Johann Wolfgang Goethe / Friedrich Schiller: Xenien

Als 1794 die Zusammenarbeit Goethes und Schillers beginnt, befinden sich beide in einer Art von Isolation vom und Opposition zum literarischen Leben der Zeit: Schiller hatte drei Jahre lang von einem Stipendium gelebt und suchte im Anschluss daran nun eine Möglichkeit, seine Familie und sich mit der Herausgabe einer anspruchsvollen literarischen Zeitschrift – Die Horen – zu finanzieren, stand aber in einer gewissen Spannung zu der jungen Generation von Schriftstellern, die gerade in Mode war. Auch hatte er selbst zuletzt neben einem historischen Werk hauptsächlich theoretische Texte zur Literatur veröffentlicht. Sein Ruhm als einer der jungen Feuerköpfe der Literatur gehörte inzwischen der Vergangenheit an. Von daher war der in der Nachbarschaft lebende Goethe, dem ebenfalls der Ruf anhaftete, eine gewesenes Genie zu sein, eine natürliche Wahl als Mitstreiter für das neue Projekt. Auch Goethe hatte nach seiner Rückkehr aus Italien Schwierigkeiten, wieder ans gesellschaftliche und literarische Leben anzuknüpfen. Es ist daher nur zu verständlich, dass er sich für Schillers Vorschlag zur Mitarbeit an den Horen begeistern konnte: Es bestand die Aussicht, auf diesem Weg wieder innovative Akzente setzen und sich damit zurück in die literarische Diskussion der Zeit bringen zu können.

Diese Interessengemeinschaft wird im Laufe des Jahres 1795 zu einer Art Kampfbündnis und schließlich zu der Arbeitsgemeinschaft, über deren mehr als zehnjähriges Bestehen dann der Briefwechsel eine so umfassende Dokumentation liefern wird. Als erstes echtes Gemeinschaftsprojekt entstehen ab Dezember 1795 während eines knappen Jahres etwa 1.000 Distichen („Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein; [/] Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus“ wird Matthias Claudius spöttisch dichten), zuerst als satirische Kurzkritiken anderer Zeitschriften vorgeschlagen, dann aber zu einem Rundumschlag werdend gegen Schriftsteller und andere Zeitgenossen, literarische Tendenzen und Moden, poetologische Theorien und schließlich beinahe alles und jedes.

Peterskirche

Suchst Du das Unermeßliche hier? Du hast dich geirret,
Meine Größe ist die, größer zu machen dich selbst.

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Die Zusammenarbeit ist dabei so eng, dass sich bei zahlreichen dieser sogenannten Xenien (wörtlich: „Gastgeschenke“, nach den Epigrammen Martials) auch heute nicht bestimmen lässt, wer der eigentliche Autor der einzelnen Verse ist. So werden die Xenien für gewöhnlich vollständig sowohl in die Werke Goethes als auch Schillers eingereiht.

Die Xenien waren übrigens ein vollständiger Erfolg, was ihre Wirkung angeht: Sie waren der literarische Skandal der Jahreswende 1796/1797, nachdem 400 von ihnen anonym bei Cotta im Musen-Almanach für das Jahr 1797 erschienen waren. Es fühlten sich über den Kreis der Gemeinten hinaus zahlreiche andere Autoren getroffen und das allgemeine Palaver war vollkommen. Die beiden Weimarer Klassiker hatte einmal mehr bewiesen, dass sie noch dazu in der Lage waren, die literarische Welt aufzumischen.

Die jetzt von Reclam vorgelegte Ausgabe ist leider eine Enttäuschung: Nicht nur enthält sie nur eine Auswahl der Xenien, sondern sie bringt auch nur eine minimale Kommentierung dieser Texte, die bereits für die Zeitgenossen nicht immer leicht zu entschlüsseln waren. Das knappe Nachwort ist zwar inhaltlich untadelig, schafft es aber auf dem wenigen Raum, den es einnimmt, problemlos, sich zu wiederholen. Hier hätte man sich eine dem heutigen Leser weiter entgegenkommende Aufbereitung dieser oft kryptischen Verse gewünscht. Auch ist die vorgenommene Auswahl zwar durchaus nachvollziehbar, aber was einer vollständigen Ausgabe entgegensteht, will sich wenigstens mir auf Anhieb nicht eröffnen: Wenn sich schon jemand für die Xenien interessiert und sie nicht ohnehin als Teil eines umfassenden Werkausgabe besitzt, warum sollte der nicht eine vollständige und umfangreich kommentierte Ausgabe wünschen statt dieser konsequenten Halbheit? Am Preis kann es in diesem Fall wirklich nicht liegen.

Johann Wolfgang Goethe / Friedrich Schiller: Xenien. Eine Auswahl. Hg. v. Frieder von Ammon u. Marcel Lepper. RUB 14250. Stuttgart: Reclam, 2022. Broschur, 96 Seiten. 6,– €.

Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans

Als Vorbereitung für die Lektüre von Shaws Die heilige Johanna habe ich noch einmal Schillers sehr merkwürdiges Stück über Jeanne d’Arc gelesen. Es entstand um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert unmittelbar nach der Wallenstein-Trilogie und Maria Stuart. Der Stoff hat Schiller offenbar erheblichen Widerstand entgegengesetzt, was auf der einen Seite das Märchenhafte – „romantische“! – des Stückes erklärt, andererseits die schon einigen Zeitgenossen unangenehme Veränderung des historischen Schicksals Johannas, indem Schiller sie auf dem Schlachtfeld sterben lässt und Verrat, Prozess und Hinrichtung schlicht ausblendet.

Das Problem des Stoffes dürfte auch bereits für Schiller im Wesentlichen gewesen sein, dass Johannas Auftrag und ihre aus diesem Auftrag folgende Autorität auf ihren Visionen beruhen. Dabei ist es unerheblich, ob diese Visionen die Jungfrau Maria (Schiller) oder die heilige Katharina und Margareta (so die historischen Quellen) präsentiert haben; es besteht in jedem Falle die Notwendigkeit den Status dieser Visionen zu reflektieren. Bei Schiller geschieht dies nur am Rande, in dem er in einer späten Szene des dritten Aufzugs den Teufel leibhaftig in der Gestalt eines schwarzen Rittes auftreten lässt, der Johanna davor warnt, sich nach Reims zu begeben und ihre Sendung zu erfüllen. Nur an dieser einzigen Stelle objektiviert Schiller das Eingreifen der christlichen Hinterwelt in das historische Geschehen (konsequenterweise wurde die entsprechende Szene bei den zeitgenössischen Aufführungen denn auch zumeist gestrichen); ob Johanna aber eine Gesandte oder Wahnsinnige, eine Heilige oder Ketzerin ist, bleibt völlig unklar, da diese Frage – ganz gleich, wie sie beschieden würde – die tragische Dramaturgie des Stücks aushebeln würde. Aus diesem Grunde darf der Prozess um Johanna bei Schiller nicht einmal erwähnt werden.

Schiller ist daher dazu gezwungen, Johanna auf ganz merkwürdige Weise zu psychologisieren: Da sie, um ohne den historischen Verrat an ihr eine tragische Figur werden zu können, in irgendeiner Weise schuldlos schuldig werden muss, erfindet er in die bis dahin durchweg unmenschliche Figur das unwillkürliche Gefühl einer Verliebtheit hinein, das ihren Sündenfall herstellt. Im inneren Bewusstsein ihrer Schuld gerät sie in ein Miss­ver­hält­nis zu ihren Mitmenschen, die ihr Verhalten in Unkenntnis der inneren Verhältnisse Johannas missdeuten müssen, was zu Johannas plötzlichem und wenig notwendigem Fall aus der Gnade von König, Hof und Familie führt. Ihre nachfolgende Besinnung und Sühnung im Tod bei der Rettung ihres Königs sind notwendig im Sinne der tragischen Dramaturgie, aber psychologisch eine Niederlage, da die durch ihre Verliebtheit einmal gewonnene Menschlichkeit der Figur sogleich wieder aufgegeben wird, um sie in ihr tragisches Ende zu zwingen. Man wundert sich, dass gegen dieses erkünstelte Pathos nicht mehr Zeitgenossen Einwände erhoben haben.

Natürlich muss Schiller zugute gehalten werden, dass der historische Stoff schon auf den ersten Blick für eine Dramatisierung außergewöhnliche Schwierigkeiten bereit hält. Will man ihn aber – man entschuldige diesen faden Scherz – nun einmal auf Teufel komm raus dramatisieren, ja, tragödisieren, so ist Schillers Wurf allein deswegen einiger Respekt zu zollen. Und doch scheint ihm gleich zweierlei nicht zu gelingen: weder die Menschlichkeit seiner Protagonistin zu gewinnen, noch den Stoff aus dem Legendenhafte ins Historische zu transponieren. Doch wenigstens den Versuch des einen oder anderen darf man vielleicht erwarten.

Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans. In: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 4. Berlin: Aufbau, 2005. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 901 Seiten.

Statt einer Besprechung

Anlässlich meiner ich weiß nicht wievielten Lektüre von »Don Karlos« statt einer Besprechung dies:

»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles …«, sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons, die sie bei Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennig erstanden hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich ›Don Carlos‹ von Schiller … Ich leihe es dir, wenn du willst …«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »daß laß nur, Tonio, das paßt nicht für mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir. Es sind Augenblicks- photographien, und man sieht die Gäule im Trab und im Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht …«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber ›Don Carlos‹ betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt, daß es gleichsam knallt …«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen … »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist … aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonio’s Gesicht, und irgend etwas in diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonio’s und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und Flandern …«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.

Thomas Mann
Tonio Kröger

Zwei Hohlköpfe

Wie sich Schiller und Goethe doch einmal nützlich machen:

Zwei  Hohlköpfe
(Originalhöhe der Büsten ca. 8 cm)

Unter dem Motto »Schiller & Goethe zerstreut« vertreibt inkognito diese beiden Hohlköpfe, die von unten befüllt werden können. Danach liefert Schiller durch drei Löcher in seinem Kopf das erdverbundene Salz, während Goethe durch nur zwei Löcher der ganzen Sache Pfeffer gibt. Welch passende Allegorie auf … ja, auf was eigentlich?

Nochmals »Tell« im Dritten Reich

Im März 2005 hatte ich auf meiner Pinwand einige Zitate zusammengestellt, in denen es um das Stück »Wilhelm Tell« und die Rolle der Titelfigur als Tyrannenmörder bzw. Terrorist ging. Heute ist mir dazu ergänzend das Folgende in die Hände gefallen; die Stelle ist natürlich oft angeführt worden, aber hier findet sich zusätzlich ein »Begründungszusammenhang«:

[344 a,b]

[a] 3. 6. 1941 Bormann an Lammers

Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel ›Wilhelm Tell‹ nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird.

[b] 3. 6. 1941 Aktenvermerk Bormanns

Die Entscheidung des Führers hat zwei Gründe; einmal die unverschämte Hetze, die seit langen Jahren fast alle schweizer Zeitungen gegen uns betreiben; wir haben wirklich keinen Grund, die Schweizer Fremdenpropaganda zu unterstützen.

Zweitens hat Wilhelm Tell bekanntlich nie gelebt; er ist im Grund auch kein Held, sondern ein hinterlistiger Heckenschütze.

Schon vor einigen Jahren sind die Bezeichnungen »Sächsische Schweiz«, »Holsteinische Schweiz« usw. verboten worden. Leider werden noch eine Unzahl von Holzhäusern als »Schweizer Haus« bezeichnet, obwohl diese Häuser genau so gut »Steyrer Haus« oder dgl. heissen könnten.

Quelle: Die Rückseite des Hakenkreuzes. Absonderlichkeiten aus den Akten des »Dritten Reiches«. Hg. v. Beatrice und Helmut Heiber. München: dtv, 1993 / 2001. Hier zitiert nach der Lizenzausgabe Wiebaden: Matrix Verlag, 2005.