Zum Tod von Gert Jonke

Höhepunkt und Abschluß des Programmes bildete der sogenannte »Seiltanz«. Die tüchtigen zwei Gehilfen hatten schon vor Beginn der Veranstaltung ein Seil von der Spitze eines Baumes über den Dorfplatz zur Spitze des gegenüberstehenden Baumes gespannt, etwa acht Meter (!) über dem Boden. Der Künstler stieg auf den Baum, erreichte die Höhe des Seiles, stellte sich regelrecht auf das Seil und begann, langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, am Seil in der Luft (!) den Dorfplatz zu überqueren. Der Ast des einen Baumes, an dessen Spitze das Seil angebunden war, wurde durch das Gewicht des Künstlers so stark belastet, daß er brach, und das Seil mit ihm zu Boden sauste.

Der Künstler hatte sich zu diesem Zeitpunkt in der Luft über dem Brunnen befunden, und unser Meister fiel auf solche Art und Weise vom Himmel, daß – keiner hätte es auch nur im entferntesten für möglidi gehalten – sein Rücken genau auf der Stange der Brunnenwinde aufkam, und dadurch seine Wirbelsäule genau in der Mitte (!) entzweibrach, so daß sein Körper vollkommen abgeknickt über dem Brunnen baumelte. Die Leute waren begeistert, bedankten sich mit enthusiastischem Applaus und brachen in frenetische Beifallskundgebungen aus. Allgemein bewundert und auf lebhafteste Weise diskutiert und kommentiert wurde auch die stille Bescheidenheit und Zurückhaltung des Künstlers. Endlich wieder einmal einer, der es kraft seiner edlen Herzensbildung, seiner ergreifenden Lebensweisheit und seines trefflichen und hintergründigen Humors nicht nötig hat, jenen linksfreundlichen, negativen, modernistischen Tendenzen zu huldigen, mit Hilfe derer gewisse subversive Elemente unter dem verhängnisvollen und falschen Deckmantel »Kunst« die natürliche Ordnung, die gesunde Disziplin und das einfache Empfinden der Bevölkerung untergraben möchten; aber es wird nicht gelingen, denn, wie wir sehen, es gibt noch Leute mit Rückgrat und Charakter, die dem Publikum aus tiefster Seele sprechen, das Herz auf dem rechten Fleck haben und wissen, wo der Pfeffer wächst, und wo man die Kirschen holt. Es muß unbedingt auch noch erwähnt werden, daß der Künstler sein Programm vollkommen frei aus dem Kopf (!), auswendig und ohne die Verwendung einer Vorlage bewältigte, was einmalig dastehend auf einsamer Höhe eine kolossale und geradezu phänomenale Gedächtnisleistung darstellt.

Gert Jonke
Geometrischer Heimatroman

Allen Lesern ins Stammbuch (22)

Ich hatte, auch wenn das damals keiner wußte, alles geschrieben, was ich zu schreiben hatte, und daran ist nichts auszusetzen. Wenn mehr Schriftsteller zu dieser Erkenntnis kämen, blieben der Welt viele schlechte Bücher erspart, und mehr Menschen – Männer wie Frauen – könnten fortan ein glücklicheres, produktiveres Leben führen.

Richard Ford: Der Sportreporter

Zum Tod von David Foster Wallace

There is something about a mass-market Luxury Cruise that’s unbearably sad. Like most unbearably sad things, it seems incredibly elusive and complex in its causes and simple in its effect: on board the Nadir—especially at night, when all the ship’s structured fun and reassurances and gaiety-noise ceased—I felt despair. The word’s overused and banalified now, despair, but it’s a serious word, and I’m using it seriously. For me it denotes a simple admixture—a weird yearning for death combined with a crushing sense of my own smallness and futility that presents as a fear of death. It’s maybe close to what people call dread or angst. But it’s not these things, quite. It’s more like wanting to die in order to escape the unbearable feeling of becoming aware that I’m small and weak and selfish and going without any doubt at all to die. It’s wanting to jump overboard.

David Foster Wallace
A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again

Allen Lesern ins Stammbuch (21)

So ergeht es uns nicht anders als jenem abessinischen Eingeborenen, der einen wichtigen Mythos nicht mehr wußte und sich deshalb nicht erklären konnte, weshalb er zu so verschiedenartigen Anlässen ein Stück Butter auf dem Kopf trug. »Unsere Vorfahren kannten den Sinn der Dinge, aber wir haben ihn vergessen.«

Wir kennen den Sinn der unzähligen Überbleibsel, in denen wir uns ausdrücken, noch sehr viel weniger. Das allermeiste ist uns Butter auf dem Kopf. Und kein Mythos, kein Romanwerk wird es uns je wieder erklären. Dennoch liegt, nach wie vor, die Technologie der Wiederaufbereitung verbrauchten symbolischen Wissens, das recycling des Bedeutungsabfalls in den Händen einiger ungeschickter Leute, Dichter! Wenige Leute, sie werden es alleine kaum schaffen.

Botho Strauß
Die Widmung

Miniaturen (9)

Im Osten […] lebte ein gewisser Mann, der über den Markt von Damaskus ging, als ihm der Tod von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat. Er bemerkte einen Ausdruck der Überraschung in der Miene der schauerlichen Erscheinung, doch gingen sie wortlos aneinander vorüber. Der Mann bekam’s mit der Angst zu tun und suchte einen Weisen auf, sich Rats zu holen. Der Weise sagte ihm, daß der Tod vermutlich nach Damaskus gekommen sei, um ihn am nächsten Morgen zu holen. Der arme Kerl war darob naturgemäß höchstlich entsetzt und fragte, wie er dem entrinnen könne. Das einzige, was ihnen einfiel, war, daß das Opfer noch in der Nacht nach Aleppo reiten solle, um so dem Schädel und den blutigen Knochen zu entkommen.

Der Mann ritt also tatsächlich nach Aleppo – es war ein ungeheuer anstrengender Ritt, den noch niemand in einer einzigen Nacht geschafft hatte –, und als er dort war, ging er über den Markt und gratulierte sich, daß er dem Tod entgangen sei.

In diesem Augenblick kam der Tod und klopfte ihm auf die Schulter. »Entschuldige«, sagte er, »aber ich wollte dich holen.« »Wieso denn?« rief der Mann entsetzt, »ich hab’ gedacht, ich wär’ dir gestern in Damaskus begegnet!« »Genau das«, sagte der Tod. »Deshalb hab’ ich so überrascht dreingeschaut – denn mir war gesagt worden, ich würde dich heute in Aleppo treffen.«

T.H. White
Der König auf Camelot

Allen Lesern ins Stammbuch (20)

Heute lag die Abrechnung der VG Wort für das Jahr 2007 mit beigefügtem Scheck im Briefkasten.

Ich veröffentlichte zu meinem vierzigsten Geburtstag eine Berechnung darüber, daß ich bis dahin aus meiner Literatur – „aus der gesamten Holz- und Faserindustrie“ – insgesamt im Durchschnitt monatlich 4,50 Mark verdient hätte, und damit war ich in mehrere europäische Sprachen übersetzt, heute wäre der Durchschnitt etwas höher, aber zum Leben auch unter den einfachsten Bedingungen zu gering.

Gottfried Benn

Allen Lesern ins Stammbuch (18)

Mein nächstes Buch wird »Schmerznovelle« heißen. Es wird sich auch – wenigstens im Groben – an die tradierten Definitionen der Gattung Novelle halten.

Vorgestern erreichte mich ein Anruf aus dem Verlag. Marketingabteilung.

– Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit :

SCHMERZ
Roman

– Nein, das Ding heißt Schmerznovelle und basta.

Heute der nächste Anruf.

– Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit:

SCHMERZNOVELLE
Roman

Helmut Krausser