Émile Zola: Der Traum

Die Welt ist voller braver Leute. Wenn man rechtschaffen ist und arbeitet, wird man dafür immer belohnt … Oh, ich weiß, es gibt auch einige schlechte Menschen. Aber zählen die denn? Man verkehrt nicht mit ihnen, sie werden schnell bestraft …

zola_rougon»Der Traum«, der 16. Band der Rougon-Macquart, ist ein durch und durch überraschendes Buch. Es hat zwei hervorragende Eigenschaften: Es informiert den Leser ausführlich über das Handwerk der Gewandstickerei, und es ist mit gut 250 Seiten recht kurz. Alles andere an ihm ist unglaublich schlecht!

Erzählt wird die Geschichte Angéliques, der unehelichen Tochter Sidonie Rougons, die diese direkt nach der Geburt anonym der staatlichen Fürsorge überlässt. Die Erzählung setzt ein, als die neunjährige Angélique in der nordfranzösischen Kleinstadt Beaumont am Weihnachtstag des Jahres 1860 dem Handwerker-Ehepaar Hubert auffällt und sie das Kind in ihr Haus aufnehmen. Da die Huberts kinderlos sind, freunden sie sich schnell mit dem Gedanken an, das verwaiste Kind bei sich zu behalten und ihr eine Ausbildung als Stickerin angedeihen zu lassen. Angélique, die sich zuerst durch ein wildes Wesen auszeichnet, bekehrt sich durch die Lektüre der »Legenda aurea« zu einem schwärmerischen Christentum und träumt zugleich von einer Karriere als Heilige und als Prinzessin. Als sich der Sohn des örtlichen Bischofs – wie der Bischof zu einem Sohn kommt, würde hier zu weit führen, ist aber eine herzzerreißende Geschichte mehr – in die nun Sechzehnjährige verliebt, scheinen alle ihre Träume wahr werden zu können. Aber natürlich ist der Vater des jungen Mannes gegen die Ehe, was Angélique das Herz bricht. Auf dem Totenbett vom Bischof bereits gesalbt, kehrt sie plötzlich ins Leben zurück. Überwunden von diesem selbstgezeugten Wunder, willigt der harte Mann in alles ein, und Angélique verscheidet während ihrer Hochzeit, als sie ihr Gatte zum ersten Male küsst.

Man glaube nun nicht, ich unterschlüge mit meiner Nacherzählung irgend eine ironische oder anderweitig distanzierende Ebene; die Erzählung ist genauso trivial, einfältig und klischeehaft, wie sie oben erscheint. Die »Gartenlaube« hätte sich die Finger danach geschleckt, und jede bürgerliche Mutter hat diesen Roman ihrer heranwachsenden Tochter zur erbaulichen Lektüre in die Hände gelegt. Es ist schlicht fürchterlich.

Was sich Zola bei dem Zeugs gedacht haben mag, kann sich auch keiner seiner Deuter recht erklären. Die immer wieder bei seinen schwachen Romanen herangezogene Ausrede, er habe seine Kritiker überzeugen wollen, dass er auch konventionelle Romane schreiben könne, überzeugt in diesem Falle nicht, denn mit diesem Buch hat er höchstens bewiesen, dass er auch Mist zu schreiben in der Lage war.

Wie nicht anders zu erwarten, war das Buch einer der Verkaufserfolge Zolas, der mit der Auflagenhöhe etwa von »Germinal« durchaus wetteifern konnte. Ohne jede Frage der schriftstellerische Tiefpunkt des Zyklus, vermutlich des Gesamtwerks Zolas.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Die Erde

Überall dieselbe Geschichte, das Geld und das Weib, deswegen starb man und deswegen lebte man.

zola_rougon»Die Erde«, der 15. Band der Rougon-Macquart, ist der Bauernroman des Zyklus. Er bildet in mehrfacher Hinsicht ein Pendant zum Arbeiterroman »Germinal«: Auch hier spielt die Familie Rougon-Macquart, vertreten durch Jean Macquarts, den Bruder der Wäscherin Gervaise aus »Der Totschläger«, nur eine Nebenrolle; im Zentrum aber steht die Familie Fouan, die seit langer Zeit im kleinen Dorf Rognes in der Gegend von Chartres ansässig ist. Der alte Bauer Fouan teilt zu Beginn des Romans seinen kleinen Besitz gegen ein Altersgeld unter seinen drei Kindern auf und setzt sich zur vermeintlichen Ruhe. Allerdings weisen bereits die Streitereien anlässlich der Teilung auf den weiteren Ärger voraus, den ihm diese Idee einbringen wird: Alle drei Kinder versuchen, ihre Eltern auf ein minimales Altersgeld herunterzuhandeln, und sie zanken sich darum, wer welchen Anteil erhalten soll. Der eine Sohn, Geierkopf genannt, verweigert sogar vorerst die Annahme des ihm zugelosten Anteils, der andere Sohn, wegen seines Hangs zum Schwadronieren »Jesus Christus« genannt, ein Säufer und Wilderer, benutzt das ihm vererbte Land bloß, um Hypotheken darauf aufzunehmen, die er anschließend versäuft. Nur der Schwiegersohn Delhomme, der die Tochter Fanny geheiratet hat, zahlt tatsächlich pünktlich sein Drittel der vierteljährlich fälligen Rente.

Noch ärger wird es, als Mutter Fouan stirbt und die Kinder den Vater überreden, sein Haus zu verkaufen und bei ihnen zu wohnen: Fanny erweist sich als eine geizige und herrische Tochter, die dem Alten sein Leben vergällt, bei »Jesus Christus« geht es zwar lustiger zu, aber auch der ist nur darauf aus, dem Vater das letzte Geld wegzunehmen, und im Haus von Geierkopf ereignet sich die eigentliche Tragödie des Buches. Nachdem Geierkopf sein Erbteil doch endlich angenommen hat, da es durch den Bau einer Straße deutlich an Wert gewonnen hat, heiratet er seine Kusine Lise, die bereits ein Kind von ihm hat. Beim Ehepaar wohnt bis zu ihrer Volljährigkeit auch die jüngere Schwester Lises, Françoise, in die sich Jean Macquart verliebt hat. Geierkopf versucht Françoise mehrfach zu vergewaltigen, um sie zu einer faktische Ehe zu dritt zu zwingen, von der er sich erhofft, dass der Besitz der beiden Schwestern dann nicht bei Françoises Volljährigkeit oder Heirat geteilt werde.

Doch Françoise wehrt sich erfolgreich gegen alle Übergriffe, ja ihre Schwester und ihr Schwager werden ihr mit der Zeit zunehmend verhasster, so dass sie schließlich in eine Ehe mit Jean einwilligt, nur um sich an den beiden rächen zu können. Sie vertreibt sie nach der Teilung des väterlichen Erbes aus dem elterlichen Haus, in das sie mit Jean einzieht, und als sie schwanger wird, sehen Geierkopf und Lise die letzte Chance dahinschwinden, wieder in den vollen Besitz des Erbes zu kommen. Bei einem heftigen Streit stößt Lise die hochschwangere Françoise in deren am Boden liegende Sense; Lise stirbt wenige Tage später an den Folgen der schweren Verletzung, ohne die Schuld ihrer Schwester verraten zu haben. Vater Fouan aber, der zufällig Zeuge der Tat war, verplappert sich schon bald Jean gegenüber, und da er seinem Sohn schon lange zu Last fällt und der sich endlich auch das restliche Vermögen des Alten aneignen will, bringen Geierkopf und Lise den Mitwisser ihrer Tat in der folgenden Nacht um und verbrennen seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit.

Die ununterbrochene Folge von Habgier, Geilheit und Streit gipfelt bei der Beerdigung des alten Fouan in einem Streit über die Grabstellen des winzigen Friedhofs, der deutlich macht, dass sich dieses Volk auch über den Tod hinaus unversöhnlich in den Haaren liegen wird. Jean, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen verloren hat und sich nur noch als Fremder begreifen kann, lässt all das hinter sich und zieht wieder in den Krieg, aus dem er zehn Jahre zuvor nach Rognes gekommen war:

Die Menschen waren zu schuftig, die Hoffnung, Preußen abzuknallen, verschaffte ihm Erleichterung; und da er keinen Frieden gefunden hatte auf diesem Fleckchen Erde, wo sich die Familien gegenseitig das Blut aussoffen, war es ebensogut, wenn er wieder ins Gemetzel zurückkehrte.

»Die Erde« gehört sicherlich nicht zu den Glanzstücken des Zyklus, obwohl er einer der erfolgreicheren Romane Zolas war. Zwar hatten Kollegen und Kritik zu Anfang verstört auf die weitgehend unverhüllten Darstellungen von Sexualität reagiert (eine der ersten Handlungen der 14-jährigen Françoise ist es, einem Stier bei der Begattung einer Kuh zur Hand zu gehen), doch bereuten die meisten in den späteren Jahren ihre scharfe Kritik an dem Buch. Aber man muss wohl feststellen, dass Zolas Bauernwelt wesentlich nicht über die Abarbeitung bereits bekannter Klischees hinauskommt. Die wirkenden Kräfte sind am Ende nur Habgier und Wollust – zwei Todsünden, weshalb die Bauern denn auch nur ein sehr oberflächliches Christentum ihr eigen nennen dürfen –, die Zola nicht nur als wesenhaft, sondern auch als notwendig für die bäuerliche Existenz begreift. An den wenigen Stellen, an denen wenigstens ansatzweise die Position der Bauern in der industriellen Welt thematisiert wird, geschieht dies in oberflächlich bleibendem Geschwätz einzelner Figuren.

»Die Erde« wirkt wie ein Pflichtstück, ein notwendiger Stein zur Vervollständigung des Mosaiks des Zweiten Kaiserreichs, mit dem Zola aber am Ende nicht wirklich etwas anfangen konnte. Diesen inhaltlichen Schwächen steht allerdings eine ausgewogene und routiniert durchgeführte Erzählform gegenüber, die sich aber, wie bereits angedeutet, grundsätzlich so schon einmal in »Germinal« bewährt hatte; die von der Kritik immer wieder hervorgehobenen Anklänge an Shakespeares »King Lear« sind nur literarhistorischer Flitter auf einem handwerklich gediegenen, alles in allem aber blassen Stück Arbeit. Dieser Eindruck ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass die die Zeitgenossen schockierende, freizügige Darstellung von Fruchtbarkeit und Sexualität für heutige Leser viel von ihrer Wirkung eingebüßt hat.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Das Werk

Und mit offenem Munde stand er da und hatte Angst vor seinem Werk, zitterte vor diesem jähen Sprung ins Jenseits, verstand gut, daß die eigentliche Wirklichkeit für ihn nicht mehr möglich war, nachdem er so lange gerungen, um sie zu bezwingen und sie mit seinen Manneshänden neu zu formen.

zola_rougonBeim 14. Band der Rougon-Macquart handelt es sich um den Künstlerroman des Zyklus. Im Zentrum steht Claude Lantier, der älteste Sohn der Wäscherin Gervaise Macquart aus »Der Totschläger« und Bruder Etienne Lantiers aus  »Germinal«. Die Handlung setzt im Jahr 1862 ein und beginnt mit der Begegnung Claudes mit Christine, einem jungen, unerfahrenen Mädchen aus der Provinz, die in Paris eine Stelle antreten will, in der fremden Stadt Paris aber beinahe sofort verloren geht. Claude findet sie bei seiner Rückkehr im Eingang des Hauses, in dem er unter dem Dach sein Atelier hat, und nimmt sie mit nach oben, obwohl er den Verdacht hat, dass sie nur eine Prostituierte auf Suche nach einem Kunden ist. Am nächsten Morgen inspiriert ihn die schlafende Schönheit, und er macht eine Skizze für das großformatige Bild Im Freien, an dem er gerade arbeitet und das er zum kommenden Salon einreichen will. Claude gilt als der mutigste, begabteste und hoffnungsvollste der avantgardistischen, jungen Maler von Paris, von dem Kollegen und Kunsthändler eine bedeutende Karriere erwarten.

Aus dieser ersten Begegnung der unerfahrenen Christine und des schüchternen Claude entwickelt sich langsam aber sicher eine Liebesbeziehung, die ihre erste Erfüllung anlässlich der Ausstellung des Salons 1863 findet: Claudes Bild wird zwar von der Jury für den offiziellen Salon abgelehnt, wird aber zusammen mit den anderen abgelehnten Arbeiten im ersten Salon der Refusés gezeigt. Claude muss erleben, dass sein Bild zusammen mit den Werken anderer abgelehnter Künstler vom Publikum öffentlich ausgelacht wird. Er macht zwar gute Mine zum bösen Spiel, als er bei seiner Heimkehr aber die auf ihn wartende Christine antrifft, bricht er weinend zusammen, was zur ersten Liebesnacht der beiden führt.

Da Claude durch eine kleine Erbschaft in Maßen finanziell unabhängig ist, fliehen Christine und er zusammen aufs Land, wo sie eine Zeit gedankenloser und unbeschwerter Liebe durchleben, bis Christine schwanger wird und Claude beginnt, seine Pariser Freunde und das dortige Leben zu vermissen. So kehren beide schließlich nach Paris zurück, wo Claude versucht, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Doch scheint er seinen künstlerischen Fokus verloren zu haben; erst als er in einem fast visionären Moment den Einfall für ein monumentales Bild der Île de la Cité bekommt, scheint er sich wenigstens für den Augenblick wiederzufinden. Er greift das Kapital seiner Erbschaft an, um sich ein großes, wenn auch ärmliches Atelier einzurichten, und beginnt sein großes Werk.

Doch je länger Claude an diesem das Bild arbeitet, desto klarer wird, dass es seine Kräfte und sein malerisches Vermögen übersteigt. Selbst seinen engen Freunden, allen voran dem Schriftsteller Sandoz, erscheint die Bildkomposition, die im Zentrum des Bildes einen großen weiblichen Akt auf einem Boot zeigt, fragwürdig und befremdend, und Claude selbst ist mit der malerischen Umsetzung seines Einfalls nie zufrieden, sondern überarbeitet immer und immer wieder das bereits geschaffene. Über dieser monomanischen Arbeit geht die Beziehung zu Christine, die Claude sogar noch heiratet und die bis zum Ende zu ihrem Geliebten hält, in die Brüche.

Als der gemeinsame, von Beginn an kränkliche und zurückgebliebene Sohn stirbt, malt Claude zur Bewältigung seiner Trauer ein Bild des toten Kindes auf dem Sterbebett. Mit diesem Bild kommt er durch den Gnadenakt eines früheren Freundes, der inzwischen als Maler mit gefälligeren Versionen der avantgardistischen Motive und Techniken seiner Kollegen großen Erfolg hat, sogar in die Ausstellung des Salons, doch muss er, als er die Ausstellung besucht, feststellen, dass man sein kleines Bild hoch oben in der Nähe der Decke aufgehängt hat, wo es kaum zu sehen ist. Diese zweite Zurückweisung seiner Malerei durch den offiziellen Kunstbetrieb stürzt Claude endgültig in Depression und Verzweiflung. Nach einer letzten leidenschaftlichen Liebesnacht mit Christine, die beinahe gewaltsam versucht, Claude ins Leben zurückzuholen, erhängt sich der Maler vor seinem unvollendeten Werk. Er wird nur von einigen wenigen Menschen begleitet beinahe anonym beigesetzt. Sein Freund Sandoz zerstört das monumentale Fragment des Bildes der Île de la Cité.

Zola hat für »Das Werk« in weit größerem Umfang auf autobiographisches Material zurückgegriffen als bei den früheren Romanen des Zyklus. Insbesondere liefert er in der Figur des Schriftstellers Sandoz ein offensichtliches Selbstporträt. Dies hat dazu geführt, dass »Das Werk« vielfach als ein Schlüsselroman über den Impressionisten Paul Cézanne gelesen und kritisiert wurde. Auch Cézanne selbst scheint den Roman so wahrgenommen zu haben, denn dessen Veröffentlichung hat zum Bruch der Freundschaft zwischen ihm und Zola geführt. Dem steht nicht nur gegenüber, dass das erste große Bild Claudes offensichtlich eine Variation auf Édouard Manets Das Frühstück im Grünen darstellt, sondern auch, dass viele der biographischen Details für Claude Lantier von anderen zeitgenössischen Malern erborgt wurden. Zola kannte aufgrund seiner Freundschaft mit Cézanne zahlreiche Maler des Impressionismus persönlich und hatte sich als Essayist und Journalist intensiv mit der Malerei seiner Zeit auseinandergesetzt.

Der Ansatz als biographischer Schlüsselroman greift daher zu kurz. Das zentrale Thema des Romans scheint vielmehr das Verhältnis von Kunst und Realität überhaupt zu sein. Zola begreift sein eigenes schriftstellerisches Programm als direkte Entsprechung des Programms der Impressionisten: Primäres Ziel der Darstellung ist nicht eine moralische oder allegorische Bedeutung, sondern ein Bild der materiellen bzw. gesellschaftlichen Wirklichkeit zu geben, insbesondere jener Aspekte dieser Wirklichkeit, die als der künstlerische Darstellung traditionell nicht würdig bzw. deren Darstellung als dem Publikum nicht zumutbar galten. Dazu passt auch die negative Darstellung der Publikumsreaktion auf diese neue Kunst im Roman, wobei Zola gleichzeitig zugesteht, dass sich sowohl seine Romane als auch einige der avantgardistischen Künstler durchaus eines gewissen Erfolgs erfreuen. Dieser Widerspruch bleibt im Roman ebenso wie in der Wirklichkeit unaufgelöst.

In erster Linie aber überzeugt die zentrale Figur Claude Lantiers nicht. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Zola versucht, in ihm zwei antagonistische Konzepte gleichzeitig zu realisieren: Zum einen soll Claude ein Glied in der degenerativen Entwicklung der Familie Rougon-Macquart bilden, zum anderen soll sein Scheitern paradigmatisch die Krise der modernen Kunst symbolisieren. Sein Charakter bleibt daher in einer Art von Schwebezustand, der letztlich gar keine handfeste Motivation seines Handelns ergibt: Claude scheitert irgendwie an sich selbst, aus seinem Inneren heraus, ohne dass der Leser den Grund dieses Scheiterns tatsächlich aus der Gestaltung der Figur heraus begreifen kann. Daher ist auch sein Selbstmord, so sehr er auch für den Autor als einziges mögliches Ende erscheinen mag, unzureichend motiviert; ebenso gut hätte er auch aus einer Magenverstimmung heraus erklärt werden können wie aus dem Charakter Claudes. Was bleibt, ist die exakte und stimmige Beschreibung des Kunstbetriebs im Paris des Zweiten Kaiserreichs, die aber eben nur den Hintergrund für einen nicht ganz gelungenen Künstlerroman bildet.

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Émile Zola: Germinal

Aber heutzutage erwache der Bergmann in seiner Grube. Es keimte dort unter der Erde wie eine Saat, und eines Tages werde man sehen, wie sie auf dem Felde aufgehe.

zola_rougonMit der  Lektüre von »Germinal« im Jahr 2007 (für eine Übersicht über die Handlung bitte diesem Link folgen) hatte mein Interesse an der Rougon-Macquart begonnen, weshalb ich etwas gezögert habe, ob ich ihn in meinem Durchgang durch den gesamten Zyklus das Buch noch einmal lesen sollte (auch weil der Roman mit etwa 600 Seiten einer der umfangreichsten des Zyklus ist) oder gleich zum 14. Band, »Das Werk«, übergehen sollte. Als eine Art Kompromiss habe ich mich dann entschieden, mir die Verfilmung von Claude Bern aus dem Jahr 1993 anzuschauen, die ich noch nicht kannte. Dann hat mir der Film aber so viel Lust auf das Buch gemacht, dass ich es gleich im Anschluss noch einmal gelesen habe. Und es hat dieser zweiten Lektüre nach nur knapp fünf Jahren sehr gut standgehalten.

»Germinal« schließt in zweifacher Hinsicht an den siebten Band »Der Totschläger« an: Zum einen ist es der zweite Roman des Zyklus, der im Arbeiter-Milieu des Zweiten Kaiserreichs spielt, zum anderen ist der Protagonist Etienne Lantier einer der Söhne der Wäscherin Gervaise Macquart, deren Geschichte »Der Totschläger« erzählt. Die Handlung spielt Mitte der 1860er Jahre im nordfranzösischen Kohlegebiet und umfasst gut ein Jahr. Der ungefähr 23-jährige Etienne, ein arbeitsloser Maschinist auf Wanderschaft, trifft zu Beginn der Erzählung in Montsou ein und bekommt durch einen Zufall Arbeit in der Mine Le Voreux. Wie bereits anlässlich der Erstlektüre gesagt, besteht der Hauptteil der Erzählung aus der Darstellung eines Streiks, der sich über Monate hinzieht und nicht nur zu massiver Verelendung der Streikenden, sondern auch zu erheblichen gewalttätigen Auseinandersetzungen führt.

Zola thematisiert in diesem Roman erstmals explizit die schweren sozialen Verwerfungen, die die Industrialisierung hervorgebracht hat, und er lässt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass der Konflikt zwischen den ausgebeuteten und hungernden Massen und der dem Elend dieser Menschen mit Unverständnis gegenüberstehenden Bourgeoisie eine Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung zwangsläufig hervorbringen wird. In diesem Sinne ist auch der Titel zu verstehen: Germinal bezeichnete den Keim-Monat im französischen Revolutionskalender, in dem die Saat für die zukünftige Ernte ausgebracht wurde.

»Germinal« erweitert auch einmal mehr die stofflichen Grenzen des Naturalismus: Sowohl in der Beschreibung der unmenschlichen Arbeitsbedingungen und des sozialen Elends der Bergarbeiter als auch in der unverblümten Darstellung der Sexualität geht Zola weiter als je zuvor. Das Buch stellt einmal mehr den ungewöhnlichen künstlerischen Mut und das höchste schriftstellerische Vermögen Zolas unter Beweis. Ein weiteres Meisterwerk!

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Émile Zola: Die Freude am Leben

»Er wird die Gicht bekommen wie der Vater, und seine Nerven werden noch zerrütteter sein als meine … Sieh doch nur, wie schwach er ist! Das ist das Gesetz der Degenerierung!«

zola_rougonMit »Die Freude am Leben«, dem zwölften Teil der Rougon-Macquart, kehrt Zola in die Provinz zurück: Die Handlung spielt nahezu ausschließlich in einem einzigen Haus des winzigen Fischerdorfes Bonneville in der Normandie. Im Zentrum steht Pauline, die Tochter des Ehepaars Quenu, das wir in »Der Bauch von Paris« als Eigentümer einer Metzgerei kennengelernt hatten. Die Quenus sind beide innerhalb von sechs Monaten verstorben und ihre jüngste, zehnjährige Tochter kommt nun unter die Vormundschaft der Familie Chanteau. Vater Chanteau hat seinen Holzhandel wegen seiner Gicht unvorteilhaft verkauft und sich mit seiner Frau und seinem Sohn Lazare nach Bonneville zurückgezogen, wo die Familie ein bescheidenes Leben von den Zinsen des verbliebenen Vermögens führt. Man nimmt die Waise Pauline auf, und mit ihr übernimmt man auch die Verwaltung ihres nicht unbeträchtlichen Erbes.

Trotz den besten Vorsätzen, das Vermögen Paulines nicht anzugreifen, stellt sich bald die erste Versuchung ein, der nachgegeben wird. Lazare, ein neurasthenischer Salon-Pessimist, wie man ihn in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts häufig findet (noch Thomas Buddenbrook ist ein später Nachfahr der Tradition), der nicht recht weiß, was er im Leben anfangen soll und mit wechselnder Begeisterung ein Projekt nach dem anderen beginnt, will eine Fabrik zur chemischen Verwertung von Algen gründen, die in Erwartung großer Gewinne aus Paulines Vermögen vorfinanziert wird. Natürlich erweist sich das Projekt als nicht durchführbar, bzw. Lazare erweist sich als nicht hartnäckig genug, um es zu realisieren. Man trennt sich schließlich mit großen Verlusten von der Fabrik, was der Anfang vom Ende von Paulines Reichtum ist.

Zola verfolgt die Entwicklung der Familie bis einige Jahre in die Volljährigkeit Paulines hinein, wobei ihm aufgrund der bewussten Beschränkung von Personal und Örtlichkeit als handlungstreibende Motive nicht viel mehr als Krankheit, Tod und Naturkatastrophen zur Verfügung stehen. Es stellt sich beim Leser daher rasch ein Eindruck der Wiederholung ein. Hinzu kommt, dass alle Figuren recht eindimensional angelegt sind. Allein der gütigen und liebevollen Pauline wird ein einziger antagonistischer Charakterzug – ihre krankhafte Eifersucht – zugestanden, aber auch das nur, damit sie diese menschliche Schwäche glücklich und verzichtend überwinden kann. Die einzige wirkliche Überraschung liefert der Roman auf den letzten beiden Seiten, alles andere ist mehr oder weniger aus der einmal gewählten Konstellation der Erzählung vorhersehbar.

So kann ich mich nur der allgemeinen Einschätzung anschließen, dass es sich bei »Die Freude am Leben« um einen der schwächeren Romane des Zyklus handelt; derzeit mag ich nicht entscheiden, ob er oder »Ein Blatt Liebe« das Schusslicht bildet.

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Drei Symposien

… und sie seien genötigt worden, ohne jede Ordnung Unmengen von Wein zu trinken.

Bei der sogenannten Symposienliteratur handelt es sich um das antike Pendant zur Talkshow: Der Autor lässt mehr oder weniger berühmte Zeitgenossen zusammenkommen, die sich bei Gelegenheit eines abendlichen Festes mehr oder weniger intelligent über philosophische, politische oder auch einfach nur tagesaktuelle Themen unterhalten. Dabei tut es in der Antike wenig zur Sache, ob diese Gespräche tatsächlich so stattgefunden haben, so wie es heute wenig zur Sache tut, ob die Politiker das tatsächlich glauben, was sie von sich geben, oder ob irgend etwas von dem Gesagten richtig ist.

Urmuster aller Symposienliteratur sind – wenigstens aus unserer Sicht – zwei Texte: Das Platonische »Gastmahl« und das sich offensichtlich auf diesen Text beziehende Buch Xenophons mit demselben Titel. Allerdings sind diese beiden Vorlagen von höchst unterschiedlichem literarischen Gewicht, was man besonders deutlich spürt, wenn man beide unmittelbar nacheinander liest. In beiden tritt als zentrale Figur der Philosoph Sokrates auf, der aber von beiden Autoren, die beide das lebende Vorbild persönlich gekannt haben, sehr unterschiedlich geschildert wird; doch dazu später noch ein paar Sätze.

978-3-15-018435-6Platons »Symposion« nimmt den Sieg des Philosophen und Schriftstellers Agathon, eines der Schüler des Sokrates, mit seiner ersten Tragödie bei einem der Feste zu Ehren des Dionysos (wahrscheinlich im Jahr 416 v. u. Z.) zum Anlass für ein abendliches Gelage. Es ist der Tag nach dem Sieg; bereits am Vorabend haben der Dichter und einige seiner Freunde ein ausschweifendes Fest gefeiert, von dem die nun im Hause des Agathon zusammenkommenden Freunde noch gezeichnet sind. Man beschließt deshalb gleich zu Anfang des Festes, heute Mäßigkeit walten zu lassen und sich nicht wieder so zu besaufen wie am Vortag. Stattdessen will man lieber ein kultiviertes Gespräch pflegen, wozu der Sokrates-Schüler Phaidros das Thema vorgibt: den Gott Eros, dessen Kult unverständlicher Weise nicht seiner umfassenden Stellung im Kosmos entspreche.

Am Fest nehmen vorerst außer dem Gastgeber und den schon erwähnten, Sokrates und Phaidros, drei weitere Gäste teil: der Adelige Pausanias, der Arzt Eryximachos und der Komödienautor Aristophanes. Es wird beschlossen, dass jeder der Anwesenden reihum eine Rede auf den Eros halten solle, wobei der Gott Dionysos selbst als Schiedsrichter angerufen wird, der am Ende entscheiden solle, wer die beste Rede gehalten habe.

Phaidros, der das Thema vorgeschlagen hat, beginnt: Er erklärt Eros für die älteste aller Gottheiten, der es zu verdanken ist, dass überhaupt Ordnung (κόσμος) aus dem ursprünglichen Chaos entstanden sei. Insofern sei Eros der Ursprung aller anderen Götter und ihm sollte als alles durchdringendes Prinzip gehuldigt werden. Phaidros’ sehr allgemein gehaltenen Ausführungen folgt die Rede des Pausanias, der zwischen zwei Formen des Eros unterscheiden möchte: Ebenso wie sich die himmlische Aphrodite (A. urania) von der gewöhnlichen Aphrodite (A. pandemos) unterscheide, so auch der sie jeweils begleitende Eros. Der himmlische Eros verkörpere im Gegensatz zum gewöhnlichen eine reine, sexuelle Befriedigung verachtende Liebe, wie sie vorzüglich im Verhältnis von Männern und Knaben zueinander vorkomme. Diese Ausführungen dienen im wesentlichen als propädeutische Hinführung zu den Gedanken des Arztes Eryximachos, der berufsbedingt grundsätzlich physiologisch argumentiert: Für ihn ist der wahre Eros eine Frage der Harmonie von einander widerstrebenden Prinzipien. In allem gelte es das rechte Maß zu finden, um, wie in der Musik, das Auseinanderstrebende in Einklang zu bringen.

Auch dies erweist sich letztlich nur als eine Hinführung zur Erzählung des Aristophanes: Der Komödiendichter erfindet ad hoc eine Mythologie der Sexualität, die sicherlich zu den meist rezipierten Stellen der antiken Literatur gehört: Der Mensch habe in prähistorischer Zeit in drei Geschlechtern existiert, einem weiblichen, einem männlichen und einem androgynen. Um die Menschen für ihren Übermut gegen die Göttern zu bestrafen und sie daran zu hindern, den Himmel zu stürmen, habe Zeus sie geteilt. Aus ihrer vierbeinigen, runden Form habe er sie zu zweibeinigen Wesen gemacht, die nun unter der Drohung einer nochmaligen Teilung in Furcht vor den Göttern existieren. Aus dieser Teilung resultiert die Leidenschaft des Eros, da alle Menschen nun auf der Suche nach ihrem fehlenden Gegenpart sind, mit dem sie sich wieder zu vereinigen suchen. Diejenigen deren Ursprung ein männlicher Vierbeiner gewesen sei, suchten ihre Ergänzung als Mann bei Männern, so wie die Frauen von rein weiblichem Ursprung die Liebe der Frauen suchten; die Androgynen neigen verständlicher Weise zum jeweils anderen Geschlecht. Hier werden nicht nur homo- und heterosexuelle Liebe als gleichwertig und aus gleichem Ursprung stammend begriffen, sondern dies ist auch die erste Stelle der Weltliteratur an der weibliche und männliche Homosexualität als wesenhaft identisch beschrieben werden. Diese schlichte Fabel ist von erstaunlicher Klarheit und öffnet sich leicht zahlreichen deutenden Zugriffen.

Den Abschluss des rhetorischen Vorspiels bildet eine Lobrede des Agathon auf den Eros als jüngsten, schönsten und glückseligsten Gott, der sogar als König der Götter bezeichnet wird. Besonders die Charakterisierung des Eros als Jüngstem unter den Göttern, die in direktem Widerspruch zu der anfänglichen Rede des Phaidros steht, macht klar, dass die Reden in ihrer Gesamtheit einen kompletten dialektischen Zyklus durchlaufen haben und als eine durchkomponierte Einheit aufgefasst werden sollen. Es folgt als nächster Schritt die Rede des Sokrates, der Eros nicht als Gott, sondern als Dämon (δαίμων) definiert. Wie sooft bei Platon macht Sokrates dezidierte inhaltliche Aussagen nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern er zitiert, was andere gesagt haben. In diesem Fall handelt es sich um eine der wirkungsmächtigsten Frauenfiguren der Antike: die Priesterin Diotima, die angeblich den jungen Sokrates über die Mysterien des Eros belehrt habe.

Eros, so lehrt sie, ist ein Sohn von Mangel (Πενία) und Ausweg (Πόρος), von daher schon in seinem Ursprung als ein Mangelwesen bestimmt. Gerade weil es ihm an all dem mangelt, was ihm Agathon gerade als wesenhaft zugeschrieben hat, strebt er beständig danach, es zu erreichen: Er ist nicht schön, nicht vollkommen, nicht glückselig und besonders nicht unsterblich und daher auch nicht göttlich, sondern ein Zwischenwesen zwischen den sterblichen Menschen und unsterblichen Göttern. Aus dem Streben des Eros nach der Unsterblichkeit folgt auch das Bedürfnis der ihm verwandten Sterblichen nach Ruhm und ihr Verlangen, sich in ihren Kindern und Kindeskindern fortzuzeugen. Auch der platonische Aufstieg des Philosophen von der Schönheit der Körper über die Schönheit der Seelen und der Schönheit der Erkenntnis schließlich zur Erkenntnis der Idee der Schönheit selbst folgt direkt aus dem dem Eros verdankten Streben nach der Aufhebung des prinzipiellen Mangels der körperlichen, endlichen Existenz.

Sokrates wird in seinen Ausführungen unterbrochen durch die unerwartete Ankunft des volltrunkenen Alkibiades. Alkibiades tritt geschmückt mit allen Attributen des Gottes Dionysos auf, und er ist enthusiasmiert vom Wein. Seine Aufgabe ist es, die abschließende Rede des Symposions zu halten, in der durch ihn hindurch der Gott Dionysos selbst Sokrates als die ideale Verkörperung des Eros auszeichnet: Auch er ermangelt der Schönheit und Weisheit, strebt aber in jedem Moment seines Lebens nach ihnen. Er sucht Erkenntnis zu erlangen, verachtet die Genüsse und Anfechtungen der körperlichen Existenz, wie sein Verhalten in Liebesdingen und unter den harten Anforderungen des Krieges unter Beweis gestellt hat. Nach dieser Lobrede geht das Symposion in ein allgemeines Besäufnis über, in dem sich Sokrates einmal mehr als der einzige beweist, der dem Gott Dionysos nicht unterliegt. Als alle schon schwer betrunken mit Schlaf kämpfen oder ihm bereits erlegen sind, ist er noch immer munter:

Die Hauptsache sei jedoch gewesen, dass Sokrates sie genötigt habe zuzugeben, dass es die Aufgabe ein und desselben Mannes sei, sich auf die Dichtung von Komödien und Tragödien zu verstehen, und dass der professionelle Tragödiendichter auch Komödiendichter sei. Zu diesem Eingeständnis genötigt, seien sie – nicht richtig in der Lage zu folgen – eingenickt.

Diese letzte Bemerkung allein, die noch einmal das den ganzen Text bestimmende Spiel von Ernsthaftigkeit und ironischer Distanzierung, von Scherz und Philosophie, von hohler Rhetorik und tiefsinniger Allegorie zusammenfasst, ist eine der wundervollsten Stellen der antiken Literatur. Das ganze Stück ist von einer Ausgewogenheit der Komposition, von einer zugleich formalen Strenge und inhaltlichen Leichtigkeit, dass man lange suchen muss, um ihm etwas literarisch annähernd gleichrangiges an die Seite zu stellen.

978-3-15-002056-2Einen gänzlich anderen Eindruck vermittelt dagegen das »Gastmahl« Xenophons. Seine in Teilen gewollt wirkende Kunst- und Anspruchslosigkeit ist seit der Antike immer wieder als Indiz für den Realismus des Stücks gedeutet worden. Noch eine der neueren, populären Editionen der sokratischen Schriften Xenophons (Eichborn, 1998) will die Frage, ob es sich dabei um ein getreues Abbild der athenischen Gesellschaft und besonders des Sokrates handelt, zumindest unentschieden lassen. Dabei wurde bereits in der Spätantike der Nachweis geführt, dass es sich beim »Gastmahl« Xenophons um eine ebensolche Fiktion handelt wie beim platonischen. Im Gegensatz zum platonischen Text fehlt jeder Versuch einer durchgängigen Komposition, ja, literarische Härten werden der realistischen Wirkung halber bewusst im Kauf genommen.

Das Gastmahl findet in diesem Fall im Hause des reichen Kallias statt, dessen Hauptlebensinhalt es war, das väterliche Erbe durchzubringen, was ihm wohl auch mehr oder weniger gelungen zu sein scheint. Kallias befindet sich mit dem jungen Autolykos, einem erfolgreichen Sportler, in den er verliebt ist, und dessen Vater auf dem Weg von einem Pferderennen nach Hause, als er unterwegs zufällig auf Sokrates und eine Gruppe seiner Begleiter trifft und sie zu einer Feier in seinem Hause einlädt. Sokrates ziert sich ein wenig, da Kallias sonst ausgiebig Umgang mit den Sophisten pflegt, will ihn aber letztlich nicht vor den Kopf stoßen und nimmt die Einladung daher an. Dort angekommen werden erst einmal Tanz und Flötenspiel der herbeigeholten Unterhaltungskünstler rezensiert, bevor man eine allgemeine Gesprächsrunde darüber eröffnet, auf welche seiner Fähigkeiten oder Eigenschaften jeder Gast besonders stolz ist. Dabei zeichnet sich Sokrates vor allen anderen durch seine auf den ersten Blick paradoxe Antwort aus, er sei auf seine Fähigkeiten als Kuppler besonders stolz. Die Erklärungen der einzelnen Gäste zu ihren Fähigkeiten werden von den anderen durch zahlreiche teils witzige, teils spöttische Anmerkungen kommentiert. Bei den Ausführungen des Sokrates versucht sich Xenophon dann in einer Parodie der platonischen Dialoge, indem er den Sokrates in der üblichen Manier Fragen stellen lässt, die die anderen Gäste stur immer erneut nur mit der einzigen Phrase πάνυ μὲν οὖν – einer im Deutschen nicht adäquat wiederzugebenden Häufung dreier bestätigender Wörter, ungefähr wie aber selbst doch freilich – beantworten.

Nach einem weiteren Zwischenspiel der kleinen Animationstruppe versucht Xenophon, sein »Symposion« in unmittelbare Konkurrenz zum platonischen zu stellen, indem er Sokrates eine ausführliche  und gelehrte Rede zum Lobe des Gottes Eros halten lässt, die nicht nur inhaltlich, sondern auch ihrem Grundcharakter nach allem widerspricht, was wir aus den platonischen Frühschriften an Darstellungen des Sokrates kennen. Diese Rede führt zudem die gesamte Anlage der Erzählung als eine über ein geselliges Zusammensein derartig in eine Sackgasse, dass Xenophon sich nur mit einer höchst hölzernen Wendung aus ihr zu retten weiß:

Damit endete diese Gespräch. Autolykos – es war bereits Zeit für ihn – stand zu einem Spaziergang auf, und sein Vater Lyon wollte mit ihm hinausgehen, als er sich noch einmal umdrehte  und sagte: »Bei der Hera, Sokrates, du scheinst mir ein Mensch von sittlichem Adel zu sein!«

Nichts in diesem »Gastmahl« kann auch nur für einen Moment ernsthaft mit dem konkurrieren, was das platonische Vorbild bietet. Sein Witz ist vergleichsweise platt, seine Figurengestaltung mehrheitlich eindimensional, wenn nicht gar einfältig, sein Moralisieren naiv und ohne jeden Esprit. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass sich hier ein Schriftsteller deutlich überhebt, indem er versucht mit einem Autor in Konkurrenz zu treten, dem er weder literarisch noch inhaltlich das sprichwörtliche Wasser reichen kann. Über eine rein historische Ebene hinaus ist dieser Text schlicht eine Enttäuschung.

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Vergleichsweise erfrischend ist Lukians Parodie auf die Symposienliteratur: Bei ihm kommen die vortrefflichsten Vertreter diverser philosophischer Schulen bei der Hochzeit der Kinder zweier Geldadliger zusammen. Diese führenden Köpfe der Stadt sind während des Festes in der Hauptsache damit beschäftigt, einander gegenseitig schlecht zu machen und sich nach Möglichkeit die besten Stücke auf der Tafel wegzuschnappen. Das ganze endet denn auch konsequent in einer großen Schlägerei, aus der fast alle Beteiligten mit erheblichen Blessuren hervorgehen: einem der Philosophen fehlen am Ende die Nase und ein Auge, die er in der Hand vom Schlachtfeld des Symposions trägt, was einen seiner philosophischen Kollegen nur zu einer höhnischen Bemerkung mehr veranlasst. Lukians Erzähler wenigstens zieht eine nützliche Lehre aus dem Geschehen:

Ich für meinen Teil habe mir diese Moral daraus gezogen: daß es für einen, der kein Freund von bösen Händeln ist, eine gefährliche Sache sei, sich mit Philosophen dieses Schlages zu Gast bitten zu lassen. [Übers. v. Christoph Martin Wieland]

Vielleicht sollte man doch dem ein oder anderen heutigen Talkshow-Gast die Lektüre wenigstens des lukianschen »Gastmahls« ans Herz legen …

Platon: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. RUB 18435. Stuttgart: Reclam, 2006. Broschur, 215 Seiten. 5,– €.

Xenophon: Das Gastmahl. Griechisch/Deutsch. Hrsg. u. übers. von Ekkehard Stärk. RUB 2056. Stuttgart: Reclam, 1986. Broschur, 127 Seiten. 4,– €.

Lukian: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Julia Wildberger. RUB 18377. Stuttgart: Reclam, 2005. Broschur, 95 Seiten. 3,– €.

Émile Zola: Paradies der Damen

Mouret hatte nur eine einzige Leidenschaft: sich die Frau zu unterwerfen. Er wollte, daß sie in seinem Hause Herrscherin sei, er hatte ihr diesen Tempel erbaut, um sie dort in seiner Gewalt zu haben. Seine ganze Taktik bestand darin, sie mit galanten Aufmerksamkeiten zu benebeln, einen schimpflichen Handel mit ihren Begierden zu treiben, die Verwirrung ihrer Sinne auszunutzen.

zola_rougonDas »Paradies der Damen«, der elfte Teil der Rougon-Macquart, schließt inhaltlich unmittelbar an den vorherigen Band »Ein feines Haus« an: Octave Mouret, der am Ende von »Ein feines Haus« seine Ambitionen damit gekrönt hatte, dass er durch die Heirat mit Clara Hédouin in den Besitz eines Ladengeschäfts gekommen war, ist nach dem Tod seiner Frau der unumschränkte Herrscher eines wachsenden Kaufhaus-Imperiums. Das Paradies der Damen nimmt zu Beginn des Buches – der Roman spielt Mitte der 1860-er Jahre – bereits mehrere Häuser ein, und Mouret plant schon die nächste Erweiterung, für die ihm nur noch das nötige Kapital fehlt. Eine der Ebenen des Buches wird die stetige Vergrößerung des Kaufhauses sein, das am Ende nicht nur einen kompletten Häuserblock umfassen, sondern auch den traditionellen Kleinhandel im Quartier vernichtet haben wird. Mouret verkörpert für Zola den neuen, kommenden Typus von Kaufmann, der seine Gewinne durch kleine Margen bei gewaltigen Umsätzen erzielt. Zola beschreibt hier die Heraufkunft der modernen Konsumwelt.

Im Zentrum des Romans steht aber nicht Octave Mouret, sondern Denise Baudu, die sprichwörtliche Unschuld vom Lande, die mit ihren beiden jüngeren Brüdern nach dem Tod ihrer Eltern nach Paris kommt, um bei einem Onkel Unterkunft und Arbeit zu finden. Dieser Onkel Baudu ist einer jener altmodischen Kleinhändler, deren Existenz durch Mourets Kaufhaus bedroht wird. Er kann für seine Verwandten auch kaum etwas tun, so dass sich Denise genötigt sieht, eine Stelle beim Konkurrenten Mouret anzutreten. Damit bahnt Zola das erzählerische Rückgrat des Romans an, das eine durch und durch triviale Liebesgeschichte zwischen Denise und Octave bildet. Octave, seit dem Tod seiner Frau wieder zum Lebemann geworden, dessen oberstes Ziel im Leben die Ausbeutung der Frauen durch sein Kaufhaus ist, verliebt sich in Denise, von der er annimmt, sie sei wie all die anderen kleinen Verkäuferinnen seines Ladens leicht und preiswert zu haben. Natürlich bewährt sich Denisens Tugend auf das Beste, sie macht Karriere unter der halb wohlwollenden, halb leidenden Protektion ihres Chefs, wird zum guten Engel der Belegschaft und am Ende so notwendig geheiratet, wie es sich für Schnulzen dieser Art gehört.

Es ist offensichtlich, dass Zola nach den beiden gesellschaftskritischen und scharf satirischen Romanen »Nana« und »Ein feines Haus« ein Gegenstück liefern wollte, das seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Nicht nur macht Zola mit dem »Paradies der Damen« deutlich, dass er nicht fortschrittsfeindlich gesinnt ist und die Notwendigkeiten der Entwicklung anerkennt und ihre Vorzüge begrüßt, sondern er liefert auch en passant den Beweis, dass er durchaus in der Lage ist, eher traditionelle und gemäßigte Romanware zu erzeugen. Wie sooft, wenn das erzählerische Grundgerüst eines seiner Bücher etwas dünn gerät, exzelliert Zola in den Beschreibungen und bei den Nebenfiguren: Das Leben und Treiben im Kaufhaus, die verschiedenen Charaktere des Personals und der Kundschaft, die architektonische Entwicklung des Hauses und nicht zuletzt die Konkurrenten Mourets liefern ein breites Panorama des Pariser Handels jener Jahre. Dabei ist Zola an keiner Stelle blind für die von der Entwicklung hervorgerufenen Härten und Ungerechtigkeiten, doch sein letztes Bekenntnis in der Sache legt er seiner tugendhaften Heldin in den Mund:

Mein Gott, welche Qualen! Weinende Familien, auf die Straße gesetzte Greise, all die ergreifenden Dramen des Untergangs! Und sie konnte niemanden retten, und es war ihr bewußt, daß das alles gut war, daß dieser Dunghaufen von Elend nötig war für das Wohlergehen des künftigen Paris.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Eine wahre Wilde

In der Tat gingen die Herren von der Politik zur Moral über. Sie hörten zu, wie Duveyrier Einzelheiten über einen Prozeß anführte, in dem sein Verhalten große Beachtung gefunden hatte. Er sollte sogar zum Kammerpräsidenten und zum Offizier der Ehrenlegion ernannt werden. Es handelte sich um einen schon mehr als ein Jahr zurückliegenden Kindesmord. Die entmenschte Mutter, eine wahre Wilde, wie er sagte, sei zufällig eben die Schuhstepperin, seine ehemalige Mieterin, jenes blasse und trostlose große Mädchen, über dessen ungeheuren Bauch sich Herr Gourd einst entrüstete. Und noch dazu blöd! Denn ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, daß dieser Bauch sie verraten würde, habe sie sich daran gemacht, ihr Kind entzweizuschneiden, um es sodann in einer Hutschachtel zu verstauen. Natürlich habe sie den Geschworenen einen ganzen, lächerlichen Roman erzählt, von einem Verführer verlassen, Elend, Hunger, ein toller Anfall von Verzweiflung angesichts des Kleinen, das sie nicht ernähren könne: mit einem Wort das, was sie eben alle sagen. Aber es müsse ein Exempel statuiert werden. Duveyrier schätzte sich glücklich, daß er die Verhandlung mit jener packenden Klarheit zusammengefaßt habe, die zuweilen für den Spruch der Geschworenen bestimmend sei.
»Und Sie haben sie verurteilt?« fragte der Doktor.
»Zu fünf Jahren«, erwiderte der Gerichtsrat mit seiner neuen, gleichsam verschnupften und grabestiefen Stimme. »Es ist an der Zeit, dem Lotterleben, das Paris zu überschwemmen droht, einen Damm entgegenzustellen.«

Émile Zola
Ein feines Haus

Émile Zola: Ein feines Haus

»Mein Gott, Mademoiselle, ob die Bruchbude oder eine andere, sie sind sich alle gleich. Wer heutzutage die eine kennengelernt hat, der kennt auch die andere. Alles Schweine und Konsorten.«

zola_rougonDer zehnte Band der Rougon-Macquart, der im Original den Titel »Pot-Bouille« trägt, was in etwa mit »Gemüseeintopf« zu übersetzen wäre. Allerdings hätte der deutsche Titel bei weitem nicht den Reichtum an Konnotationen wie der Originaltitel, so dass bislang alle Übersetzungen eine Alternative gewählt haben. »Ein feines Haus« ist angesichts des Inhalts des Buches eine gute Wahl, besonders auch wegen seines ironischen Potenzials.

Erzählt werden die Ereignisse der Jahre 1862 und 1863 in einem Pariser Mietshaus in der Rue de Choiseul. Erzählanlass ist das Eintreffen Octave Mourets, des ältesten Sohn des Ehepaars François und Marthe Mouret aus »Die Eroberung von Plassans«, der in Marseille eine Ausbildung zum Kaufmann durchlaufen hat und nun nach Paris kommt, um die Stadt zu erobern, wie er selbst sagt. In die Rue de Choiseul kommt er, da die dort lebende Frau Campardon, die Gattin eines Architekten, eine alte Bekannte aus Plassans ist. Doch Octave, der die Verbindung zur Familiengeschichte der Rougon-Macquart bildet, ist nur eine Figur eines ganzen Ensembels, von denen die meisten im Haus leben oder dort regelmäßig aus und ein gehen. Da sind der Hausbesitzer, der zusammen mit Tochter und Schwiegersohn wohnt, zwei weitere Söhne des Hausbesitzers, von denen einer bereits verheiratet ist, die Familie eines Angestellten, dessen Frau sich dringend darum sorgt, ihre beiden heiratsfähigen Töchter an den Mann zu bringen, was ihr wenigstes mit einer gelingt: Berthe heiratet Auguste, den anderen Sohn des Hausbesitzers und Eigentümer eines Stoffgeschäfts. Zu dieser Familie gehört auch Onkel Bachelard, ein reicher Kaufmann, von dem man sich die Mitgift für die Töchter erhofft. Weiter oben im Haus leben noch eine alleinstehende Frau, der der Mann entlaufen ist, und die ärmliche Familie eines kleinen Beamten. Unter dem Dach finden sich die Dienstboten-Quartiere, die eine wichtige Gegenwelt zu den bürgerlichen Haushalten bilden.

Es ist nicht wirklich wichtig, die Handlung dieses Romans in aller Breite nachzuerzählen: Octave hat mehrere Abenteuer, nicht alle von Erfolg gekrönt, aber er wird schließlich mit der frisch verheirateten Berthe in flagranti überrascht, was einen bedeutenden Anteil der Aufregungen des Buches ausmacht. Wesentlicher als die konkrete Handlung ist der beißende satirische Ton, den Zola bei der Beschreibung des Bürgertums anschlägt. Letzten Endes erweist sich unter diesen Menschen alles als Geschäft; sollte jemand tatsächlich einmal wahre Gefühle hegen, so wird er sehr rasch auf den Boden der ökonomischen Tatsachen zurückgeholt. Ehen sind Geschäftsabschlüsse, in denen es darum geht, dass der Bräutigam eine Mitgift zu erhalten sucht, die die Familie der Braut nach Möglichkeit nicht oder wenigstens nur teilweise auszahlt. Legt Mann sich eine Geliebte zu, so wird er entweder ausgenommen wie eine Weihnachtsgans oder hintergangen oder auch beides. Selbst da, wo sexuelle Verhältnisse nicht pekuniär motiviert sind, sind sie letzten Endes nichts anderes als Ausbeutung. Gefühle sind in dieser bürgerlichen Welt nur eine Schwäche, die einen selbst im besten Falle nur lächerlich erscheinen lassen. Gleichzeitig führen diese einander betrügenden, belügenden und ausnutzenden Bürger ständig die Maximen einer christlichen Moral und hohen Sittlichkeit im Munde.

Als Pendant beschreibt Zola die Sphäre der Dienstboten als eine von Schmutz, Gemeinheit, Promiskuität und Dummheit. Hier ereignen sich wie nebenbei echte Tragödien, so die Geschichte von der Schuhstepperin, die als alleinstehende Frau im Haus lebt und der, da sie schwanger wird, gekündigt wird. Wir erfahren später, dass sie ihr Kind umgebracht hat und dass der Hausbesitzer, der sie in ihrem hochschwangeren Zustand auf die Straße gesetzt hat, nun als Richter ihrem Kindsmords-Prozess vorsitzt. Einen Höhepunkt hat der Roman sicherlich in der Beschreibung der Niederkunft von Adèle, die allein und gänzlich unerfahren unter Qualen eine Tochter gebiert, die sie nach der Geburt aus Desinteresse und Erschöpfung sterben lässt und deren Leiche sie im Morgengrauen beseitigt. Einzig die im zweiten Stockwerk des Hauses lebende Familie eines Schriftstellers bleibt von Zolas Kritik verschont, weil sie mit den übringen Bewohnern des Hauses keinen Umgang hat und daher unbeschrieben bleibt.

»Ein feines Haus« ist ein furioses satirisches Meisterwerk, voll erzählerischer Bosheit und gnadenlos genauer Beobachtungen. Ganz nebenbei werden auch die liberalen bürgerlichen Intellektuellen – in der Person eines Doktors – und die christliche Kirche in die Kritik dieser bürgerlichen Welt mit einbezogen. Der Roman macht den Eindruck, als habe sich Zola mit »Nana« freigeschrieben und schwinge sich hier zu einer neuen Stufe seines literarischen Talents auf. Der Roman stellt auch insoweit eine Zäsur dar, als mit ihm die Mitte des Zyklus der Rougon-Macquart erreicht ist. Es ist nur passend, dass Zola gerade hier seine Überzeugung von einem Bürgetum, das dem Untergang geweiht ist, illustriert. Einer der besten Romane des Zyklus und sicherlich zu Unrecht weniger bekannt als »Nana« oder »Germinal«.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Nana

zola_rougonNach dem doch etwas schwächelnden achten Band der Rougon-Macquart trumpft Zola im neunten Band auf: Mit »Nana« liefert er einen ersten Höhepunkt des Zyklus, der nicht nur als Skandalbuch bereits bei der Auslieferung der ersten Auflage komplett verkauft war, sondern sich bis heute als einer der bekanntesten Romane Zolas durchgesetzt hat. Die Erzählung schließt direkt an »Der Totschläger« an: Nana ist die Tochter des Ehepaars Coupeau, deren Niedergang dieser siebte Band des Zyklus thematisiert hatte. Die Handlung setzt im Jahr 1867 ein; Nana ist – so behauptet es wenigstens der Roman – achtzehn Jahre alt (gemäß der inneren Chronologie der Romane dürfte sie allerdings erst 15 sein, da sie 1852 geboren wurde) und feiert einen Skandalerfolg auf der Bühne des Théâtre des Variétés in einer etwas wirren Parodie auf Offenbachs »Orfeus in der Unterwelt«, allerdings nicht aufgrund ihrer schauspielerischen oder sängerischen Begabung, sondern weil sie als Venus beinahe nackt auf der Bühne erscheint.

Den aus diesem Skandal folgenden Ruhm nutzt sie allerdings vorerst nur für kurze Zeit, denn sie verliebt sich in einen Kollegen, für den sie zeitweilig alle anderen Männer ignoriert und mit dem sie eine gemeinsame Wohnung bezieht. Nachdem allerdings ihr Geld aufgebraucht ist, erweist sich dieser Liebhaber rasch als tyrannischer und meistens schlecht gelaunter Patron, der Nana zudem auch noch betrügt. Als von ihr finanziell nichts mehr weiter zu erwarten ist, setzt er sie von jetzt auf gleich vor die Tür.

Nana kehrt noch einmal kurz und erfolglos auf die Bühne zurück, wo sie sich vergeblich als ernsthafte Schauspielerin in der Rolle der Dame von Welt zu etablieren versucht, vom Publikum aber schlicht ausgelacht wird. Allerdings gelingt es ihr zugleich, sich einen neuen, finanzkräftigen Verehrer zu sichern: Graf Muffat, ein bislang tugendhafter und gut katholischer Spießer verfällt Nana komplett:

Jeder Kampf in ihm hatte aufgehört. Eine Woge von neuem Leben ertränkte seine Vorstellungen und seine Glaubenssätze von vierzig Jahren. Während er die Boulevards entlangging, dröhnte ihm beim Rollen der letzten Wagen Nanas Name in den Ohren, ließen die Gaslampen nackte Stellen, die geschmeidigen Arme und die weißen Schultern Nanas, vor seinen Augen tanzen; und er fühlte, daß er ihr verfallen war; er hätte alles verleugnet, alles verkauft, um sie noch an diesem Abend eine Stunde lang zu besitzen. Seine Jugend war es, die endlich erwachte, eine gierige jünglinghafte Pubertät, die plötzlich in seiner Kälte eines Katholiken und in seiner Würde eines reifen Mannes brannte.

Mit dem Vermögen des Grafen und einiger anderer Männer tritt Nana nun ihren gesellschaftlichen Siegeszug an: Dem Stand nach immer noch eine Prostituierte wird sie innerhalb weniger Monate durch eine maßlose Verschwendung zum Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft. Als schließlich auch noch ein auf ihren Namen getauftes Pferd unerwartet den Großen Preis von Paris gewinnt, steigt sie zu einer bis dahin unbekannten Prominenz auf. Sie betrügt nun den Grafen in aller Offenheit, nimmt ihn und seine Nebenbuhler systematisch aus, wobei ihr das Geld von einem Augenblick zum anderen zwischen den Fingern verrinnt – so ist sie in einer Sequenz nicht in der Lage, einem Bäcker seine Rechnung über 133 Francs zu bezahlen, obwohl sie gleichzeitig zehntausende für ein neues Bett ausgibt – und treibt ihr Spiel aus Gier und Langeweile am Ende soweit, dass sie nicht nur mehrere der ihr zu Füßen liegenden Herren komplett ruiniert hat, sondern von dem ihr hörigen Grafen auch noch beim Geschlechtsakt mit seinem Schwiegervater, einem musterhaften Adeligen alter Schule, überrascht wird.

Gleich jenen antiken Ungeheuern, deren gefürchteter Bereich mit Gebeinen bedeckt war, setzte sie die Füße auf Schädel; und Katastrophen umgaben sie: der wilde Flammentod Vandeuvres, die Schwermut Foucarmonts, der in den Meeren Chinas umherirrte, der völlige Bankrott Steiners, der gezwungen war, als ehrbarer Mensch zu leben, der befriedigte Schwachsinn La Faloises, der tragische Zusammenbruch der Muffats und der weiße Leichnam Georges, an dem Philippe, der gestern aus dem Gefängnis gekommen war, Wache hielt. Ihr Zerstörungs- und Todeswerk war vollbracht; die vom Unrat der Vorstädte aufgeflogene Fliege, die den Gärungsstoff der gesellschaftlichen Fäulnis mit sich führte, hatte alle diese Männer durch ihre bloße Berührung vergiftet. Das war gut, das war gerecht; sie hatte ihre Welt, die Bettler und die Verlassenen, gerächt. Und während ihr Geschlecht in einem Glorienschein emporstieg und gleich einer aufgehenden Sonne, die die Stätte eines Blutbades bescheint, über seinen hingestreckten Opfern strahlte, bewahrte sie, stets gutmütig, ihre Ahnungslosigkeit eines prächtigen Tieres, das nichts von dem weiß, was es angerichtet hat. Sie blieb dick, sie blieb fett, bei guter Gesundheit und strahlender Heiterkeit. Das alles zählte nicht mehr, ihr Haus erschien ihr blöde, zu klein und voller Möbel, die sie behinderten. Eine Erbärmlichkeit, gerade gut genug für den Anfang. So träumte sie denn auch von etwas Besserem; und sie brach in großer Toilette auf, um Satin ein letztes Mal zu küssen, sauber, kräftig, ganz frisch aussehend, als sei sie völlig unverbraucht.

Doch ist dies der letzte Höhepunkt vor dem Untergang. Nana verkauft all ihren Besitz und verschwindet aus Paris, nur um im Juli 1870, am Fuß des deutsch-französischen Krieges zurückzukehren, sich bei ihrem in Paris zurückgebliebenen Kind mit Blattern anzustecken und binnen Kurzem das Zeitliche zu segnen. Mit ihrem Tod geht auch das Zweite Kaiserreich seinem Ende entgegen: Während Nana in einem Hotelzimmer umgeben von ihren alten Kolleginnen mit dem Tod kämpft, erschallen unten auf der Straße die Rufe »Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Ohne jede Einschränkung ist dieser bitterböse Gesellschaftsroman ein Meisterstück zu nennen. Er verfügt trotz seiner beinahe 500 Seiten über ein furioses Tempo, ist von einer brillanten Konstruktion und einer bis dahin wohl unerreichten Wahrhaftigkeit in der Darstellung der gutbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Es ist daher kein Wunder, dass selbst Gustave Flaubert, der alles andere als leicht zu beeindrucken war, diesen Roman in den höchsten Tönen gelobt hat. Oder um es mit Lichtenberg zu sagen: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.