Hier geht’s um die Wurst

Heidelbach_Wurst Wiglaf Droste und Vincent Klink geben seit einiger Zeit zusammen das Magazin »Häuptling Eigener Herd« heraus, das inzwischen bei Heft 28 angekommen ist. Darin geht es ums Essen, Kultur und Unkultur, und das Schönste daran ist, dass die Herausgeber und Autoren sich selbst nicht so besonders ernst nehmen. Nikolaus Heidelbach ist einer der bemerkenswertesten Illustratoren in der deutsche Buchlandschaft. Sein Stil ist unverkennbar, seine Illustrationen sind anspielungsreich und hintergründig, hier und da auch unvergleichlich böse. Heidelbach hat u. a. zahlreiche Kinderbücher illustriert und dabei sehr oft in einmaliger Weise die Abgründigkeit der kindlichen Welt getroffen. Und diese drei haben nun zusammen ein Buch gemacht: »Wurst«.

Eigentlich sollte »Wurst« ein Heft des Magazin »Häuptling Eigener Herd« werden, aber Heidelbachs farbige Illustrationen verlangten nach einem anderen Publikationsort. Und so hat Wiglaf Droste den Kölner Verlag DuMont dazu überredet, ein Buch daraus zu machen. Das Buch bringt genau das, was der Titel verspricht: Es dreht sich alles um die Wurst.

Die Beiträge – deren Autoren jeweils mit einer Heidelbachschen Vignette bezeichnet sind – reichen von der autobiographisch gefärbten Erzählung über eine kosmologische Theorie der Fenchelsalami, Listen mit Wursttiteln in Film und Literatur sowie klassischen Wurstzitaten (dass Heine mit seinen »Göttinger Wurstzitaten« hier fehlt, schmerzt gerade im Heine-Jahr ein wenig), einer kleinen Wurstkunde bis hin zu Rezepten, bei denen dem Fleischfresser bereits beim Lesen der Zutatenliste das Wasser im Munde zusammenrinnt.

Dabei beweist sich insbesondre Vincent Klink einmal mehr als begnadeter Erzähler: Seine Geschichte »Allah schaut weg« über vier Köche aus Afrika, die in München die lokale Küche kennenlernen wollen, um später in der Heimat Touristen bekochen zu können, ist ein kleines Meisterstück lakonischer Erzählkunst.

Und der Band ist reichhaltigst illustriert: Nikolaus Heidelbach setzt die Themen Wurst und Erotik, Wurst und Religion und insbesondere Wurst und Tod auf immer neue Weise ins Bild: Eine Saitenwurst, in der sich der Tod versteckt, eine modebewusste Dame auf hochhackigen Schuhen, die sich als Gipfel der Eleganz eine Scheibe Blutwurst umgeschlagen hat, eine verführerische »Kleine Wurstgöttin« mit Senftöpchen, ein goyascher schlafender Koch, dessen Schlaf Flederwürste gebiert. Mein Lieblingsstück ist vielleicht das ganz stille Doppelblatt »Die Hl. Martha führt den Tod mit Blutwurst in Versuchung«.

Ein Lesebuch, ein Bilderbuch, ein Rezeptbuch, ein Verschenk- und Sichselbstbeschenkbuch – und das alles zum Preis eines bescheidenen Abendessens beim Italiener um die Ecke.

Wiglaf Droste / Nikolaus Heidelbach / Vincent Klink: Wurst. DuMont, 2006. Leinen, fadengeheftet, 160 Seiten. 24,90 €.

Katharina Hacker: Die Habenichtse

habenichtseNun waren die Preisrichter mit ihrem Urteil doch rascher fertig als ich mit meiner Lektüre. Katharina Hackers Roman »Die Habenichtse« ist mit dem Deutschen Buchpreis 2006 ausgezeichnet worden. Die Auswahl der Shortlist im Jahr 2005 war von erstaunlicher Qualität gewesen und das Buch, das den Preis schließlich erhielt, Arno Geigers »Es geht uns gut«, war eine durchweg positive Überraschung. Das ließ für dieses Jahr viel hoffen.

»Die Habenichtse« beginnt mit drei Erzählsträngen, die sich nach etwas mehr als einem Drittel des Buches miteinander vereinen:

1. Die Geschichte von Jakob und Isabelle beginnt in Berlin, wo sich die beiden nach vielen Jahren wieder begegnen. Sie kennen einander aus ihrer Studienzeit in Freiburg, haben damals eine einzige Nacht miteinander verbracht, die Jakob offenbar so einprägsam war, dass er – inzwischen Jurist in Berlin – für viele Jahre darauf wartet, ob ihm das Schicksal Isabelle noch einmal über den Weg führt. Isabelle arbeitet als Graphikerin in Berlin für eine kleine Werbeagentur. (Wer erstellt einmal eine Bibliografie all jener Romanen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, in denen wenigstens eine der Hauptfiguren in der Werbung arbeitet?) Und sie begegnen einander auf einer Feier am Abend jenes unvergesslichen 11. September 2001. Jakob und Isabelle heiraten rasch, und Jakob geht im Auftrag seiner Berliner Firma nach London, in Vertretung eines Kollegen, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen ist – auch dies schicksalhaft, wie Jakob meint, denn eigentlich wäre er an jenem Tag im WTC gewesen, hätte er nicht, um Isabelle sehen zu können, seine Reise vorverlegt.

2. Jim ist ein Londoner Kleinkrimineller und Dealer, der mit Leidenschaft an Mae hängt, einer labilen und drogensüchtigen jungen Frau, die früh aus dem Roman verschwindet, nachdem Jim einmal mehr seine Gewalttätigkeit nicht unter Kontrolle hatte. Jim sucht nach Mae, versucht dem Einfluss seines Bosses zu entkommen und nistet sich in der Wohnung eines entfernten Bekannten ein, der sich für längere Zeit nicht in London aufhält. Jims Geschichte steckt voller Klischees, sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher, und sein Milieu wird ungefähr so geschildert, wie sich ein deutscher »Tatort«-Zuschauer die Verbrecherwelt vorstellen mag. Jim bleibt als Figur mager und ohne rechten Hintergrund; wir verstehen nur, dass er ein Umhergetriebener ist, aber wir verstehen nicht, warum. Eine schlimme Kindheit wird angedeutet, das frühe Ausreißen von Zuhause, das diesen Mann »hart« gemacht hat etc. Aber das alles bleibt vage und eher entworfen als erzählt.

3. Sara ist ein kleinwüchsiges und vielleicht auch geistig zurückgebliebenes kleines Mädchen, das mit ihrem älteren Bruder Dave und ihren Eltern in derselben Straße Londons wohnt, in die auch Jakob und Isabelle einziehen werden und in der Jim seine Fluchtwohnung hat. Sara lebt in einem zerrütteten Elterhaus: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter gänzlich willenlos, der Bruder die einzige Person, die sich um Sara kümmert. Die Eltern halten Sara im Haus, lassen sie nicht in die Schule gehen, ob aus Scham, aus Bequemlichkeit oder aus Gedankenlosigkeit wird letztendlich nicht klar, weil Saras Eltern recht schemenhaft bleiben. Sara wird von ihrem Vater geschlagen, eine Stelle des Romans deutet auch einen sexuellen Missbrauch an, sie muss oft mehrere Tage hungern, wenn beide Eltern aus dem Haus sind und auch ihr Bruder den häuslichen Missständen zu entfliehen versucht.

Alle diese Personen und einige Neben- und Randfiguren werden in den beiden hinteren Dritteln des Buches miteinander in Beziehung gesetzt. Genauso aseptisch, wie das klingt, ist es auch. Der größte Mangel des Buches scheint mir zu sein, dass es sich bei allen Figuren um Gedankenkonstrukte, um Platzhalter in einer Installation der Autorin handelt: Keine der Figuren hat Geist, keine der Figuren hat Leben, selbst ihre inneren Widersprüche sind konstruiert und erzeugen keine Spannung. Jim steht für die Gewalt, Isabelle für die Sexualität, Jakob für Weltflucht und Konfliktscheu, Sara für das geschundene, unschuldige Opfer usw. usf. Katahrina Hacker schiebt diese Figuren auf dem Schachbrett ihres Romans 300 Seiten lang herum, ohne dass dabei irgendetwas Relevantes oder auch nur Überraschendes herauskommen würde. Und tatsächlich spielt sie mit all dem bloß: Nichts hat tatsächlich ernsthafte Konsequenzen in diesem Roman – zwei Katzen sterben, das ist aber schon das Ärgste, obwohl die Allgegenwart von Gewalt immer wieder behauptet wird – und von der Gnadenlosigkeit der Zerstörung eines Shakespeares, dessen »King Lear« Katharina Hacker kokett zitiert, hat der Roman auch nicht einen Schimmer. Alles bleibt papieren und – und das ist das Schlimmste überhaupt – langweilig. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch über weite Strecken gänzlich humorfrei zu sein scheint.

Nur hier und da blitzt einmal auf, dass das auch ein spannendes Buch hätte werden können: Wenn Jakob sich etwa im Auftrag eines Klienten mit Wolf-Heinrich Graf von Helldorf beschäftigt, bekommt man plötzlich eine Seite lang einen Eindruck davon, was die Autorin alles hätte erzählen können. Hier und da sind Wirklichkeitsdetails genau recherchiert und punktgenau getroffen. Aber das geht rasch vorbei und wieder zieht Katharina Hacker seitenlang ihre Figuren übers Brett. Ich jedenfalls habe mich herzlich gelangweilt bei der Lektüre.

Katharina Hacker: Die Habenichtse. Frankfurt: Suhrkamp, 2006. Pappband, 309 Seiten. 17,80 €.

Die Meuterei auf der Bounty

34908Am 28. April 1789 kam es auf der HMAV Bounty unweit der Küste der Südseeinsel Tofua zu einer Meuterei, in deren Folge der Kapitän des Schiffes, Leutnant William Bligh, zusammen mit 18 weiteren Mitgliedern der Besatzung im Longboat der Bounty auf See ausgesetzt wurde. Das Schiff übernahm einer seiner Unteroffiziere, Fletcher Christian, der sich mit diesem Akt der Auflehnung einen ewigen Platz in der Geschichte der britischen Navy sicherte. Der Fall erregte in England viel Aufsehen, sowohl nach der Rückkehr Blighs und seiner Leute, die dieser beinahe vollzählig in einem seemännischen Bravourstück über eine Strecke von 5.800 Meilen in einen sicheren Hafen brachte, als auch bei dem Prozess gegen eine Gruppe von Meuterern, die 1791/92 ebenfalls auf abenteuerlichste Weise nach England zurückgebracht wurden.

Zahlreiche Beteiligte an den Vorgängen um die Meuterei auf der Bounty haben ihre Version der Ereignisse zu Papier gebracht und veröffentlicht, allen voran Kapitän William Bligh, der immer neue Varianten seines Berichtes drucken ließ, die alle reißenden Absatz fanden. Bereits 1791 übersetze Georg Forster, der ebenso wie Bligh, wenn auch nicht auf derselben Reise, mit Cook die Südsee bereist hatte, einen ersten Bericht Blighs ins Deutsche. Auch sonst sorgte die Meuterei in ganz Europa lange Zeit für Gesprächsstoff.

Im 20. Jahrhundert wurde der Stoff in der Hauptsache durch drei Verfilmungen prominent: 1935 unter der Regie von Frank Lloyd – bereits die dritte Verfilmung des Stoffs, aber die erste bleibende – mit Charles Laughton in der Rolle William Blighs und Clark Gable als Fletcher Christian, 1962 ein operettenhaftes Remake von Lewis Milestone mit Trevor Howard (hat sich stets bemüht) und einem dandyhaften Marlon Brando und schließlich 1984 von Roger Donaldson mit Anthony Hopkins und Mel Gibson in den Hauptrollen.

Den ersten beiden der angeführten Verfilmungen liegt ein Buch zugrunde, das 1932 zu ersten Mal erschien. Geschrieben hat es das amerikanische Autorenteam Charles B. Nordhoff (1887–1947) und James N. Hall (1887–1951), die Anfang der 20er Jahre zusammen nach Tahiti ausgewandert waren. Dem ersten Band »Meuterei auf der Bounty« folgten im Jahresabstand zwei weitere, die die Nachgeschichte der eigentlichen Meuterei noch einmal ausführlich erzählten: »Meer ohne Grenzen«, das die Fahrt des ausgesetzen Bligh nach Kupang thematisiert, und – in Deutschland selten gedruckt – »Die Insel Pitcairn«, das die weiteren Schicksale Fletcher Christians und seiner Meuterer in der Südsee beschreibt.

Der Insel Verlag hat nun den ersten Band dieser Trilogie wieder einmal im Taschenbuch nachgedruckt, und es ist sehr zu hoffen, dass auch die beiden anderen Bände dort in einer preiswerten und leicht erreichbaren Ausgabe aufgelegt werden. »Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen« wird von einem von den Autoren zur Besatzung der Bounty hinzuerfundenen sechsten Midshipman (Seekadetten) erzählt und umfasst die gesamte Geschichte der Meuterei von der Ausfahrt der Bounty über die Erlebnisse auf Tahiti, die eigentliche Meuterei, das Schicksal Blighs und den späteren Prozess gegen die Meuterer, ja es holt in einem Epilog sogar die Nachgeschichte Fletcher Christians noch ein. Es ist offensichtlich, dass Nordhoff und Hall sich nicht sicher waren, ob das Buch überhaupt ein Erfolg werden würde und sie dazu in der Lage wären, für die beiden Nachfolgebände einen Verleger zu interessieren.

Sie konnten nicht ahnen, wie sehr dieser erste Band und die auf ihm basierenden Verfilmung von 1935 den Stoff für das 20. Jahrhundert ausprägen sollten. Dabei versuchten Nordhoff und Hall durchaus keinen reißerischen Abenteuerroman zu schreiben, sondern sie näherten sich im Ton und der Art der Darstellung ganz bewusst den Reiseberichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an. Sicherlich waren sie hier und da etwas deutlicher und direkter als Bligh und seine Zeitgenossen, doch insgesamt ist der Roman von einer seltenen Dezenz. Aber die beiden Autoren prägen in diesem Buch das Bild von der Meuterei als Akt des Widerstands gegen einen ungerechten und tyrannischen Kapitän, für den der Stoff bis heute einen Archetypus bildet, obwohl inzwischen ein weit differenzierteres Bild von den tatsächlichen Vorgänge vorliegt.

Wer also einmal zur Quelle des Mythos von der Bounty zurückgehen will, der greife zu diesem Buch.

Charles B. Nordhoff und James N. Hall: Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen. Aus dem Amerikanischen von Ernst Simon. Insel Taschenbuch 3208 (2006). 370 Seiten. 11,00 €.

Die Rückseite des Hakenkreuzes

rueckseiteIch war schon seit längerer Zeit immer wieder an dem Buch vorüber gekommen, hatte mich aber leider bislang nie entschließen können, es zu lesen. Die Sammlung ist zum ersten Mal 1993 bei dtv erschienen und hat dort bis 2001 vier Auflagen erlebt. Zurzeit ist es in einer Sonderausgabe beim Matrix Verlag greifbar. Das Buch enthält – spärlich kommentiert – Originaltexte aus den Akten des Dritten Reiches. Dabei kreisen die allermeisten Fundstücke um Hitler und seine Führungsriege und präsentieren auf absonderliche, beinahe absurde Weise die bürgerliche Normalität, die das Grauenhafte dieses Regimes begleitet hat.

Wichtig für die Wirkung des Buches ist es, es nicht als Nachschlagewerk zu benutzen, sondern es von der ersten bis zur letzten Seite durchzulesen. Nur durch die Ballung der Doppelmoral, Eitelkeiten, Intrigen, Verleumdungen, Vertuschungsversuche, Diebstähle, des hohlen Pathos, der Phrasen und offensichtlichen Lügen entsteht der Eindruck davon, welch einer durch und durch schuftigen Verbrecherbande die Deutschen 1933 ihr Land zur Regierung überantwortet hatten und mit welcher Lammfrommheit bis weit in die Katastrophe hinein immer noch Deutsche sich bereit fanden, dieser Clique die Stange zu halten.

Natürlich reizt es, Beispiele zu zitieren. Aber zum einen wird jeder Leser seine eigenen Favoriten finden und zum anderen hieße das genau jene Wirkung aufheben, die das Buch im Ganzen erreichen kann: Die grauenvolle Normalität und Banalität, mit denen diese Menschen agiert haben, nicht zur Anekdote zu reduzieren, sondern in ihrer Alltäglichkeit begreiflich zu machen. – »Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?«

Die Rückseite des Hakenkreuzes. Absonderlichkeiten aus den Akten des »Dritten Reiches«. Hg. v. Beatrice u. Helmut Heiber. Lizenzausgabe Wiesbaden: Matrix Verlag, 2005. Pappband; 413 Seiten. 9,95 €.

Bertina Henrichs: Die Schachspielerin

Henrichs_SchachspielerinManchmal wundere ich mich doch, was es so alles auf die Bestsellerlisten schafft. Normalerweise bleibt mir das erspart, weil ich nur ganz selten Bücher von den Bestsellerlisten lese und das auch nur, wenn sich starke Gründe einfinden, die sich gegen die aus dem Bestseller-Status resultierenden Vorurteile durchsetzen. Aber diesmal hat mich der Titel verführt; ich hätte widerstehen sollen.

Der deutsche Text entspringt aus einer merkwürdigen Konstellation: Die Autorin ist Deutsche, lebt aber seit 18 Jahren in Frankreich und hat »ihren ersten Roman« – wie der Waschzettel das Büchlein ironisch nennt – auf Französisch geschrieben, »damit ihre Familie in Paris ihn ohne Übersetzung lesen kann.« Soweit, so gehöft. Nun würde ich erwarten, dass einer Autorin ihr Text so wichtig ist, dass sie ihn selbst in ihre Muttersprache übersetzt, um ihn so original zu erhalten, wie es nur möglich ist. Der Text ist aber von Claudia Steinitz in ein hölzernes Etwas übertragen worden, das sie wahrscheinlich für Deutsch hält. Gleich auf der ersten Seite steht die preiswürdige Stilblüte: »Eleni hatte keinen Blick für das Schauspiel hinter ihrem Rücken.« Es ist weder die einzige noch die schlimmste.

Die Fabel des Buches fällt unter das Bennsche Diktum, das Gegenteil von Kunst sei nicht Natur, sondern gut gemeint. Erzählt wird über ein griechisches Zimmermädchen auf Naxos in den besten Jahren, das seinem Ehemann zum Geburtstag in einer romantischen Anwandlung einen Schachcomputer schenkt. Da der sich nicht für das Ding interessiert, beginnt sie in einer schlaflosen Nacht, sich selbst mittels der Gebrauchsanweisung das Spiel beizubringen. Da sie bald merkt, dass sie allein nicht recht vorwärts kommt, wendet sie sich um Hilfe an ihren alten Lehrer, der – wie der Zufall so spielt – in seinen jungen Jahren ein passabler Spieler gewesen sein muss.

Bertina Henrichs füllt nun einige Seiten mit angelesenen Schachtermini – dass sie nichts von der Sache selbst versteht, zeigt sich spätestens dann, als sie ihre Heldin an einer Stelle mit Weiß einen beschleunigten Drachen spielen lässt – und kommt dann zur Krise des Buches: Eleni verrät ihrer besten Freundin, dass sie nun Schach spielt und wird – verständlicher Weise – zum Gespött der Menschen auf Naxos. Warum es alle diese Menschen so fürchterlich finden, dass Eleni Schach spielt, weiß die Autorin auch nicht so genau. Sie vermutet wahrscheinlich, andere Menschen müssten ähnliche Vorurteile dem Spiel gegenüber hegen wie sie selbst: Wer »stundenlang über den nächsten Zug nachdenkt«, muss einer Art asozialen Wahns verfallen sein.

Aus der Krise gibt es nur einen Ausweg: Eleni muss an einem Turnier in Athen teilnehmen. Warum das ein Ausweg aus der Krise ist, anstatt sie zu verschärfen, weiß die Autorin genausowenig, aber wir haben inzwischen auch nichts mehr erwartet. Während Eleni in Athen Schach spielt, stirbt ihr alter Lehrer an einer verschleppten Lungenerkrankung. Eleni verliert in der dritten Runde des Turniers (offenbar also ein K.O.-Turnier, das, um den Witz abzurunden, an nur vier Brettern gespielt wird), gerade rechtzeitig, um von der Nachricht vom Tod ihres Lehrers nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Sorgenvoll, aber innerlich gestärkt und seltsam verwandelt kehrt sie auf ihre Insel zurück, nicht erwartend, dass ihr Ehemann voller Stolz ihrer Rückkehr entgegenschläft.

Eine Empfehlung an alle Schachspieler: Lassen Sie die Finger davon! Ich sage nur noch eines: Im ganzen Buch kommt nicht eine einzige Schachuhr vor! Weder bei der Vorbereitung auf das Turnier noch bei dem großen Turnier selbst scheint Eleni Bekanntschaft mit den Nöten der Zeitkontrolle gemacht zu haben.

Wer allerdings eine schmalzige, in weiten Teilen einfallslos und klischeehaft erzählte Geschichte in schlechtem Deutsch lesen will, sollte dieses herzerwärmende Buch nicht an sich vorübergehen lassen!

Bertina Henrichs: Die Schachspielerin. Hoffmann und Campe, 2006. Pappband; 143 Seiten. 15,95 €.

Mark Haddon: The Curious Incident of the Dog in the Night-Time

136098253_a6be5e40b6Ein durch und durch freundliches und liebenswertes Buch, dem allerdings passagenweise seine Konzeption als Jugendbuch deutlich anzumerken ist. Erzählt wird das Buch von Christopher Boone, einem leicht autistischen 15-Jährigen, dessen Leben zunehmend aus den Fugen gerät, nachdem er den mit einer Gartenforke getöteten Hund einer Nachbarin entdeckt und sich entschließt, seinem Vorbild Sherlock Holmes folgend aufzuklären, wer für den Tod des Hundes verantwortlich ist. Christopher lebt mit seinem Vater zusammen in dem kleinen englischen Ort Swindon, besucht eine Sonderschule und ist offensichtlich mathematisch und naturwissenschaftlich hochbegabt. Er weiß auch um diese Begabung, und sein Ziel ist es, eine staatliche Mathematik-Prüfung zu bestehen, die ihm später den Zugang zur Universität ermöglichen wird.

Das Besondere am Buch ist, dass die weitgehend entlang von bekannten Klischees erzählte Fabel durch die Sicht Christophers auf die Welt gebrochen wird. Sowohl seine durchgängige Furcht vor Fremden und Fremdem als auch seine Methode, die Welt durch Pläne, Zahlen und Listen »in Ordnung« zu bringen und zu halten, machen den Witz des Buches aus. Das beginnt schon damit, dass die Kapitel nicht wie gewöhnlich mit natürlichen Zahlen, sondern mit Primzahlen durchgezählt werden. Zwischendurch erzählt Christopher auch immer mal wieder eines seiner liebsten mathematische Rätsel oder eine bemerkenswerte naturwissenschaftliche Tatsache. So wird beispielsweise en passant das »Ziegen-Problem« gelöst oder dem Leser das Problem des »Zukunftslichtkegels« veranschaulicht. Cristopher erklärt außerdem sehr genau, wie sich seine Wahrnehmung der Welt von der eines »normalen« Menschen unterscheidet, und warum dieser Unterschied dazu führt, dass er sich in neuen Umgebungen und mit unbekannten Menschen so unsicher fühlt.

Angesichts seiner großen erzählerischen Vorzüge sollte man dem Buch seine etwas triviale Fabel schlicht verzeihen. Ein Buch zum Selbstlesen und Weiterverschenken!

Haddon, Mark: The Curious Incident of the Dog in the Night-Time.
Vintage, 2004. ISBN 1-4000-7783-4
Broschiert – 226 Seiten – ab ca. 5,00 EUR

Deutschsprachige Ausgabe:
Haddon, Mark: Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone
Goldmann. ISBN 3-442-46093-X
Kartoniert – 288 Seiten – 8,95 Eur[D]

Jan-Christoph Hauschild / Michael Werner: Heinrich Heine

133064406_91ca674923Eine kurze und zugleich dichte Kurz-Biographie, die nicht nur Heines Leben in seinen wesentlichen Zügen beschreibt, sondern auch die Zeitumstände darstellt, die zum Verständnis Heines oft unerläßlich sind. Einzig Heines ambivalentes Verhältnis zu Juden- und Christentum kommt mir etwas zu kurz, aber die begrenzte Seitenzahl erzwingt immer Kürzungen irgendwelcher Art.

Man merkt dem Buch an, dass die Autoren über einen breiten biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund zu Heine verfügen, der in der großen Heine-Biographie bei 2001 dann vollständiger zum Tragen kommt. Das dtv-Potrait kann zur kurzen Information uneingeschränkt empfohlen werden. Das Buch teilt zudem mit den anderen Bänden der Reihe den Vorzug, auf gutem Papier gedruckt und mit einer Fadenheftung ausgestattet zu sein.

Hauschild, Jan-Christoph / Werner, Michael: Heinrich Heine
dtv, 2. Aufl. 2006. ISBN 3-423-31058-8
Kartoniert – 160 Seiten – 9,50 Eur[D]

Axel Hacke & Michael Sowa: Der weiße Neger Wumbaba

53340904_1713fca841Ein wunderbares kleines Büchlein, das dem Phänomen des Verhörens von Lied- und Gedichttexten gewidmet ist. Es wird kaum einen Menschen geben, dem es nicht auch schon so oder ähnlich gegangen ist wie jenen, die Axel Hacke ihre Erlebnisse in Leserbriefen zu mehreren Kolumnen geschildert haben. Hacke hat die poetischsten, witzigsten und überraschendsten Verhörer hier zu einem kleinen Handbuch vereint. Lektüre nur für eine oder zwei Stunden, aber originell und voller Poesie. Geschmückt mit wundervollen Illustrationen von Michael Sowa. Als Verschenkbuch bestens geeignet!

Hacke, Axel & Michael Sowa: Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Handbuch des Verhörens
Antje Kunstmann, 2004; ISBN 3-88897-367-8
Gebunden – 64 Seiten, vierfarb. – 8,90 Eur[D]