Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten

978-3-10-089434-2Sönke Neitzel hat im Jahr 2005 unter dem Titel »Abgehört« einen ersten Band mit Abhörprotokollen des britischen Militärgeheimdienstes veröffentlicht, die während des 2. Weltkrieges in der Hauptsache im Gefangenenlager Trent Park in der Nähe Londons erstellt worden waren. In Trent Park war eine handverlesene Gruppe höherer Offiziere interniert, von denen sich der Geheimdienst besonders ergiebige Erkenntnisse erwartete. Bei »Soldaten« handelt es sich um eine Erweiterung dieses ersten Bandes. Diesmal werden auch Abhörprotokolle von Mannschaftsdienstgraden ausgewertet. Im Vergleich zu »Abgehört« wurde die Gewichtung zwischen Dokumentation und Interpretation bei diesem neuen Band deutlich zu Ungunsten der Dokumentation verschoben. Die Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer führt dazu, dass der Textanteil des deutenden Zugriffs in diesem Buch den der eigentlichen Protokolle deutlich überwiegt. Das Buch ist daher offensichtlich eher für den historischen Laien gedacht.

Das leitende Interesse der Autoren ist das Phänomen der Gewalt, wobei sie von der oft diskutierten Frage ausgehen, wieso Wehrmachtsangehörige während des Krieges Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt haben und darüber hinaus aus auch an offenbar verbrecherischen Aktionen, selbst wenn sie diese Aktionen aus moralischen oder anderen Gründen innerlich abgelehnt haben. Dabei wird die Erklärung zurückgewiesen, dass durch das Kriegsgeschehen eine Verrohung der Soldaten eintritt, sondern Welzer vertritt die Auffassung, dass der militärische Bezugsrahmen bereits genügt, um ausreichende Bedingungen für Gewaltexzesse zu schaffen. Ausführlich wird dabei untersucht, wie und in welchem Umfang die Ideologie und der Rassebegriff des Nationalsozialismus Einfluss auf Selbstverständnis und Handeln der Soldaten hatten.

Die grundsätzlich vertretene These ist, dass Gewalt nicht als eine Ausnahmeerscheinung der menschlichen Existenz angesehen werden sollte:

Der Krieg und das Handeln der Arbeiter und Handwerker des Krieges sind banal, so banal, wie es das Verhalten von Menschen unter heteronomen Bedingen – also im Beteib, in einer Behörde, in der Schule oder in der Universität – immer ist. Gleichwohl entbindet diese Banalität die extremste Gewalt der Menschheitsgeschichte und hinterlässt mehr als 50 Millionen Tote und einen in vielerlei Hinsicht auf Jahrzehnte verwüsteten Kontinent. (S. 409)

Soldaten lösen ihre Aufgaben im Krieg mit Gewalt; das ist auch schon das Einzige, was ihr Tun systematisch von dem anderer Arbeiter, Angestellten und Beamten unterscheidet. Und sie Produzieren andere Ergebnisse als zivile Arbeitende: Tote und Zerstörung. (S. 439)

Wenn man aufhört, Gewalt als Abweichung zu definieren, lernt man mehr über unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert, als wenn man ihre Illusionen über sich selbst weiter teilt. Wenn man also Gewalt in ihren unterschiedlichen Gestalten in das Inventar sozialer Handlungsmöglichkeiten menschlicher Überlebensgemeinschaften zurückordnet, sieht man, dass diese immer auch Vernichtungsgemeinschaften sind. Das Vertrauen der Moderne in ihre Gewaltferne ist illusionär. Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil das ihre Aufgabe ist. (S. 445)

Ich kann mich dieser Sicht nur schwer entziehen, muss aber kritisch feststellen, dass das im Buch vorgeführte Material diese Grundauffassung zwar überzeugend illustriert, aber letztlich nicht beweist. Was das Autorenteam zwar immer mit reflektiert, letztlich aber nicht ernsthaft bei der Bewertung der Protokolle berücksichtigen kann, ist, dass diese Gespräche zwischen Soldaten in Gefangenschaft auch immer gruppendynamischen Zwängen unterliegen:

… gewiss ist er der Kommunikationssituation geschuldet, die eine Infragestellung des militärischen Wertekanons auch und vielleicht gerade in der Gefangenschaft nicht zuließ. (S. 357)

Oder:

… möglicherweise hat er aber auch schlicht gelogen, um seinen Gesprächspartner zu beeindrucken. (S. 362)

Dieser prinzipielle Zweifel ist natürlich nicht auszuräumen, doch wie schon Aristoteles betonte, darf man von jedem Urteil nur den Grad an Genauigkeit erwarten, den der vorliegende Gegenstand erlaubt.

Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt: S. Fischer, 2011. Pappband, 520 Seiten. 22,95 €.

Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod

978-3-492-25723-7 Als das Buch 1984 erschien, habe ich es nicht wahrgenommen. Erst durch die Lektüre des Dritten Tagebuchs von Max Frisch, in dem Peter Nolls Sterben eine bedeutende Rolle spielt,  bin ich darauf aufmerksam geworden. Ich habe es nun als ein Seitenstück zu Max Frischs Werken zur Kenntnis genommen und auch nur deshalb wenigstens einigermaßen zu Ende gelesen; will sagen, das angehängte Theaterstück »Jericho« von Noll habe ich nicht mehr zur Kenntnis genommen.

Peter Noll war ein bekannter Schweizer Jurist, der im Dezember 1981 mit Blasenkrebs diagnostiziert wurde, es aber abgelehnt hat, sich operativ oder anderweitig behandeln zu lassen. Er wollte einen »natürlichen Tod«, wie es an einer Stelle heißt, ohne dass uns das Buch weiter darüber Auskunft gibt, was denn das für ein Phänomen sein soll. Noll nimmt, wohl angeregt durch Max Frisch, das Tagebuchschreiben auf, wobei er sympathischer Weise immer wieder große Zweifel an dem Sinn eines solchen Unternehmens hegt. Er verbreitet sich auf knapp 260 Seiten nicht nur über die Entwicklung seiner Krankheit, sondern auch über Recht und Unrecht, Recht und Macht, Evolution und Intelligenz und viele, all zu viele Male über Gott und Jesus Christus. Das ist verständlich, da er aus einem protestantischen Pfarrhaushalt stammt, macht das Buch aber leider nicht besser.

Das Buch ist weitgehend ungeordnet und bleibt, was die behandelten Themen angeht, oberflächlich. Hier und da findet sich ein netter kleiner Aphorismus, aber wie schon Karl Kraus so richtig bemerkte, fällt das Aphorismenschreiben denjenigen leicht, die es nicht können. Für einige Leser mag das Buch sentimentalen Wert haben, aber mir ist letztendlich unverständlich geblieben, warum das Buch bis heute im Druck ist. Immerhin handelt es sich mindestens um die siebte Auflage des Taschenbuches bei Piper, und auch von der gebundenen Ausgabe sind mehr als 90.000 Exemplare gedruckt worden. Nun denn.

Wie oben schon angedeutet, enthält das Buch einige Beigaben: So schließen sich an den eigentlichen Text eine kurze Beschreibung von Nolls letzten Tagen, die Totenrede Max Frischs, Nolls Drama »Jericho« von 1968 und ein Schriftenverzeichnis Nolls an.

Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod. Mit der Totenrede von Max Frisch. Piper Taschenbuch 5723. München, Zürich: Piper, 2009. 374 Seiten. 9,95 €.

Horst Tappe: Nabokov

3-85616-152-XNetter, kleiner Bildband mit 24 Schwarz-Weiß-Fotos Vladimir Nabokovs aus den Jahren 1962 bis 1973, jeweils garniert mit einem Nabokov-Zitat in Englisch, Deutsch und Französisch. Sowohl der Schriftsteller als auch der Lepidopterologe werden ins Bild gesetzt; auch zwei Bilder mit Ehefrau Vera finden sich. Unter den Fotos sind einige klassische Nabokov-Ikonen, so etwa die Silhouette des Schreibenden vor dem Fester im Montreux Palace.

Horst Tappe: Nabokov. Hg. v. Tilo Richter. Basel: Christoph Merian Verlag, 2001. 64 Seiten. Derzeit nicht im Druck.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Nur auf den allerersten Blick handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminalroman. Meyer Landsman, ein heruntergekommener Inspektor der Mordkommission, wird in dem nicht weniger heruntergekommenen Hotel Zamenhof, in dem er seit seiner Scheidung wohnt, vom Portier gebeten, sich einen Toten anzuschauen: Der Gast, der anscheinend von einem professionellen Killer erschossen wurde, nannte sich Emanuel Lasker. Er war drogenabhängig und offenbar tatsächlich, wie schon sein Deckname vermuten lässt, Schachspieler, denn unter seinen wenigen Habseligkeiten findet sich auch ein Schachbrett, auf dem Meyer Landsman eine komplizierte Stellung aufgebaut findet, die später noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Während Landsman mit seiner Untersuchung beginnt, entfaltet sich zugleich vor dem Leser eine eigentümliche Alternativwelt, die die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg neu erfindet. Noch im Zweiten Weltkrieg beginnen die USA europäischen Juden Asyl zu gewähren. Sie werden in einem eigenen District an der Südküste Alaskas, in Sitka, untergebracht. Umschlossen von den indianischen Tlingit bildet die Enklave Sitka das einzige zusammenhängende jüdische Siedlungsgebiet der Welt. Der Staat Israel ist in Michael Chabons Fassung der Weltgeschichte nur wenige Monate nach seiner Gründung im Krieg gegen die Araber wieder untergegangen. Aber auch der jüdische District Sitka steht unmittelbar vor seiner Auflösung: Seine Existenz wurde nur für 60 Jahre garantiert, und die US-Behörden bereiten die Rückgabe des Gebietes an die einheimischen Tlingit vor.

Auch die Mordkommission wird – unter Leitung von Meyer Landmans Ex-Frau Bina Gelbfish – abgewickelt. Noch gibt es einige ungelöste Fälle, und Bina möchte so viele wie möglich abschließen, bevor die Amerikaner übernehmen. Und obwohl Bina den neuen Fall des Toten im Zamenhof umgehend als abgeschlossen kennzeichnet, ermittelt Landsman mit seinem Partner Berko Shemets in der Sache weiter. Die Spur führt ihn  über den lokalen Schachtreff Sitkas zu den Verbover Juden. Emanuel Lasker erweist sich als Sohn des mächtigsten Verbover Rabbis Shpilman. Aufgewachsen als ein echtes Wunderkind, besonders auch fürs Schachspiel begabt, wurde Mendel Shpilman von vielen für den Messias seiner Generation gehalten. Und während Landsman zu verstehen versucht, wie es dazu gekommen ist, dass Mendel Shpilman tot in einer Absteige geendet ist, kommt er zugleich Schritt für Schritt einer weitreichenden politischen Verschwörung auf die Spur …

Chabons Kriminalroman ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite handelt es sich um ein offensichtliches und souverän geführtes Spiel mit den überlieferten Formen und Klischees des klassischen Detektivromans. Auf der anderen Seite erschafft Chabon überzeugend eine alternative Weltgeschichte, um seine jüdische Enklave mit ihrer eigenen Kultur und Sprache real erscheinen zu lassen. Dieser Reichtum an erfundener Welt hat zu einem ungewöhnlichen Umfang für einen Detektivroman geführt. Der Leser muss aber nicht befürchten, von Chabon eine Geschichtslektion übergestülpt zu bekommen, sondern die Details dieser Welt fließen peu à peu in den Erzähltext ein. Nur einem sorgfältigen Leser wird sich der ganze Reichtum dieses Buchs erschließen.

Die Schachspieler schließlich wird freuen, hier einmal einen Roman zu finden, in dem das Schachspiel nicht von einem weitgehend ahnungslosen Autor als dekorativer Zierrat missbraucht wird, sondern seine Darstellung aus genauen Kenntnissen des Autors entspringt. Die Darstellung sowohl der Patzer im Hotel Einstein als auch des Wunderkinds Mendel Shpilman, ja des Schachspiels insgesamt als integralem Bestandteil jüdischer Kultur überzeugt aufgrund der offensichtlich engen Vertrautheit Chabons mit dem Spiel und seiner Geschichte. Und nicht zuletzt steht ein Schachproblem im Zentrum des Buches, das von einem der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts stammt:

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Matt in 2

Dieses Problem wurde von Vladimir Nabokov im Jahr 1940 in Paris komponiert, kurz bevor er Frankreich in Richtung USA verließ (vgl. Nabokovs Memoiren »Speak, Memory«, Ende des 14. Kapitels). Die Lösung wird hier natürlich nicht verraten.

Wer im Übrigen zu faul ist, den fast 500-seitigen Roman zu lesen, darf sich auf seine Verfilmung durch die Coen-Brothers freuen. Man kann sich für dieses Buch wohl keine besseren Drehbuch-Autoren und Regisseure wünschen.

Und da wir gerade beim Kino sind: Ab dem 7. Januar 2010 soll die Verfilmung der Schachschmonzette »Die Schachspielerin« (Joueuse) in die deutschen Kinos kommen. Das Buch von Bertina Henrichs hatte es 2006 auf die Bestsellerlisten geschafft und erzählt von der wundersamen Selbstfindung eines in die Jahre gekommenen griechischen Zimmermädchens, das durch das Erlernen des Schachspiels zu einer gänzlich neuen Weltsicht findet. Wollen wir hoffen, dass sich Regisseurin Caroline Bottaro einen ordentlichen Berater in Sachen Schach besorgt hat, denn die Buchvorlage zeugte ausschließlich von der schachlichen Ahnungslosigkeit ihrer Autorin.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. dtv 13793. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. 496 Seiten. 9,90 €.

(geschrieben für den Schachkalender 2010)

Vladimir Nabokov: Das Modell für Laura

978-3-498-04691-0 Entgegen dem Anschein, den der Verlag offensichtlich erwecken möchte, dass es sich bei diesem Buch um einen Roman handelt, ist festzustellen, dass es sich nicht einmal um einen Romanentwurf handelt, sondern nur um Fragmente eines solchen Entwurfs. Es ist die Wiedergabe von 138 Karteikarten, die Nabokov für sein letztes Romanprojekt benutzt hat. Auf diesen Karten finden sich der Entwurf zu einigen Kapiteln, unverbundene Fragmente und Notizen sowie einzelne Wörter. Nabokov hatte verfügt, dass die Karteikarten nach seinem Tode vernichtet werden sollten, und seit dem 2. Juli 1977 gab es einen teils öffentlich teils im Verborgenen geführten Streit darum, ob dieser Verfügung nachzukommen sei oder nicht. Nabokovs Frau jedenfalls ist dem Wunsch nicht nachgekommen, so dass die Karten nach deren Tod in den Besitz des Sohns Dmitri gelangten, der sich nun also endlich entschlossen hat, das Material auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Distanz zwischen dem Vorgelegten und dem daraus zu extrapolierenden Werk ist für den Nicht-Fachmann, geschweige denn für einen normalen Leser in keiner Weise abzuschätzen. Da wir auch bei anderen Werke Nabokovs keine Anhaltspunkte dafür haben, wie weit ein erster Entwurf und das spätere Werk auseinanderlagen, ist eine Beurteilung des Materials, die über die Dokumentation der reinen Kenntnisnahme hinausgeht, kaum möglich. Eine Zusammenfassung des Inhalts des Romanprojekts hat Nabokov selbst geliefert:

Bei Das Modell für Laura handelt sich um die vertrackt komplexe Geschichte eines weltberühmten Neurologen namens Philip Wild – fett, gelehrt, um seine Füße besorgt und mit der jungen Flora verheiratet, die Gegenstand eines meisterlichen Schlüsselromans (‹kiss-and-tell› – küsse sie und rede darüber) mit dem Titel Meine Laura geworden war. Da er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller ist, arbeitet Wild insgeheim an einem Werk, in dem er seine ekstatischen Experimente mit dem Tod beschreibt, nur um von einem gewissen Dr. Aupert – jung, sonnengebräunt und aufgeräumt – zu erfahren, dass er ernstlich krank ist.

Die Präsentation des Materials durch den Rowohlt Verlag ist prätentiös und seitenschindend: Auf jeder Doppelseite stehen sich links die Reproduktion einer Karteikarte und rechts die Übersetzung dieser Karte gegenüber. Nicht nur hätte man ohne Verlust zwei Karten pro Seite wiedergeben, sondern auch die Übersetzung zumindest der ersten Hälfte der Karten als Fließtext präsentieren können. Von der manieristischen Idee, dem Leser die Karteikarten zusätzlich als Kartenset zum Selbstmischen zu liefern, wollen wir hier ganz schweigen.

Insgesamt eine enttäuschende Publikation angesichts der Erwartungen, die seit Jahrzehnten von den Nabokov-Forschern, die Einsicht in das Manuskript hatten, geschürt wurden. Nicht, dass ich dafür plädieren würde, dass man doch besser dem Wunsch Nabokovs nachgekommen wäre, aber den Zirkus, der seit Jahren um diesen Nachlass gemacht wurde, hätte man den Lesern Nabokovs ohne weiteres ersparen können. Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

Valdimir Nabokov: Das Modell für Laura. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer und Ludger Tolksdorf. Reinbek: Rowohlt, 2009. Pappband, Lesebändchen, 319 Seiten. 19,90 €.

Thomas Nagel: Was bedeutet das alles?

978-3-15-010682-2 Auch dieser Band entstammt der Reihe A Very Short Introduction der Oxford University Press. Das Schöne an dieser »ganz kurzen Einführung in die Philosophie« ist, dass sie dem akademischen Betrieb gänzlich fernsteht. Sie ist geschrieben für Menschen, die von Philosophie, ihren Methoden und Fragestellungen nur eine geringe oder gar keine Vorstellung haben. Nagel entwickelt an neun klassischen Themen der Philosophie – Erkenntnis, das Bewusstsein anderer, Leib/Seele, die Bedeutung von Wörtern, Willensfreiheit, Recht und Unrecht, Gerechtigkeit, Tod und Sinn des Lebens – jeweils eine Reihe von Antworten, die er immer wieder sokratisch hinterfragt, abwandelt und von anderer Seite neu aufgreift. Wie nebenbei markiert er in wenigen Worten treffsicher bestimmte philosophische Positionen, ohne dabei in irgendwelche ideologischen Debatten abzuschweifen.

So liefert er eine schlichte und gut verständliche Einführung in Kernbestände philosophischen Denkens, ohne Anspruch darauf, auch gleich Antworten bereit zu halten. Im ganzen Buch fällt – wenn ich es richtig erinnere – nicht ein einziger Name eines Philosophen. Alles bleibt auf die Sache bezogen, nichts wird historisiert. Das könnte man unangemessen finden, da philosophische Antworten natürlich immer zugleich auch historische Antworten sind. Dem steht entgegen, dass Nagel mit dieser Vorgehensweise das Feld der Philosophie gerade jenen öffnet, die zwar an einer Auseinandersetzung mit den Fragestellungen interessiert sind, die aber nicht gleich den gesamtem Ballast der Philosophiegeschichte mit stemmen wollen.

Ein frischer, origineller und weitgehend voraussetzungsloser Zugang zur Philosophie.

Thomas Nagel: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Gebauer. Stuttgart: Reclam, 2008. Pappband, 108 Seiten. 6,90 €.

Markus Werner: Festland

Virtuose Erzählung, die drei Zeitebenen miteinander verbindet. Protagonistin und Erzählerin Julia hat gerade ihr Studium abgeschlossen und ist anschließend in eine depressive Verstimmung geraten. Aus dieser befreit sie ein Anruf ihres Vaters, zu dem sie nur wenig Kontakt hat. Aufgewachsen ist sie nach dem Freitod ihrer Mutter bei den Großeltern, die den unehelichen Vater vom Leben Julias ferngehalten haben. Nun ist Julia aber neugierig auf die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Zeugung. Sie sucht daher ihren Vater auf und findet diesen ebenfalls von einer Depression befallen. Der Vater erzählt seiner Tochter nun die Geschichte seiner unerwiderten Liebe zu Lena, Julias Mutter, aus der Julia als Kind eines einzigen Beischlafs hervorgegangen ist. Als dritte Zeitebene tritt der eigentliche Erzählzeitpunkt hinzu, zu dem sich Julia im Haus ihres Vaters im piemontesischen Orta aufhält. Auf dieser Ebene wird von der Trennung Julias von ihrem Geliebten Josef, einem Mediziner, erzählt.

Mit Orta und dem nahen Sacro Monte di Varallo geraten die beiden scheiternden Liebesbeziehungen des Buches unvermittelt in die Nähe der gescheiterten Liebe Nietzsches zu Lou Andreas-Salomé. Dabei lassen sich nicht ohne weiteres allegorisierende Parallelen ziehen, sondern der Ort und die beiden Spiegelfiguren Andreas-Salomé und Nietzsche dienen eher als Vexierbild der erzählten Ereignisse.

Der Text präsentiert einen souveränen und artistischen Erzähler, dem es ohne große Schwierigkeiten gelingt, seine im Grunde recht simple Liebesgeschichte nicht nur durch eine komplexe Erzählstruktur anzureichern, sondern ihr durch die literarisch-biographische Unterfütterung zudem einen auf Anhieb interessanten assoziativen Hallraum mitzugeben. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es sich nicht erweisen könnte, dass hier letztlich die Trivialität – die ja wesentlich diejenige des Stoffs ist – mehr verschleiert als gehoben wird. Es mag aber auch sein, dass diese reklamierte Differenz am Ende nicht nachweisbar sein wird.

Markus Werner: Festland. dtv 12529. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 42003. 142 Seiten. 8,– €.

Zwei neuere Bücher über Vladimir Nabokov

Bereits im letzten Jahr ist Michael Maars Solus Rex erschienen. Der Titel ist der eines Romanfragments Nabokovs aus dem Jahr 1939, zugleich aber auch der Name einer bestimmten Art von Schachproblem, bei der ein schwarzer König allein einer weißen Armee gegenübersteht. Aber der Leser braucht sich keine Sorgen zu machen: Außer bei dieser einen Erklärung kommt Nabokov als Schachspieler und Problemkomponist in diesem Buch nicht vor.

Maar ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, als er im März 2004 unter großer öffentlicher Anteilnahme die Entdeckung einer mutmaßlichen Anregung zu Nabokovs Roman Lolita publizierte. Maar hat später in seinem Büchlein Lolita und der deutsche Leutnant versucht, dass dadurch provozierte Missverständnis wieder gerade zu rücken, was ihm aber wahrscheinlich eher nicht gelungen ist.

Solus Rex ist ein motivisch lockerer Gang durch das erzählerische Werk Nabokovs, wobei Maar Themen behandelt wie etwa Nabokovs Auseinandersetzung mit Thomas Mann – wobei die Erzählung Der Kartoffelelf als Antwort auf Manns Der kleine Herr Friedemann gelesen wird –, seine Homophobie und das daraus resultierende zuerst schwierige, dann schuldbeladene Verhältnis zu seinem Bruder, das Auftauchen von Geistern im Werk und anderes mehr. Es werden zahlreiche motivische Verbindungen innerhalb des Werks und zu zahlreichen anderen Schriftstellern gezogen, und es ist durchaus vergnüglich dieser Schlenderei zu folgen. Wie erschließend und hilfreich das alles am Ende ist, wird sich nur demjenigen eröffnen, der selbst bereit ist, die Originale gründlich zu studieren und sich auf die eigentümliche Welt Nabokovs einzulassen. Nabokov ist nun einmal kein Autor für eine Lektüre en passant.

Der Leser sollte also keine Biografie oder systematische Einführung in das Werk Nabokovs erwarten, sondern sich mit einem interessanten, aber essayistischen Zugriff zufrieden geben können.

Dieter E. Zimmer ist als sein langjähriger Übersetzer und Herausgeber der Werkausgabe bei Rowohlt sicher einer der besten deutschen Kenner Nabokovs, wenn nicht der beste. Sein gerade erschienenes Buch Wirbelsturm Lolita beleuchtet dieses Hauptwerk Nabokovs aus verschiedenen Blickwinkeln: Publikationsgeschichte, Übersetzungen, die Frage nach dem vorgeblich pornografischen oder unmoralischen Charakter des Buches, aber auch zahlreiche inhaltliche Aspekte werden unprätentiös und frei von jedem literaturwissenschaftlichen Jargon spannend und gut lesbar präsentiert. Dabei hat nicht jedes Kapitel das gleiche Gewicht: So mag man Zimmers Reflexionen über die verschiedenen Schutzumschläge nicht in jedem Urteil nachvollziehen wollen oder den Bericht über die detektivische Arbeit, die nötig war, Humbert Humberts Fahrtroute in allen Details zu klären, für weniger gehaltvoll halten als deren Ergebnisse. Insgesamt aber ergibt sich ein hochinteressantes thematisches Panorama, das zahlreiche Missverständnisse über dieses wichtige Buch gerade rückt und entscheidende Hinweise zu seinem Verständnis gibt. Kennern wird der Band wahrscheinlich nur hier und da Neues bringen – so etwa die Geschichte der deutschen Übersetzung –, aber jedem, der einen Einstieg zu Nabokov sucht, sei die Lektüre dieses Buches dringend empfohlen! Oder, um es einmal mehr mit Lichtenberg zu sagen:

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

In diesem Sinne könnte es sich bei Zimmers Buch um die wichtigste deutschsprachige Sekundär-Veröffentlichung zu Lolita überhaupt handeln, aber es steht zu befürchten, dass die Deutschen Zimmers Buch noch viel weniger lesen werden, als sie bereit sind, dem Original eine sorgfältige und verständige Lektüre angedeihen zu lassen. Wahrscheinlich wird Zimmers Buch als Merkstein des breiten – und nicht nur deutschen – Unverständnisses für dieses Meisterwerk stehen bleiben.

Nabokov sind mehr und immer bessere Leser überall auf der Welt zu wünschen, und Zimmers Buch ist die derzeit beste deutsche Werbeschrift für Buch und Autor. Vielleicht, wenn Rowohlt sich noch entschließen könnte, zum 50. Jubiläum der deutschen Ausgabe von Lolita auch die Biografie von Bryan Boyd im Taschenbuch erscheinen zu lassen, dass es in Deutschland zu einer breiten Wertschätzung des Meisters käme. Es wäre allmählich an der Zeit …

Michael Maar: Solus Rex. Die schöne böse Welt des Vladimir Nabokov. Berlin: Berlin Verlag, 2007. Pappband mit Lesebändchen, 205 Seiten. 22,– €.

Dieter E. Zimmer: Wirbelsturm Lolita. Auskünfte zu einem epochalen Roman. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband mit Lesebändchen, bedruckte Vorsätze, 222 Text- + 24 Bildseiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen. 19,90 €.

Vladimir Nabokov: Pnin

nabokov_pnin_lesungNabokovs resignative Einsicht »Bekannt ist Lolita – ich bin es nicht« stimmt mehr oder weniger auch noch heute. Das wundervolle literarische Werk dieses sprachlich außergewöhnlich sensiblen und humorvollen Schriftstellers, der gleich in zwei Sprachen brilliert hat, ist, im Vergleich zum Skandalbuch Lolita, dessen Skandal noch dazu auf einem Missverständnis nicht alltäglichen Ausmaßes beruht, kaum bekannt. Dabei hätte Nabokov durchaus ein so breites Publikum verdient wie etwa John Irving oder Wladimir Kaminer.

Pnin wurde unmittelbar nach Lolita geschrieben (für die Nabokov zu diesem Zeitpunkt noch immer einen Verleger suchte) und erzählt die Geschichte des russischen Emigranten Timofey Pavlovich Pnin, der sich in den USA an einem provinziellen Ostküsten-College als Gelehrter durchschlägt. Pnin versammelt alle Eigenschaften in sich, die einen russischen Emigranten zum Außenseiter stempeln: Er ist im Habitus noch immer sehr europäisch, hat die englische Sprache nur unzureichend gelernt, lebt als eingesponnener Gelehrter noch ganz aus der europäischen Tradition heraus. Aber Pnin ist nicht nur eine komische Figur, er ist auch bei Kollegen am College unbeliebt und wird angefeindet und muss am Ende das College verlassen; seine Zukunft bleibt ungewiss.

Nabokov hat in diesem Roman sowohl seine eigenen Erfahrungen als Emigrant und College-Professor als auch seine Beobachtungen anderer Emiganten verarbeitet. Sein Humor reicht vom Leis-ironischen bis zum Slapstick, die Spannbreite des Tons vom Burlesken bis zum echt Tragischen.

Die Komplettlesung des Textes in der ausgezeichneten Übersetzung Dieter E. Zimmers durch Ulrich Matthes ist ein Fall, in dem die Lesung eine echte Bereicherung der eigenen Lektüre sein kann. Zu Anfang hält man sie vielleicht für ein wenig zu harmlos, aber spätestens wenn Pnin durch Matthes’ Mund zu sprechen anhebt, wird er zu einer runden und lebendigen Figur.

Vladimir Nabokov: Pnin. In der Übersetzung Dieter E. Zimmers vollständig vorgelesen von Ulrich Matthes. Berlin: Der ›Audio‹ Verlag, 2002. 6 Audio-CDs mit ca. 7 Stunden Spielzeit. Ca. 25,– €.