Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen

Es gibt nicht viele große, entscheidende Schritte der Philosophie, trotz des Aufwandes und Windes, den sie durch die Geschichte hindurch gemacht hat.

978-3-518-29355-3Eine der zahlreichen Editionen aus dem Nachlass von Hans Blumenberg. Dort fand auch eine Mappe mit dem Titel des Buches, der auch der Titel eines der darin gesammelten Essays ist. Thematisch hängt die Sammlung nur locker zusammen: Es geht um Gefälligkeit von Philosophen und Philosophien, um Martin Heidegger und seine nationalsozialistischen Verstrickungen, es geht aber auch um Sigmund Freud – der Essay »Dies ist in Wirklichkeit nur jenes« enthält eine der knappsten und präzisesten Analysen der Freudschen Psychoanalyse, die ich kenne – und Arthur Schnitzler, um Hegel und das Holstentor.

Insgesamt wie immer bei Blumenberg eine sehr anregende Lektüre, die in diesem Fall zwischen einem gehobenen feuilletonistischen und maßvollen philosophischen Niveau pendelt. Eine anspruchsvolle Lektüre für den Nachttisch.

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen. stw 1755. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Broschur, 208 Seiten. 10,– €.

Arthur Schnitzler: Traumnovelle

Tausendmal schlimmer wäre es ihm erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter Angekleideten nackt.

978-3-15-018455-4Diese etwas lang geratene Erzählung von 1925 kam 1999 noch einmal zu unerwarteter Prominenz, als Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut« in die Kinos kam. Der Film versetzt die Handlung zwar von Wien nach New York und verlegt sie vom Anfang ans Ende des Jahrhunderts, erweist sich aber sonst als eine behutsame und minutiöse Literaturverfilmung.

Erzählt werden einige Tage aus dem Leben des 35-jährigen Wiener Arztes Fridolin, der nach dem Geständnis seiner Gattin Albertine, sie habe sich im letzten Urlaub haltlos in einen jungen Mann verliebt, mit diesem aber nicht einmal ein Wort gewechselt, aus der Bahn seiner alltäglichen Routine geworfen wird. Er stürzt sich noch in derselben Nacht in eine sich steigernde Reihe erotischer Abenteuer, die darin gipfelt, dass er sich in eine geheime Orgie einschleicht, dort aber rasch enttarnt und aus dem Haus geworfen wird. Nach Hause zurückgekehrt, verwirrt ihn die Nacherzählung eines Traums seiner Frau noch tiefer. Am nächsten Tag vollzieht Fridolin seinen Weg aus der Nacht zuvor noch einmal nach, ohne die angestrebte Erlösung von seiner inneren Anspannung finden zu können. Erst seine erneute nächtliche Heimkunft bringt eine Wendung der Krise.

Obwohl die Erzählung beim Erscheinen von der Kritik zumeist freundlich aufgenommen wurde, war sie kein bedeutender Erfolg. Erst im Rückblick erweist sich diese Erzählung von der Gefährdung der Ehe durch die unterminierende Macht der Sexualität als überraschend klarsichtig.

Arthur Schnitzler: Traumnovelle. RUB 18455. Stuttgart: Reclam, 2006. Broschiert, 125 Seiten. 2,60 €.

(Geschrieben für die Reihe 100 Seiten beim Umblätterer.)

Michel Onfray: Anti Freud

978-3-8135-0408-8Ich habe mich sehr schwer getan, zu diesem Buch etwas zu schreiben, auch überlegt, ob ich es nicht einfach stillschweigend übergehen sollte, da es ein sehr schlechtes Buch ist und ich die Lektüre nach 150 Seiten eingestellt habe, weil kein neuer, geschweige denn ein origineller Gedanke mehr zu erwarten war. Ich selbst bin als Fachmann für Arno Schmidt auch ein halber, vielleicht auch nur ein drittel Fachmann für Freud geworden, weshalb mich die Auseinandersetzung mit ihm immer noch interessiert, während mir der Rest der psychoanalytischen Literatur inzwischen weitgehend gleichgültig ist.

Um das Buch angemessen zu rezensieren, ist es leider notwendig, zuvor einige Sätze zu meiner eigenen Position in der Sache zu schreiben, damit man meine Kritik an Onfray nicht als ein Plädoyer für die Psychoanalyse missversteht. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds ist eine der bedeutendsten Begründungen einer Weltanschauung (um nicht Religion zu schreiben) des 20. Jahrhunderts. Das in ihr implizit und explizit zum Ausdruck kommende Menschenbild hat einen nicht zu unterschätzenden weltweiten Einfluss auf die Kulturentwicklung gehabt, und niemand kann hoffen, die Entwicklung der westlichen Kultur in den letzten gut 100 Jahren zu verstehen, wenn er diesen Einfluss zu ignorieren versucht. In Freuds Denken fokussieren sich bedeutende geistige Strömungen des 19. Jahrhunderts: die Säkularisierung der Kultur, die Verbreitung atheistischen Denkens, der naive Glaube an die Erklärungsmächtigkeit rationaler Wissenschaft, das romantische Bewusstsein vom notwendig widersprüchlichen Charakter unseres Selbst und nicht zuletzt die Einsicht, dass es sich beim Bild vom Menschen als autarkem Herrn im eigenen Haus um eine weit verbreitete Selbsttäuschung handelt. Das Freudsche und in der Folge dann psychoanalytische Menschenbild im Allgemeinen hat das von Christentum und Humanismus geprägte der Neuzeit soweit gewandelt und aufgelöst, dass grundlegende Thesen der Psychoanalyse heute so weit zum selbstverständlichen und weitgehend popularisierten Grundbestand der westlichen Kultur gehören, dass sich selbst prinzipiell konkurrierende Glaubenssysteme (wie etwa das Christentum) dem anzupassen gezwungen sind.

Dies ist allerdings nicht der einzige Aspekt, unter dem die Psychoanalyse zu betrachten ist: Wie die meisten Weltanschauungen enthält auch die Psychoanalyse ein Heilsversprechen. In ihrem Fall ist dies erst sekundär ein gesellschaftliches oder soziales, primär ist es eines, das auf das Individuum zielt. Die Psychoanalyse versteht sich selbst in erster Linie als Therapie, und ihr wichtigstes Kriterium für die Richtigkeit des eigenen Menschen- und Weltbildes ist der therapeutische Erfolg. (Ob sich ein solcher nachweisen lässt oder nicht, ist eine so komplexe Frage, das sie hier nicht thematisiert werden kann.)

Dass es sich bei der Psychoanalyse nicht um eine Wissenschaft in dem Sinne handelt, wie sich dieser Begriff in den letzten beiden Jahrhunderten herausgemendelt hat, ist – auch entgegen den Ansprüchen einiger ihrer Adepten – offensichtlich und durch die Arbeiten von Wissenschaftstheoretikern wie Adolf Grünbaum hinreichend eindeutig nachgewiesen worden. Insbesondere die freie und freizügige Verwendung der logischen Negation, durch die in der psychoanalytischen Interpretation am Ende beinahe alles beinahe alles andere bedeuten kann, desavouiert die psychoanalytische Methode in den Augen empirischer Wissenschaftler. Im Gegensatz zu ihrem weit verbreiteten Selbstverständnis untersucht die Psychoanalyse nicht empirisch vorhandene Phänomene, sondern sie erzeugt wesentlich den Gegenstand ihrer Untersuchung im Vollzug dieser Untersuchung selbst. Sie ist daher – und bereits Sigmund Freud wusste dies sehr genau – eher eine historische als eine empirische Wissenschaft. Als Gegengewicht zu dieser sehr grundsätzlichen Kritik sollte man sich allerdings an die Einsicht des Aristoteles erinnern, dass von jeder Wissenschaft nur jener Grad von Genauigkeit erwartet werden sollte, den der behandelte Gegenstand tatsächlich hergibt (Nikomachische Ethik, 1094b).

Nach diesem ungewöhnlich langen Vorwort nun endlich zu Michel Onfrays Buch. Onfrays Kritik an Freud ist kein Versuch einer objektiven Einschätzung des wissenschaftlichen Anspruchs seiner Theorie oder ihrer Rolle in der Kultur des 20. Jahrhunderts. Vielmehr handelt es sich um eine Polemik, die versucht, Freuds Person zu verleumden und dadurch seine Theorie zu entwerten. Zu diesem Zweck wiederholt Onfray etwa alle fünf Seiten seine Behauptung, dass Freud seine Theorie zum einen hauptsächlich bei Nietzsche abgeschrieben habe, zum anderen aus seiner persönlichen psychischen Disposition abgeleitet und verallgemeinert habe. Diese Verallgemeinerung sei unzulässig, da Freud dadurch von ihm als universell ausgegebene psychische Gesetzmäßigkeiten von einem einzigen, noch dazu seinem eigenen Fall ableite.

Diese beiden Behauptungen werden von Onfray mit großer rhetorischen Beharrlichkeit immer erneut abgewandelt. Zwischen diesen Wiederholungen des ewig Selben beschuldigt Onfray in der Hauptsache Anna Freud, Ernest Jones und Peter Gay der systematischen Legendenbildung im Fall Freuds. Dies alles wird in einem Ton vorgebracht, als würden hier große Neuigkeiten verkündet, was wahrscheinlich nur diejenigen Leser Onfrays überzeugen wird, auf die das Buch zielt. Jeder dagegen, der sich auch nur oberflächlich mit der Literatur zu Freud beschäftigt hat, weiß, dass der Einfluss der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts und insbesondere Nietzsches auf Freud inzwischen breit dokumentiert und diskutiert wurde. Onfray rennt hier unter großem Gebrüll Türen ein, die bereits seit mehreren Jahrzehnten weit offen stehen.

Was die methodologische Kritik angeht, so bemerkt Onfray offenbar nicht (oder er will es nicht bemerken), dass seine Kritik gänzlich ins Leere geht: Zum einen hat Freud nie bestritten, dass er selbst und die Angehörigen seiner Familie bevorzugte Objekte seiner Studien waren, zum anderen ist es nicht verwunderlich, dass Freud allgemein gültige psychische Gesetzmäßigkeiten auch an sich selbst feststellen kann. Onfrays Argument folgt in etwa der Struktur, dass Newtons Gravitationsgesetz nicht gültig gewesen wäre, hätte Newton es bloß dadurch herausgefunden, dass er es an der Schwere seiner eigenen Person studiert hätte. Wollte Onfray tatsächlich nachweisen, dass hier ein Fehler vorliegt, so müsste er – wie dies andernorts durchaus fruchtbar praktiziert worden ist – zuerst auf empirischem oder logischem Weg nachweisen, dass die von Freud als allgemein gültig angesehen psychischen Gesetzmäßigkeiten diesem Anspruch nicht genügen, um dann Freuds Schluss von sich auf andere als Fehlschluss nachweisen zu können. Selbstverständlich macht sich der Philosoph Onfray die Mühe eines solchen Nachweises nicht, besonders auch weil dessen langwierige Erarbeitung und detaillierte Darstellung am Interesse seiner Zielgruppe gänzlich vorbeigehen würde.

Von der logischen Schwierigkeit, dass Onfrays Argument gegen Freud auf ihn selbst zurückschlägt und so seine Kritik Freuds als nichts anderes erscheinen muss als ein Ausfluss seiner – Onfrays – persönlichen psychischen Disposition, wollen wir hier ganz schweigen; ein beschämendes Bild mangelnder Reflexion für einen, der sich als Philosophen ausgibt. Bleibt nur noch festzuhalten, dass Onfray eine Diskussion des wichtigen Arguments, dass sich die Richtigkeit der psychoanalytischen Theorie letztlich nur an den Erfolgen bzw. Misserfolgen der therapeutischen Praxis entscheiden wird (eine Entscheidung, die noch lange nicht gefallen ist und wahrscheinlich auch erst fallen wird, wenn sie vollständig unerheblich geworden ist), in keiner einzigen Zeile auch nur versucht.

Insgesamt lässt sich das Buch völlig ausreichend beurteilen, wenn man einen Blick auf das Cover der deutschen Ausgabe wirft: Da hat ein frecher, kleiner Junge dem Papa Sigmund Hörner, eine Brille und eine herausgestreckte Zunge angemalt und eine Teufelsgabel in die Hand gedrückt. Man kann das witzig finden, aber es ist weder ein Argument gegen die Psychoanalyse, noch wird Freud auf diese Weise tatsächlich zum Teufel. Das Buch ist ein alberner und etwas kindischer Versuch Onfrays, mit einem seiner geistigen Väter abzurechnen – und es folgt damit so klassisch dem Freudschen Mythos vom Vatermord, dass es schon wieder lächerlich ist.

Michel Onfray: Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. München: Knaus, 2011. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,99 €.

Ronan Bennett: Zugzwang

bennett-zugzwang Einer der seltenen Fälle, in denen ein englischsprachiges Buch einen deutschen Titel trägt: Das Wort Zugzwang stammt aus der deutschen Schachterminologie und ist heute weltweit gebräuchlich. Es bezeichnet Stellungen, in denen für den am Zug befindlichen Spieler jeder mögliche Zug zum Partieverlust führt; man sagt dann: »Der Spieler ist in Zugzwang.« Zugzwang entsteht am häufigsten in Endspielen und ist dort ein wichtiges, für beide Seiten schwer kalkulierbares taktisches Mittel.

Die deutsche Ausgabe ist von Bloomsbury mit einer beachtlichen Kampagne beworben worden, in der der Verlag neben den üblichen buchhändlerischen und journalistischen Kanälen auch die Schachmedien konsequent bedient hat. Das Buch hatte daher beim Erscheinen eine breite und beinahe durchweg positive Publicity, was wohl in der Hauptsache daran lag, dass kaum einer der Rezensenten es tatsächlich gelesen hatte. Nur in Einzelfällen ist darauf hingewiesen worden, dass das St. Petersburger Schachturnier des Jahres 1914 eher als Kulisse dient, als dass es eine tragende Rolle spielen würde. Doch zum schachlichen Anteil weiter unten noch einige Worte.

Erzähler des Romans ist der St. Petersburger Neurologe und Psychoanalytiker Dr. Otto Spethmann, der unter anderem auch einige Prominente behandelt. Wie schon angedeutet, spielt das Buch im Frühjahr 1914, kurz vor und während des berühmten St. Petersburger Turniers, das nicht nur vom russischen Zaren direkt gefördert wurde, sondern an dessen Ende auch die ersten offiziellen Großmeistertitel verliehen wurden. Allerdings beginnt Bennetts Geschichte erst einmal mit einem Mord: Am 14. März 1914 (man fragt sich unwillkürlich, ob nach julianischem oder gregorianischem Kalender, aber solche Feinheiten sind dem Autor gänzlich fern) wird der St. Petersburger Zeitungsherausgeber Gulko auf offener Straße ermordet. Wie wir wenige Seiten danach erfahren, ist dies nicht der einzige Mord des Tages, denn wenig später erhält Dr. Spethmann den Besuch des Polizeiinspektors Lychev, der ihn in einer Mordsache befragt, bei der beim Opfer eine Visitenkarte des Arztes gefunden wurde. Spethmann gibt wahrheitsgemäß Auskunft, dass ihm der Name des Ermordeten nichts sage und wird für den nächsten Tag zusammen mit seiner Tochter Catherine (wahrscheinlich heißt sie Katharina, aber solche Feinheiten sind dem Autor gänzlich fern) aufs Revier bestellt.

Als er dies noch am selben Abend einer seiner Patientinnen, Anna (we need a girl in the story, who is she and what does she do?), erzählt, arrangiert diese sofort einen Termin bei ihrem geld- und einflussreichen Vater, der Spethmann weitere Belästigungen der Polizei ersparen soll. Allerdings hat dieser Versuch eher den gegenteiligen Effekt: In der Folge werden Spethmann und seine Tochter inhaftiert und verdächtigt, Kontakte zu Verschwörern zu haben, die planen, den Zaren zu töten. Es erweist sich allerdings, dass Catherine den Ermordeten Visitenkartenträger intim kannte, sich aber weigert, der Polizei mit irgendwelchen Angaben dienlich zu sein. Trotz oder wegen der Sackgasse, in die die Untersuchungen Lychevs damit geraten, werden Vater und Tochter aus der Haft entlassen (auch dem Autor ist inzwischen aufgefallen, dass mit einem Protagonisten im Gefängnis die Handlung nicht recht vorwärts will) und geraten, wie man sich leicht denken kann, nahezu augenblicklich in den Sog schier unglaublicher Ereignisse: Es erweist sich, dass mit Ausnahme von Spethmann nahezu keine der handelnden Personen ist, was sie zu sein scheint. Der staatstreue Inspektor ist in Wirklichkeit ein Bolschewist, die brave Tochter nicht nur promisk sondern auch noch Bolschewistin, der Bolschewist Petrov wiederum ein Handlanger der Reaktion, der scheinbar hilfreiche Vater Annas ein Judenhasser und Verschwörer, der Pianist ein Doppelspion und nur der Schachspieler Rozental (eine grobe Mischung aus Akiba Rubinstein und Alexander Lushin, aber Feinheiten liegen dem Autor ohnehin gänzlich fern) ist wirklich der Neurotiker, als der er erscheint. Die Fabel ist ebenso wirr wie uninteressant, wie sich das für dieses Genre wohl gehört, und gewürzt mit der heute anscheinend unvermeidlichen Portion Pornographie: »‘How many fingers now?’ she gasped.« Eben ein Buch, wie solche Bücher eben sind; suum cuique.

Geschrieben ist das Dings in einer glatten und einfach zu konsumierenden Sprache ohne jeglichen artistischen Anspruch. Motivisch herrschen einzelne Unsicherheiten (so dürfte ein angesehener Arzt in Petersburg im Jahr 1914 sicherlich daheim und in der Praxis einen Telefonanschluss besessen haben, eher zweifelhaft aber scheint, dass er über eine Telefonanlage verfügt, die das Durchstellen von Gesprächen aus dem Vor- ins Behandlungszimmer erlaubt; das mit dem Verhältnis des Autors zu Feinheiten hatte ich wohl schon erwähnt, oder?), aber das muss die Konsumenten einer solchen rattling good story nicht unbedingt stören. Bleibt das Schachliche:

Schachlich hat das Buch 2½ Ebenen: Die halbe besteht darin, dass der Autor immer wieder durchblicken lässt, dass das Motiv des Zugzwanges die gesamte Handlung strukturieren, ja sogar als Allegorie der Krise der russischen Monarchie schlechthin taugen soll. Dies dürfte nur sehr einfach gestrickte Gemüter überzeugen.

Eine Ebene wird von einer Fernpartie gebildet, die Spethmann mit dem ihm befreundeten Pianisten Kopelzon spielt und deren Endphase wir Zug um Zug mitgeteilt bekommen. Bennett hat hierfür, wie er selbst angibt, die Partie Daniel King vs. Andrei Sokolov, Schweizer Meisterschaft 2000, benutzt. Das Buch setzt im Endspiel nach dem 34. Zug von Schwarz ein (Diagramm):

king-sokolov-01Es folgt: 35.Tg2 (diesen feinen Zug findet Spethmann nicht selbst, sondern er wird ihm geschenkt) Txg2+ 36.Kxg2 Dc7 37.Df5+ Kh6 38.Df6+ Kh7 39.Kg3 Kg8 40.Kh4 Db6 41.Kh5 Kf8 42.Kh6 Ke8 43.Kh7 Dc5 44.Dg7 Ke7 45.Dg5+ Ke8 46.Kg8 Dc7 47.Dh6 De7 48.Dg7 a6 49.a3 a5 50.a4 (Diagramm unten). Angeblich erkennt Kopelzon erst an dieser Stelle, dass er nun in Zugzwang ist und den König vom Bauern entfernen müsse, was den Bauern und damit auch die Partie einstellt: »He had no choice but move the king away from the defence of the f-pawn.« Nun könnte man, wenn man denn schon seine Amateure von 1914 wie Profis des Jahres 2000 spielen lässt, auch den computergestützten Kommentar wagen, dass hier 50… Kd8 vielleicht nicht die zähste Verteidigung ist, sondern Schwarz mit 50… Dh4 noch auf einen späteren Fehler des Gegners king-sokolov-02spekulieren könnte. Der Rückzug des Königs kommt einer Resignation gleich, die vielleicht für Sokolov in einer Partie gegen King passt, für Kopelzon, der sich einem Patzer wie Spethmann gegenübersieht, aber ganz sicher nicht. Es folgt noch: 50… Kd8 51.Df8+ De8 52. Kg7 1-0. Wichtig ist natürlich auch hier, dass die Partie am Ende durch einen Zugzwang entschieden wird und sich auf diese Weise wenigstens oberflächlich dem vorgeblichen Generalbass einfügt.

Diejenige Ebene aber, die in den meisten voreiligen Rezensionen am deutlichsten herausgestellt wurde, ist das St. Petersburger Turnier von 1914. Es dient, wie oben bereits angedeutet, lediglich als Kulisse vor der die ansonsten gänzlich schachfremde Handlung abrollt. Dass eine der Nebenfiguren der Handlung einer der Teilnehmer am Turnier ist, bleibt ebenfalls rein dekorativ; die gleiche Funktion könnte etwa auch von einem Musiker erfüllt werden. Nun könnte man die Hoffnung haben, dass sich Bennett schachlich oder wenigstens atmosphärisch mit dem Turnier auseinandersetzt, aber auch dies ist nicht der Fall. Zwar lässt er seinen Protagonisten kurz vor der Flucht aus St. Petersburg wenigstens rasch bei der vierten Runde des Turniers hereinschauen, aber damit beginnt auch gleich das Elend: Als Spethmann die Turnierhalle betritt, sind nach seiner Aussage die lasker-rubinstein-01Partien schon deutlich fortgeschritten (»well under way«). Er entdeckt Rozental, der in der vierten Runde mit Schwarz gegen Lasker spielt, versteckt hinter einer Palme sitzend, während Lasker über seinen 60. Zug nachdenkt. Er zieht schließlich seinen Bauern nach b3, wodurch eine aus der Partie Rubinstein vs. Lasker bekannte Stellung entsteht, die auch im Buch abgebildet ist (Diagramm):

As I went back to Lychev, there was a stir at the table. Lasker had made his move, pushing his b-pawn one square forward to b3. One of the spectators gasped, ‘Zugzwang!’ Rozental trooped from his refuge and stared at the position. It was true. He would now be forced into the role of author of his own destruction.

(Als ich zu Lychev zurückging, entstand eine Bewegung am Tisch. Lasker hatte seinen Zug ausgeführt und seinen b-Bauern um ein Feld nach b3 vorgerückt. Einer der Zuschauer keuchte: »Zugzwang!« Rozental kam aus seinem Versteck hervor und starrte aufs Brett. Es stimmte. Er würde nun gezwungen sein, den Urheber seiner eigenen Vernichtung zu spielen. [Eigene Übersetzung.])

Bis dahin alles ganz schön und gut. Nur folgt leider unmittelbar darauf ein Absatz, der den ganzen Eindruck zunichte macht: Während Spethmann dies alles beobachtet, merkt er zugleich, dass er von der Bühne aus erkannt worden ist. Da er von der Polizei gesucht wird und im Fall einer Verhaftung um sein Leben fürchten muss, verlässt er zusammen mit Lychev fluchtartig den Spielsaal:

As we started away, the spectators sent up a sudden murmur of speculation. Looking back, I saw Lasker taking the knight on d2 with his queen. He pressed his clock to start Rozental’s ticking. As one body, the spectators turned their gaze to the potted palm, from which Rozental duly emerged, eyes cast down, arms rigidly at his side, hands clenched. He took his seat and, after the briefest glance at the new position, moved his f-pawn one square forward.

(Als wir uns aufmachten, ließen die Zuschauer plötzlich ein spekulierendes Gemurmel hören. Zurückblickend sah ich, wie Lasker den Springer auf d2 mit seiner Dame schlug. Er drückte die Uhr, um die Rozentals losticken zu lassen. Wie ein Mann wandten die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit der Topfpalme zu, hinter der Rozental erwartungsgemäß auftauchte, die Augen niedergeschlagen, die Arme eng angelegt, die Hände zu Fäusten geballt. Er setzte sich und zog, nach einem ganz kurzen Blick auf die neue Stellung, seinen f-Bauern ein Feld nach vorn. [Eigene Übersetzung.])

lasker-rubinstein-02 Selbst der nicht besonders im Schachspiel bewanderte Leser könnte sich hier wenigstens einen Augenblick lang darüber wundern, warum Lasker schon wieder am Zug und Rozental hinter der Palme ist und von welchem Springer oder welcher Dame hier wohl die Rede ist, da in der abgebildeten Position offensichtlich keine der beiden Figuren vorhanden ist. Und er wunderte sich zu Recht: Denn diese Beschreibung bezieht sich offensichtlich auf eine ganz andere Stellung derselben Partie: Mit seinem 11. Zug hatte Rubinstein Laskers Springer auf d2 geschlagen (Diagramm) und der zitierte Absatz beschreibt nun die nächsten beiden Züge: 12.Dxd2 f6. Es scheint so zu sein, dass Bennett in einer älteren Fassung des Buchs ein viel früheres Stadium der Partie Lasker vs. Rubinstein verarbeiten wollte, sich aber angesichts des Einfalles, das Buch »Zugzwang« zu nennen, dann für die Stellung nach 60.b3 entschieden hat. Nur hat er leider vergessen, den zitierten Absatz aus dem Manuskript zu löschen oder umzuschreiben.

Nun frage ich mich natürlich, wie viele Leute – vom Autor und dem Lektorat einmal abgesehen – das Buch vor und seit dem Erscheinen tatsächlich gelesen haben und ob kein einziger seither in der Lage war, diesen Fehler zu bemerken und Verlag oder Autor anzuzeigen. Und was hat der Verlag in der Zeit gemacht: Das Geld gezählt? Muss ein solcher schriftstellerischer Patzer tatsächlich bis in die Taschenbuch-Ausgabe durchgeschleift werden? Vielleicht kann uns einer der Besitzer der deutschen Ausgabe mitteilen, ob sie diesen Unfug ebenfalls reproduziert; die Stelle ist aufgrund des Diagramms ja rasch zu finden. Wundern würde es mich nicht. [Vgl. den Kommentar unten.]

Leider nur ein oberflächlicher Roman mehr, der wie viele seiner Vorläufer das Schach rein dekorativ verwendet. Als Thriller und Lesefutter wahrscheinlich ganz tauglich, aber eben auch nicht mehr als Standardware.

Ronan Bennett: Zugzwang. London: Bloomsbury Paperbacks, 2008. Broschur mit geprägtem Deckel, 280 Seiten. Ca. 9,– €.