenleistung erwartet, verweigert sich Lily ihm voller Empörung. Dies ist der Beginn ihres gesellschaftlichen Niedergangs. Sie kommt ins Gerede der Gesellschaft, ihre Tante enterbt sie faktisch, indem sie ihr gerade die Summe aussetzt, die sie benötigt, um Trenor auszuzahlen, und eine ihrer Freundinnen benutzt Lilas angeschlagenen gesellschaftlichen Ruf, um von ihren eigenen außerehelichen Eskapaden abzulenken.

In der besseren Gesellschaft unmöglich gemacht, wird Lily zuerst in die Sphäre der Aufsteiger und Neureichen verdrängt, kann sich aber auch dort nicht auf Dauer halten und muss schließlich sogar für Geld arbeiten gehen, wofür sie sich als nicht besonders geeignet erweist. Sie weigert sich trotz alledem standhaft, einige kompromittierende Briefe, die ihr die Autorin in ihrer Voraussicht zugespielt hat, zu benutzen, um ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu erzwingen; auch zwei Rettungsversuche von Selden und dem gesellschaftlichen Aufsteiger Simon Rosedale, der Lily zwar aufrichtig liebt, dem aber jegliche Sentimentalität fremd ist, lehnt sie ab. Am Ende kommt es, wie es kommen muss: Lily steht kurz davor, die kompromittierenden Briefe doch zu verwenden, besinnt sich aber eines besseren und vergiftet sich mit einer Überdosis eines Schlafmittels.

Das Buch glänzt besonders durch die zugleich intime, präzise und ironische Darstellung der Oberen Zehntausend der amerikanischen Ostküste. Doch kann die Figur Lily Barts nicht vollständig überzeugen: Einerseits teilt sie mit Lawrence Selden die ironische Distanz zu ihrer eigen Gesellschaftsschicht, andererseits wird an keiner Stelle klar, woraus sich dieses distanzierte Bewusstsein speist. Die Ursache ihrer Schwierigkeiten, die Ehe schlicht als ein Geschäft anzusehen, scheint eine Art moralischer Vorbehalt zu sein, wobei letztlich unklar bleibt, worin dieser Vorbehalt bestehen soll. Damit sie das ihr zugedachte Schicksal durchleiden kann, wird sie von ihrer Autorin zu einer High-Society-Version Emma Bovarys gemacht, gleichzeitig soll sie aber als Reflexionsfigur für die ironische Distanzierungen der Autorin dienen. Beides zugleich funktioniert aber nicht in derselben Figur. Daher bleibt am Ende auch Lily Barts Scheitern unglaubwürdig: Wäre sie der selbstständige Geist, als der sie erscheint, so würde sie ihr gesellschaftliches Scheitern zu einem neuen Leben abseits ihrer alten Bekanntschaften führen. Wäre sie das naive Opfer, als das sie erscheint, so bleibt es unverständlich, dass sie sich nicht jener Briefe bedient, um endgültig ihre Rolle in jener korrumpierten Gesellschaft zu spielen, die sie so dringlich zu spielen wünscht und für die sie – so wenigstens behauptet es die Autorin – aufgrund Vererbung und Erziehung prädestiniert ist. Angesichts dieser einander widersprechenden Tendenzen, weiß die Autorin am Ende keinen anderen Rat, um ihre Fabel zum Ende zu bringen, als in triviale Sentimentalität zu flüchten. So fehlt es dem Buch bei all seinen Qualitäten doch an Konsequenz und besonders seinem Ende an Originalität, um zu den wirklich großen Gesellschaftsromane gezählt werden zu können.

Edith Wharton: The House of Mirth. In: Novels. New York: Library of America, 82008. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 347 von insgesamt 1331 Seiten. Ca. 31,– €.

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht

Das Leben ist was für andere.

978-3-518-46284-3Wahrscheinlich weitgehend autobiographisch unterfütterte Erzählung in alternierenden Kapiteln, die zum einen auf der Insel Usedom spielen, wo die Ich-Erzählerin Jenny die Ferien bei ihren Großeltern verbringt, während ihre Eltern an ihrer Trennung arbeiten, zum anderen in New York, Riga und dem heimatlichen Greifswald. Als roter Faden zieht sich die Faszination der Protagonistin für Seeleute durch alle Kapitel, auf die sich auch der Titel bezieht: »Blau steht dir nicht« ist der Kommentar der Großmutter zu Jennys Wunsch, Matrösin zu werden.

Erzählt wird recht locker; besonders die geradzahligen Kapitel, die nicht oder nicht nur auf Usedom spielen, sind durchsetzt mit Essayistischem: Mit Anekdoten zu Sergei Eisenstein und seinem Monumentalfilm über den Matrosenaufstand in Odessa sowie seinen Vater Michail, dem bedeutendsten Architekten des Rigaer Jugendstils. Oder über den letzten Zarewitsch Aljoscha, dem jüngsten Kind des letzten Zaren Nikolaus II., der nach der gängigen bürgerlichen Mode als ein kleiner Matrose ausstaffiert wurde. Oder einer kurzen biographischen Skizze Wolfgang Koeppens, der ebenso wie Judith Schalansky in Greifswald geboren wurde, oder einer Geschichte von den Luftschiffern des Grafen Zeppelin, auch sie Matrosen eines ganz anderen Meeres usw. usf. Der Text ist zudem durchsetzt mit zahlreichen Fotografien, die zum Teil das Erzählte illustrieren, zum Teil aber auch eine zusätzliche erzählerische Ebene bilden.

Kaum etwas an diesem sehr leichten Buch weist darauf hin, dass die Autorin nur drei Jahre später mit »Der Hals der Giraffe« einen motivisch und sprachlich hoch konzentrierten Roman folgen lassen wird. Eine solche erzählerische Spannbreite unterstreicht einmal mehr das außergewöhnliche Talent Schalanskys, von der wohl noch einige Überraschungen erwartet werden können.

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. st 4284. Berlin: Suhrkamp, 2011. Broschur, 141 Seiten. 7,95 €.

Paul Auster: Unsichtbar

978-3-498-00081-3Auster ist schlicht ein großer Routinier der literarischen Fiktion. Unsichtbar enthält im Wesentlichen zwei erzählerische Ebenen, von denen die eine eine Variation der klassischen Herausgeberfiktion darstellt. Im Zentrum des Romans steht der 20-jährige Adam Walker, der 1967 in New York Literatur studiert und Schriftsteller werden will. Er lernt auf einer Party Rudolf Born, einen Schweizer Gastprofessor seiner Universität, und dessen Freundin Margot kennen. Als er Born kurze Zeit später zufällig wieder trifft, macht dieser ihm ein außergewöhnliches Angebot: Born habe geerbt und wolle Geld in ein Projekt investieren, etwa eine literarische Zeitschrift. Ob Walker sich vorstellen könne, eine solche Zeitschrift zu leiten? Obwohl Walker misstrauisch ist, ob es sich nicht um einen Scherz handelt, entwickelt er ein Konzept für eine solche Zeitung, das von Born akzeptiert wird: Born will die Zeitschrift im ersten Jahr mit 25.000 $ finanzieren. Als Born kurz darauf für kurze Zeit nach Paris reist, beginnt seine Freundin eine Affäre mit Walker, die mit Borns Rückkehr endet. Born trennt sich allerdings daraufhin von Margot, auch weil er vorhat in Frankreich zu heiraten. An dem Plan mit der Zeitschrift ändert sich aber nichts: Als Walker Born das nächste Mal trifft, stellt der ihm einen Scheck über das erste Viertel der geplanten Summe aus. Als die beiden dann ausgehen, um etwas zu essen, werden sie von einem Schwarzen überfallen, den Born kurz entschlossen mit einem Messer niedersticht. Walker sucht das nächste Telefon, um eine Ambulanz zu rufen, doch als er zum Tatort zurückkehrt, sind Born und das Opfer verschwunden. Am nächsten Tag erfährt Walker aus der Zeitung, dass die Leiche eines Schwarzen entdeckt wurde, der mit zahlreichen Messerstichen getötet wurde. Am selben Tag findet er in seinem Briefkasten eine Drohung Borns, ihn zu töten, falls er zur Polizei gehe. Als Walker sich nach mehreren Tagen doch dazu entschließt, die Polizei zu verständigen, ist Born inzwischen nach Frankreich geflohen.

Soweit der erste von vier Teilen des Buchs. Im zweiten Teil erfährt der Leser, dass es sich beim ersten um einen Entwurf Walkers zum einem autobiografischen Roman handelt. Walker hat diesen Entwurf an einen ehemaligen Kommilitonen und erfolgreichen Autor, James Freeman, geschickt mit der Bitte, ihm schriftstellerisch etwas auf die Sprünge zu helfen, da er mit dem zweiten Teil nicht recht vorwärts komme. Freeman erfährt, dass der inzwischen 60-jährige Walker an Leukämie erkrankt ist und wahrscheinlich bald sterben wird. Er gibt Walker einige allgemeine Tipps und hält bald den zweiten Teil des Romans in Händen, der von den folgenden Monaten des Jahres 1967 erzählt: Walker arbeitet als Hilfskraft in der Universitätsbibliothek und hat außerdem eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester, mit der er zusammenlebt. Dieses Verhältnis endet, als Walker ein Auslandsstudienjahr in Paris antritt.

Als Freeman nach der Lektüre des zweiten Kapitels Walker wie verabredet besuchen will, erfährt er, dass der kurz zuvor verstorben ist. Er hat Freeman aber den Entwurf des abschließenden dritten Kapitels hinterlassen. Wie zu erwarten ist, spielt der letzte Teil von Walkers Roman in Paris und bringt eine Wiederbegegnung sowohl mit Margot als auch mit Born. Die Ereignisse der wenigen Wochen, die Walker in Paris zubringt, nachzuerzählen, kann hier unterbleiben. Wichtig ist nur, dass Walker versucht, Borns geplante Eheschließung zu verhindern und auf diese obskure Weise den New Yorker Mord an dem Schwarzen zu rächen. Als Born Walkers Vorhaben erkennt, lässt er Walker kurzerhand wegen Drogenbesitzes festnehmen und ausweisen.

Im vierten und letzten Teil des Buches beschäftigt sich Freeman mit dessen Herausgabe, nachdem Walkers Schwester ihm dazu den Auftrag erteilt hat. Nachdem Freeman von ihr erfahren hat, dass zumindest die inzestuöse Beziehung frei erfunden ist, nutzt er seinen nächsten Paris-Aufenthalt, um zu recherchieren, wie viel von dritten Teil der Erzählung der Wahrheit entspricht. Und tatsächlich kann er eine der Figuren aus Walkers Roman identifizieren. Von ihr erfahren wir zum Abschluss auch von der weiteren Geschichte Rudolf Borns.

Auster beweist einmal mehr, dass die guten alten Muster der Erzählkunst immer noch wirksam sind: Herausgeberfiktion, Spannung zwischen den Ebenen der Fiktion und der fiktiven Wirklichkeit, Liebe, Sex and Crime, eine moralisch fragwürdige Haupt- und eine zwielichtige Nebenfigur – all das wird zu einem gut erfundenen, routiniert erzählten Unterhaltungsroman verarbeitet. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch leichter Hand Auster das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen seiner Fiktionen aufrecht erhalten kann. Für meinen persönlichen Geschmack war es in diesem Fall am Ende eine fiktionale Ebene zu viel, aber das mögen andere Leser anders empfinden.

Paul Auster: Unsichtbar. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Reinbek: Rowohlt, 2010. Pappband, Lesebändchen, 316 Seiten. 19,95 €.