Weiland zu Radebeul …

Wir Deutschen sind merkwürdige Leute. Nicht etwa, daß wir uns ruhig gestehen: auch wir wollen uns einmal ausruhen und leichte Bücher lesen, auch wohl ruhig einmal einen richtigen Quark – das ist kein Mann, der nicht aus vollen Kräften banal sein kann – nein, wenn wirs schon tun, dann lügen wir uns irgend ein Brimborium darum herummer. Es gibt Leute, denen dieser Karl May – mir ist der Bursche immer als Ausbund der Fadheit vorgekommen – lieb und teuer ist. Aber sie sagens nicht. Sie malen ihm eine Glorie an: ihr meint, das sei einfach ein Unterhaltungsschriftsteller für die reifere Jugend gewesen? Gott bewahre, ein Philosoph war das, ein Mann mit den allegorischsten Hintergedanken, ein schwerer, vollbärtiger, sächsischer Denker, weiland zu Radebeul, jetzt in der Unsterblichkeit.

Kurt Tucholsky
Nette Bücher

Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm

tucholsky_gripsholm Über die Jahre hinweg wahrscheinlich die fünfte oder sechste Lektüre; das Buch ist so zu einem der Lieblingsbücher geworden, die sich einem mit der Zeit aufdrängen. Dabei handelt es sich offensichtlich um einen verbreiteten Geschmack, denn seit Tucholsky Anfang 2006 gemeinfrei geworden ist, haben zahlreiche Verlage Ausgaben vorgelegt, was für die anhaltende Beliebtheit des Buches spricht.

Tucholsky hat Schloß Gripsholm im Winter 1930/31 in einer schwierigen Lage geschrieben: Er war seit einiger Zeit immer wieder krank, hatte sich seit Jahren konsequent verausgabt und sah sich als Journalist einem immer schlechteren Markt gegenüber. Schloß Gripsholm ist der bewusste Versuch an den frühen erzählerischen Erfolg von Rheinsberg (1912) anzuknüpfen, ohne sich allzu deutlich zu wiederholen, um sich auf dem Buchmarkt auch als Erzähler und nicht nur als Autor von Sammelbänden zu etablieren. Als Romanautor oder Erzähler wäre er dem Druck zur kontinuierlichen Produktion kürzerer Texte wenigstens zum Teil entkommen. In die gleiche Richtung zielt Tucholsky auch mit einem Filmmanuskript, das er 1931 schreibt, das aber nie produziert werden wird.

Erzählt wird die Ferienreise von Kurt (auch Peter oder Fritz genannt) und Lydia (meist als »Prinzessin« angesprochen) nach Schweden. Von Stockholm aus machen sich die beiden auf die Suche nach einem Ferienort und finden Schloss Gripsholm, in dem sie in einem Anbau zweieinhalb Räume als Ferienwohnung mieten können. Nachdem die beiden Hauptfiguren etabliert sind, setzt das Buch zu Anfang des zweiten Kapitels unvermittelt neu ein und erzählt von der neunjährigen Ada, die in einem Kinderheim in Läggesta, ganz in der Nähe des Schlosses lebt. Das Kinderheim wird geleitet von einer herrschsüchtigen Direktorin, der Frau Adriani. Ada leidet heftig unter Heimweh nach ihrer Mutter in Zürich und der herzlosen und von Angst regierten Atmosphäre des Heims. Die Rettung dieses Kindes aus der Gewalt der Frau Adriani durch Kurt und Lydia ist der ernste Strang dieser ansonsten in Urlaubsharmonie und Liebe schwelgenden Geschichte.

Als Nebenfiguren kommen noch Kurts Freund Karlchen und Lydias Freundin Billie hinzu, die zeitweilig aus dem Urlaubspaar ein -trio machen. Mit Billie zusammen kommt es sogar zu einer – dezent geschilderten – Nacht zu dritt, die sicherlich nicht nur Tucholskys erotische Fantasie widerspiegelt, sondern auch ein bewusstes Kalkül des Autors auf die Schaulust seiner Leser darstellt.

Bei aller Ernsthaftigkeit, mit der im Erzählstrang um Ada das Thema Herrschaft und Gewalt behandelt wird, ist das Buch doch insgesamt geprägt von einem heiteren und verspielten Ton, von einer Lust am Wortspiel und der Pointe. Selbst dort, wo es um existenzielle Themen geht, findet das Buch beinahe immer die Wendungen, die Gedanken und Gefühle kurz und gewitzt auf den Punkt bringen:

«Die Leute fressen einen auf», sagte ich. «Das Schlimmste ist: sie stellen die Fragen und sie ziehen die Kreise und sie spannen die Schnüre – und du hast zu antworten, du hast nachzuziehen, du hast zu springen … du kannst dir nichts aussuchen. Wir sind nicht hienieden, um auszusuchen, sondern um vorliebzunehmen – ich weiß schon. Aber daß man lauter Kreuzworträtsel aufbekommt: Rom gibt dir eins auf und Rußland eins und Amerika und die Mode und die Gesellschaft und die Literatur – es ist ein bißchen viel für einen einzelnen Herrn. Finde ich.»

«Wenn man sich das recht überlegt», sagte Karlchen, «sind wir eigentlich seit neunzehnhundertundvierzehn nicht mehr zur Ruhe gekommen. Spießerwunsch? Ich weiß nicht. Man gedeiht besser, wenn man seinen Frieden hat. Und es kommt alles nach – es wirkt so nach … Weißt du noch: der allgemeine Irrsinn in den Augen, als uns das Geld zerrann und man ganz Deutschland für tausend Dollar kaufen konnte? Damals wollten wir alle Cowboys werden. Eine schöne Zeit!»

«Lieber Mann, wir haben das Pech, nicht an das zu glauben, was die Kaffern Proppleme nennen – damit trösten sie sich. Es ist ein Gesellschaftsspiel.»

«Arbeiten. Arbeit hilft», sagte die Prinzessin.

Das ganze Buch ist eine milde Utopie, nicht nur die Geschichte eines Urlaubs, sondern auch selbst ein Urlaub von der Wirklichkeit – des Autors und der Leser.

Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte. Zürich: Manesse Verlag, 2006. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, Dünndruck, 256 Seiten. 17,90 €.

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

taylor_adressatDas schmale Bändchen enthält 19 fiktive Briefe eines Briefwechsels zwischen dem amerikanischen Kunsthändler Max Eisenstein und seinem nach Deutschland zurückgekehrten Freund und ehemaligen Geschäftspartner Martin Schulse. Der Briefwechsel beginnt mit einem Schreiben vom 12. November 1932 und endet mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934. Die Erzählung ist 1938 zum ersten Mal erschienen und war sofort ein Verkaufserfolg, der sich bei der Wiederveröffentlichung im Jahr 1995 wiederholt hat. Auch die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2000 wurde ein Bestseller.

Erzählt wird die Geschichte zweier Freunde, die in San Francisco gemeinsam eine Kunsthandlung betrieben haben. Martin Schulse entschließt sich 1932 nach Deutschland zurückzukehren, besonders um seine Kinder wieder auf eine deutsche Schule schicken zu können. Er wird innerhalb kurzer Zeit von einem Mitläufer der politisch erfolgreichen Nationalsozialisten zu einem bekennenden Anhänger der »Bewegung« und macht Karriere als Bankbeamter. Ganz konsequent bricht er den Kontakt zu seinem jüdischen Freund und Geschäftspartner in Amerika ab und kündigt ihm die Freundschaft auf.

Verwickelt wird die Geschichte dadurch, dass Max Eisensteins Schwester Giselle als Schauspielerin von Österreich nach Deutschland kommt und in Berlin rassistischen Repressionen ausgesetzt wird. Sie flieht aus Berlin nach München, wird offenbar auch dort erkannt und flüchtet sich vor einem Trupp SA-Männer zur Villa ihres ehemaligen Geliebten Martin Schulse. Der lässt sie aus Sorge um seine Reputation und Stellung nicht ins Haus, sondern rät ihr, durch den Garten zu fliehen, wo sie dann von der SA gestellt und ermordet wird. Der Brief, in dem er diese Tatsache seinem ehemaligen Freund mitteilt, beginnt mit den Worten:

Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot.

Nach diesem Brief beginnt Max Eisenstein mit einem Telegramm und Briefen, die er an Martin Schulses Privatadresse richtet und von denen er weiß, dass sie von der nationalsozialistischen Zensur gelesen werden, den deutschen Behörden eine Verwicklung Martin Schulses in eine illegale, gegen den Staat gerichtet Verschwörung zu suggerieren. Er erfindet eine »Gesellschaft Junger Deutscher Maler«, mit der Schulse vorgeblich in Zusammenhang steht und die offensichtlich Waffenlieferungen aus den USA erhält. Außerdem suggeriert er eine in Amerika lebende jüdische Verwandschaft Schulses. Schulse wird – wie wir aus einem letzten, verzweifelten Schreiben an Max Eisenstein erfahren – daraufhin von den Behörden vorgeladen und aufgefordert, den Code für die Briefe zu liefern, was er natürlich nicht kann, da er nie zuvor von einer »Gesellschaft Junger Deutscher Maler« gehört hat und auch sonst nichts zu den erfundenen Vorgängen sagen kann. Max Eisenstein Racheplan funktioniert: Seinen letzten Brief an Martin Schulse vom 3. März 1934 erhält er mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934 zurück. Wie bereits zuvor im Fall von Max’ Schwester Giselle soll dieser Stempel besagen, dass Martin Schulse von den Nationalsozialisten ermordet wurde oder zumindest in einem KZ gelandet ist.

Die Erzählung ist fraglos »gut gemacht«. Sie ist dicht gearbeitet und die dramatische Entwicklung konsequent und ökonomisch vorangetrieben. Große Schwierigkeiten habe ich allerdings mit ihrer Moral: Sicherlich ist es einerseits so, dass die Perversität und Menschenverachtung des nationalsozialistischen Machtstaates sich gerade darin zeigt, dass es einem Außenstehenden mit wenigen Briefen gelingt, einen treuen und begeisterten Nationalsozialisten zu verleumden und der Vernichtungsmachinerie des von ihm verherrlichten Systems auszuliefern. Andererseits handelt es sich bei den Briefen Max Eisensteins um eine Intrige zum Zweck einer privaten Rache, die ihn moralisch beinahe ununterscheidbar werden lässt von dem, den er dem Untergang ausliefert.

Immanuel Kant gibt uns in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« unter anderen folgende einprägsame Formulierung des kategorischen Imperativs:

Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. [BA 66 f.]

Gemessen an diesem Leitsatz handelt Max Eisenstein ebenso verwerflich wie zuvor sein Pendant Martin Schulse, und ich bin durchaus nicht sicher, ob dies von der Autorin auch so intendiert wurde. Auch spielt – soweit ich sehe – dieser Aspekt in den deutschen Besprechungen des Buches keine Rolle.

Immerhin lässt Kant der zitierten Passage den bedenkenswerten Satz folgen: »Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse.« Im vorliegenden Fall war dem wohl nicht so. – Ein Buch, dessen verstörende Ambivalenz wahrscheinlich nicht von allzu vielen Lesern wahrgenommen wird.

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2000. Pappband, 69 Seiten. 10,– €.

Ilija Trojanow: Der Weltensammler

weltensammlerSir Richard Francis Burton (1821–1890) war einer der bedeutenden Forschungsreisenden, Abenteurer und Orientalisten des 19. Jahrhunderts. Ilija Trojanow hat drei Episoden aus dem Leben Burtons herausgegriffen und einen Roman aus ihnen gemacht: Burtons ersten Aufenthalt in Indien ab 1842, seine damals zwar nicht einmalige, aber nichtsdestotrotz wagemutige und sensationelle Pilgerreise nach Mekka 1853 sowie die Expedition 1857/58 zum Tanganjika- und Victoriasee (den Burton allerdings nicht erreichte, sondern den sein Partner John Hanning Speke allein »entdeckte«). In zwei Rahmen-Kapiteln beschäftigt er sich mit dem Tod Burtons.

Trojanow geht es dabei nicht darum, eine Biographie Burtons zu verfassen, sondern er benutzt die äußeren Lebensdaten Burtons, um einen Roman über die Themen der kulturellen Differenz und der interkulturellen und -religiösen Toleranz zu verfassen. Alle drei Episoden werden aus doppelter Perspektive erzählt: Zum einen personal angebunden an das Erleben des Portagonisten Burton, zum anderen gespiegelt im Blick eines oder mehrere Einheimischer. Im Fall der Mekka-Reise ist dies eingekleidet in die Fiktion einer offiziellen Untersuchung der Frage, ob Burton diese Reise als englischer Spion unternommen habe, in den beiden anderen erzählen vertraute Untergebene Burtons ihre Sicht der Ereignisse.

Diese doppelte Perspektive ist die eigentliche Pointe des Buches: Burtons zwanghaften Versuchen, sich in andere Kulturen einzuleben, sie bis zum Identitätsverlust nachzuahmen, weil er sich in seiner eigenen Kultur nicht zurecht findet, wird der Blick jener entgegengestellt, die ihren Alltag in der »anderen Welt« leben.

Du kannst dich verkleiden, soviel du willst, du wirst nie erfahren, wie es ist, einer von uns zu sein. Du kannst jederzeit deine Verkleidung ablegen, dir steht immer dieser letzte Ausweg offen. Wir aber sind in unserer Haut gefangen. Fasten ist nicht dasselbe wie Hungern.

Im Endeffekt verstärkt Burton seine Isolation »von aller Welt«, je mehr Welten er sich zu eigen macht:

Wer in England wird ihm ins Dämmerreich folgen können, wer wird verstehen, daß die Antworten verschleierter sind als die Fragen?

Nachdem man das einmal verstanden hat, wird der Roman etwas zäh. Ich habe den dritten Teil eher unwillig gelesen, denn er bringt nichts mehr in einem wesentlichen Sinne Neues. Die Figur Spekes mag für den einen oder anderen Leser als Gegenfolie zu Burton und Lehrstück europäischer Arroganz interessant sein – ich allerdings kenne meinen Hemingway und brauche keine weiteren Romane mehr, um mir Europäer in Afrika vorstellen zu können.

Etwas schade ist es, dass Burton als Intellektueller und Schriftsteller nur am Rande zur Sprache kommt. Immerhin zeichnete er im 19. Jahrhundert durch seine Reisebücher und etwa auch mit seiner Übersetzung der »Märchen aus den 1001 Nächten« verantwortlich für einen wesentlichen Teil der Vermittlung der indischen und arabischen Kultur in die westliche Welt. Aber es mag sein, dass sich darüber nicht so gut in einem Roman schreiben lässt.

Der Roman hat 2006 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewonnen und war im selben Jahr in der Short-List für den Deutschen Buchpreis.

Ilija Trojanow: Der Weltensammler. Hanser, 2006. Pappband, 477 Seiten. 24,90 €.

Aus dem Leben eines Taugenichts

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Reclam bringt zum Eichendorff-Jahr (der 26.11.2007 ist der 150. Todestag Eichendorffs) eine wunderhübsche illustrierte Neu-Ausgabe dieses Textes, der wahrscheinlich mit zu den meistgedruckten und am häufigsten illustrierten der deutschsprachigen Literatur gehört. Hans Traxler hat neben dem bedruckten Leineneinband auch das Vorsatzpapier gestaltet und 19 großformatige Bilder zum »Taugenichts« geliefert. Die Zeichnungen entsprechen in ihrer vordergründigen Einfachheit und leichten Ironie ganz wundervoll der zwischen artistischer Raffinesse und volkstümlichem Ton gespannten Erzählung Eichendorffs.

Der »Taugenichts« erfreut sich seit seinem Erscheinen 1826 bei Lesern einer beinahe durchgängigen Beliebtheit. Auch zahlreiche nachgeborene Schriftsteller haben sich lobend über Eichendorffs erzählerisches Meisterstück geäußert. Diese breitgestreute positive Resonanz (aus der eigentlich nur die Germanistik des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausschert, die mit Eichendorffs Prosa kaum etwas anzufangen weiß) deutet daraufhin, dass hier nicht nur ein populärer Ton getroffen wurde, sondern auch artistisch etwas Besonderes gelungen ist.

Eichendorff hat in seinem »Taugenichts« zahlreiche literarische Tendenzen und Moden seiner Zeit sowohl inhaltlich als auch formal einfließen lassen: Passagenweise liest sich der Text wie ein »modernes« Märchen, andere Passagen haben deutlich den Charakter eines Traumtextes:

In diesem Schlosse ging es mir wunderlich. Zuerst, wie ich mich in der weiten kühlen Vorhalle umschaue, klopft mir jemand mit dem Stocke auf die Schulter. Ich kehre mich schnell um, da steht ein großer Herr in Staatskleidern, ein breites Bandelier von Gold und Seide bis an die Hüften übergehängt, mit einem oben versilberten Stabe in der Hand, und einer außerordentlich langen gebogenen kurfürstlichen Nase im Gesicht, breit und prächtig wie ein aufgeblasener Puter, der mich fragt, was ich hier will. Ich war ganz verblüfft und konnte vor Schreck und Erstaunen nichts hervorbringen. Darauf kamen mehrere Bedienten die Treppe herauf- und heruntergerannt, die sagten gar nichts, sondern sahen mich nur von oben bis unten an. Sodann kam eine Kammerjungfer (wie ich nachher hörte) gerade auf mich los und sagte: ich wäre ein scharmanter Junge, und die gnädige Herrschaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gärtnerbursche dienen wollte? – Ich griff nach der Weste; meine paar Groschen, weiß Gott, sie müssen beim Herumtanzen auf dem Wagen aus der Tasche gesprungen sein, waren weg, ich hatte nichts als mein Geigenspiel, für das mir überdies auch der Herr mit dem Stabe, wie er mir im Vorbeigehn sagte, nicht einen Heller geben wollte. Ich sagte daher in meiner Herzensangst zu der Kammerjungfer: »Ja«; noch immer die Augen von der Seite auf die unheimliche Gestalt gerichtet, die immerfort wie der Perpendikel einer Turmuhr in der Halle auf und ab wandelte, und eben wieder majestätisch und schauerlich aus dem Hintergrunde heraufgezogen kam.

Wieder andere – so etwa das Künstlerfest in Rom – tragen eindeutig den Charakter einer Gesellschaftssatire, während sich noch andere als Literaturparodien auf den Entwicklungsroman oder die Trivialromane des frühen 19. Jahrhunderts lesen lassen. Zugleich steckt der »Taugenichts« voller literarischer Anspielungen: Unfraglich ist der Held zugleich auch ein fahrender Minnesänger; er ist ein bürgerlich gewendeter Parsival, der reine Tor, der der Verführung durch Frau Venus widersteht. Er ist aber auch ein verkehrter Wilhelm Meister, dem der Gang durch die Welt gar nichts nützt und der am Ende unverwandelt von einer praktischen Frau ins bürgerliche Leben hinübergeführt wird.

Alle diese divergenten Elemente hat Eichendorff unter einer scheinbar harmlosen, wohlgefälligen und unanstößigen Geschichte vereint, ohne dass sie einander behindern oder stören. Alles scheint mit leichtester Hand gearbeitet, nichts wirkt gezwungen, nirgends merkt man dem Text die Mühe und Sorgfalt des Autors an. Sicherlich verführt diese glatt gearbeitete Oberfläche auch dazu, den Text zu unterschätzen; aber auch das mag der Absicht Eichendorffs durchaus entsprechen.

Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. Bilder von Hans Traxler. Hg. v. Hartwig Schultz. Stuttgart: Reclam, 2007. Bedrucktes Leinen, fadengeheftet, 149 Seiten. 16,90 €.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren

toibinNoch ein Henry-James-Roman, der ebenso wie David Lodges »Autor, Autor« aus dem Jahr 2004 stammt. Der Originaltitel lautet schlicht »The Master«, aber das Marketing beim Hanser Verlag fand offenbar die Joyce-Anspielung schick.

Das Buch setzt später ein als das von Lodge: Jedes der elf Kapitel ist mit einer Monatsangabe überschrieben und das erste Kapitel beginnt im Januar 1895 mit der desaströsen Premiere von James’ Theaterstück »Guy Domville«, und es folgen dann drei weitere Kapitel bevor das Buch das einigermaßen kontinuierliche Erzählen aufgibt und sich in Sprüngen bis zum Oktober 1899 bewegt; allerdings umfasst das letzte Kapitel auch noch den Übergang in das Jahr 1900.

Insgesamt ist Tóibíns Buch bei weitem nicht so konzentriert wie das von Lodge. Tóibín unternimmt lange Rückblenden, die zum Teil weitere Rück- oder Vorblenden enthalten, so dass man am Anfang manch eines Abschnitts nicht ganz sicher sein kann, wo in der Chronologie man sich gerade befindet. Man vermisst einen roten Faden, der das Buch strukturieren würde; im Grunde laufen alle Erzählstränge recht unverbindlich nebeneinander her und James muss für die Assoziationsbrücken des Autors Tóibín geradestehen.

Da geht denn dann auch einiges schief: So erfährt der Leser auf S. 235 zum ersten Mal etwas über Constance Fenimore Woolson, die Henry James bis zu ihrem Freitod in Venedig im Januar 1894 sehr nahe gestanden hatte. Dementsprechend heißt es dann zwei Seiten später:

Ihr Tod war für Henry, ebenso wie der seiner Schwester Alice, ein ständiger täglicher Begleiter.

Wenn das so war, dürfte die Frage berechtigt sein, warum der Leser davon erst nach über 230 Seiten Kenntnis erlangt, nachdem er bereits dreieinhalb Jahre im Leben des Henry James hinter sich gebracht hat. Solche Beliebigkeiten in der Darstellung finden sich recht häufig.

Im Gegensatz zu Lodge, der das Thema eher dezent anspricht, betont Tóibín die vermutliche Homosexualität Henry James’ stark und setzt sich deshalb auch intensiv mit den Prozessen um Oscar Wilde auseinander, denen James aufgrund der ihm zugeschriebenen habituellen Invertiertheit fasziniert folgen muss.

Recht gelungen ist die Darstellung des älteren Bruders William James und seiner Familie im letzten Kapitel des Buches, aber alles in allem wäre wahrscheinlich anzuraten, die Lektürezeit besser auf das Buch von Lodge oder die Biographie von Leon Edel zu verwenden.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, 2005. Pappband; 427 Seiten. 24,90 €.

Gary Taylor: Shakespeare – Wie er euch gefällt

154528500_e16ec1c2e4Gary Taylor war Mitarbeiter und einer der Herausgeber des neuen »Oxford Shakespeares«, und stellt seinen Rang als einer der führenden Experten für Shakespeare auch mit diesem Buch unter Beweis. Taylor schreibt eine Rezeptionsgeschichte, die das sich wandelnde Bild von der Person Shakespeares und seinem Werk von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt. Dabei liegt der Fokus auf der englischen und amerikanischen Rezeption und Forschung; die Entwicklungen in Deutschland und Frankreich werden nur am Rande gestreift, insbesondere dort, wo sie auf die englische zurückgewirkt haben. Das scheint für den deutschen Leser auf den ersten Blick ein Manko zu sein, allerdings zeigt es sich, dass sich die Rezeptionsgeschichte im deutschen Sprachraum zu großen Teilen mit der englischen parallelisieren lässt.

Das Buch zeugt von einer stupenden Kenntnis der Shakespeare-Literatur und -Inszenierungen aus über 300 Jahren. Taylor referiert alle wichtigen Stationen im historischen Gang der »Shakespearotik«, wie er die Darstellung, Deutung, Aneignung und Verehrung des englischen Dramatikers aus Stratford-upon-Avon nennt. Dabei bleiben weder die Machtstrukturen des englischen Buchhandels des 18., weder die moralisierenden Bearbeitungen und glättenden Entstellungen des 19. noch die akademischen Moden und Wirrungen des 20. Jahrhunderts unberücksichtigt, weder Positionen blinder Verehrung noch harscher Kritik am »größten Dramatiker aller Zeiten« werden unterschlagen. Alles wird nach bester englischer Manier in verständlicher und auch für den Laien interessanter Form präsentiert.

Dabei ist dem Autor jede Überheblichkeit, jeder Stolz auf das eigene Wissen, jede die sachliche Darstellung störende Eitelkeit fremd. Dies Buch macht durch seinen Stil deutlich, wie sehr dem Autor bewusst ist, dass sich sein Buch einreiht in die unüberschaubare Reihe von Shakespeare-Büchern, die die Zeiten nicht überdauert haben und heute zu Recht vergessen sind; Taylor weiß, dass wahrscheinlich in 50 oder 100 Jahren niemand mehr von Taylor sprechen oder über ihn schreiben wird; vielleicht noch ein zukünftiger »Taylor«, in dessen Buch der heutige Taylor auftauchen wird wie all die vergessenen Herausgeber, Schauspieler und Forscher in seinem. Das macht die Lektüre des Buches sehr angenehm, denn es versucht stets, mit dem Leser auf »gleicher Augenhöhe« zu kommunizieren.

Dargestellt wird die Genese des »Mythos Shakespeare«, wie er sich heute darstellt, sprich: wie es dazu gekommen ist, dass Shakespeare heute in der englischsprachigen und weitgehend auch in der europäischen Welt beinahe unwidersprochen als einzigartiges literarisches Genie gehandelt wird. Taylor macht die historische Stufenfolge sichtbar, die zu diesem Status geführt und die langsam aber sicher jeglichen Makel aus dem Werk Shakespeares hinausinterpretiert hat. Taylors Buch ist eines der klügsten und erhellendsten literarhistorischen Bücher, das ich gelesen habe. Auch für Nicht-Shakespeare-Kenner sehr zu empfehlen.

Das Buch ist leider nicht mehr im Druck (bibliographischer Nachweis). Sowohl die englische (»Reinventing Shakespeare: A Cultural History, from the Restoration to the Present«) als auch die deutsche Ausgabe sind aber noch leicht antiquarisch erhältlich.