Der Große der Kleinen

LK 07Seit mehr als 50 Jahren liefert Reclam, Stuttgart, jedes Jahr seinen kleinen Literaturkalender, der auf etwas mehr als 100 Seiten die literarischen Geburts- und Gedenktage des kommenden Jahres versammelt und zu einer Auswahl der wichtigsten Jubiläen kurze Autorenporträts und Textausschnitte liefert: Eine Einstimmung auf das kommende Lesejahr und eine angenehme Anregung zu der einen oder anderen (Wieder-)Lektüre. Und ein literarisches Jubiläums-Rätsel gibt es obendrein.

Natürlich steht im nächsten Jahr Joseph von Eichendorff auf dem Programm, dessen 150. Todestages wir gedenken. Als einer der langlebigsten Romantiker hatte er zu Ende seines Lebens seine Zeit derartig überlebt, dass ihn einige Lexika bereits voreilig für tot erklärt hatten. 2007 wäre eine gute Gelegenheit, wieder einmal in einer Gedichtsammlung Eichendorffs zu blättern oder die lang zurückliegende Schullektüre des »Taugenichts« durch die des Romans »Dichter und ihre Gesellen« zu ergänzen.

Bei den neueren Autoren wird ausführlich auf Martin Walsers 80. Geburtstag hingewiesen, und wir erfahren, dass Peter Handke, in den wilden Jahren um 68 herum als revolutionär-konservativ- individualistisches Alternativprogramm gestartet, endlich das Rentenalter erreicht, von dem sein Werk seit vielen Jahren Zeugnis ablegt. Aber auch an den ersten Todestag von Robert Gernhardt, den wir gern noch ein paar Jahre mehr bei uns gehabt hätten, wird erinnert.

Unter den nicht ganz so populären Autoren fällt der 200. Geburtstag von Friedrich Theodor Vischer ins Gewicht: Der schwäbische Philosophie-Professor hatte neben der Arbeit an seiner umfangreichen »Aesthetik« noch Zeit für mancherlei gefunden: Umfangreiche Vorlesungen zu Shakespeare, den autobiographisch unterfütterten Roman »Auch Einer«, in dem er »die Tücke des Objekts« erfunden hat, und der einzigen, wirklich gelungenen Parodie des Goetheschen Faust: »Faust, der Tragödie dritter Teil. Treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky«, in der er sich nicht nur über den Goetheschen Text, sondern auch über die Goethe-Forscher seiner Zeit lustig macht. Vielleicht entschließt sich ja im Jubiläums-Jahr ein Verlag, einmal wieder Vischers »Kritische Gänge« aufzulegen.

Man sieht: Der kleine Literaturkalender von Reclam liefert so manche Anregung und Gelegenheit zum Schmökern. Man kann ihn ein Jahr lang in der Tasche tragen und immer mal wieder einen Blick hineinwerfen und einige Seiten lesen. Ein kleines Buch fürs ganze Jahr, und das für nur 2,60 €.

Reclams Literatur Kalender 2007 (53. Jahrgang). RUB 18436. Broschiert, 128 Seiten. 2,60 €.

Capote am Wendepunkt

capoteWenn sich ein Film eines durch und durch literarischen Themas annimmt, so soll er auch in einem Buch-Blog besprochen werden. Bennett Miller hat im Jahr 2005 mit »Capote« einen Welterfolg gedreht, dessen überragender Hauptdarsteller 2006 nicht nur den Golden Globe, sondern auch den Oscar für sein außergewöhnliches Porträt Truman Capotes gewonnen hat. Der Film liegt jetzt auch in Deutschland als DVD vor.

Der Film konzentriert sich auf eine Phase im Leben Capotes, die letztendlich nicht nur seinen Weltruhm begründet hat, sondern auch der Anfgng von seinem Ende als Autor war. Die Geschichte beginnt im November 1959 mit der Ermordung einer vierköpfigen Familie, der Clutters, in Holcomb, Kansas. Die Täter hatten im Haus eine große Summe von Geld vermutet und wollten eigentlich nur einen Raubüberfall vornehmen, der aber eine für die Opfer tödliche Wendung nimmt. Capote, der als Autor von »Frühstück bei Tiffany« schon einen gewissen Ruhm genießt, stößt in der »New York Times« auf eine Meldung dieses ungewöhnlich grausamen Verbrechens, dessen Täter zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt sind. Er entschließt sich, für das Magazin »The New Yorker« als Reporter nach Kansas zu fahren. Er wird begleitet von seiner langjährigen Bekannten Harper Lee, die zu dieser Zeit für ihr Buch »Wer die Nachtigall stört« einen Verleger zu finden.

Die Begegnung Capotes mit den Menschen von Holcomb, den den Fall untersuchenden Beamten und schließlich auch den Tätern läßt in ihm die Idee zu einem neuen Buch entstehen, einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion, die das Verbrechen in seiner Vorgeschichte, seiner Durchführung und seinen Folgen sowohl für die Freunde und Nachbarn der Opfer als auch für die Täter darstellt. Das Buch wird nicht nur Truman Capote zu einem weltberühmten und reichen Autor machen, die Erfahrungen, die Capote in den sechs Jahren der Auseinandersetzung mit dem Verbrechen und den Verbrechern macht, werden ihn so verändern, dass er in eine ernste Lebenskrise stürzte, von der er sich nie wieder wirklich erholen sollte.

»Capote« ist einer der Glücksfälle im Filmgeschäft, bei dem ein exzellentes Drehbuch (von Dan Futterman) auf einen inspirierten Regisseur trifft und in den Hauptrollen hervorragend besetzt werden kann. Überragend Philip Seymour Hoffman, der nicht nur das auffällige Gebaren Truman Capotes – das für deutsche Zuschauer sicherlich gewöhnungsbedürftiger ist als für die Amerikaner, die in vielen Fällen Truman Capote noch von seinen zahlreichen Fernsehauftritten in Erinnerung haben dürften – in unglaublich genauer Manier reproduziert, sondern der auch verständlich werden lässt, was an diesem Menschen so faszinierend war und weshalb so viele Menschen sich ihm anvertraut haben. Capote muss ein wirklich außergewöhnliches Individuum gewesen sein, und Hoffman gelingt es, diese Ausnahmeerscheinung lebendig werden zu lassen. Dabei liegt dem Film jede Glorifizierung seines Protagonisten fern: Capote wird auch als berechnender, eigennütziger und feiger Nutznießer des Vertrauens eines der Mörder vorgeführt; dass er sich selbst diese Rolle später sehr übel nehmen wird, deutet der Film mehr an, als er es vorführt. Die persönliche Katastrophe, die für Capote dem Ruhm folgte, bleibt im Film ausgeblendet.

Auch die anderen Rollen sind hervorragend besetzt: Catherine Keener als Nelle Harper Lee, Chris Cooper als Alvin Dewey, einer der Beamten, die den Fall untersucht haben, und nicht zuletzt Clifton Collins jr. als Perry Smith, einer der beiden Mörder, um nur einige wichtige Rollen des Films zu nennen. Ein solch harmonisches Ensemble auch bis in kleinere Rollen hinein, ist tatsächlich selten. Ein ruhiger und unaufgeregter Film, der unter die Haut geht; ein beeindruckendes und schonungsloses Autorenporträt. Wenn irgend möglich sollte man den Film im englischen Original anschauen, um die Leistung Hoffmans möglichst unverfälscht genießen zu können. Kino für Leser at it’s best!

Capote. Kanada, 2005. Sony Pictures Classic. DVD. Länge ca. 110 Minuten. Sprachen: Englisch und Deutsch. Extras: Zwei Kommentar-Tracks (Regisseur und Hauptdarsteller, Regisseur und Kameramann), eine Dokumentation und ein mehrteiliges »Making of«. Ca. 18,– €.

Der elektronische Goethe

Goethe_DigibibDie Digitale Bibliothek hatte schon sehr früh zwei umfangreiche Textsammlungen zu Johann Wolfgang von Goethe herausgebracht: Bd. 4 enthielt eine umfangreiche Werkauswahl und Bd. 10 versammelte die Briefe und Tagebücher in der Fassung nach der sogenannten Sophienausgabe sowie eine frühe Fassung der Sammlung der Gespräche Goethes durch Woldemar von Biedermann. Nun bringt die Digitale Bibliothek einen Sonderband, der die beiden Bände zusammenfasst und so die umfassendste elektronische Quelle zu Goethe darstellt.

Da Goethe ohne Frage nicht nur für das 19., sondern auch noch für das 20. Jahrhundert einer der einflussreichsten deutschsprachigen Schriftsteller ist, bedarf eine elektronische Fassung seiner umfangreichen Schriften kaum einer Rechtfertigung. Was ist Goethe nicht alles zu Recht und zu Unrecht zugeschreiben worden, wer hat sich in den vergangenen 250 Jahren nicht alles auf Goethe berufen. Das Internet ist eine neue, reiche Quelle sogenannter zugeschriebener Zitate für die keinerlei Beleg angeführt werden und in vielen Fällen auch nicht anzuführen sind. Eine elektronische Ausgabe in dem Ufang, wie die Digitale Bibliothek jetzt anbietet, ist da eine solide Grundlage zur Überprüfung und Recherche.

Sie wird aber auch für den einen oder die andere Leser/in eine sinnvolle Ergänzung zur gedruckten Werkauswahl in seinem bzw. ihrem Bücherschrank sein. Denn wer hat schon vor, die Briefe Goethes in ihrer Gesamtheit zu lesen? Da braucht man eine durchsuchbare Quelle, in der man effizient nach Stichwörtern suchen und die Fundstellen vergleichen kann. Das alles bietet die seit vielen Jahren gut ausgereifte Software der Digitalen Bibliothek. Ähnliches gilt natürlich auch für die Sammlung der Gespräche, die zwar in der reproduzierten Sammlung von 1889 ff. nicht auf dem neusten Stand ist, für die allermeisten Belange auber vollständig ausreichen dürfte.

Grundlage der Werkauswahl sind in der Hauptsache die etwas ältliche aber recht umfangreiche Berliner Ausgabe der Werke Goethes und die immer populäre Hamburger Ausgabe. Auch dies ist nicht ideal, für praktische Zwecke völlig ausreichend. Die Briefe und Tagebücher werden – wie bereits erwähnt – nach der grundlegenden Sophien-Ausgabe präsentiert.

Abgerundet wird die umfangreiche Zusammenstellung durch den Text der kurzen Goethe-Biographie von Anja Höfer – gedruckt in der Reihe »dtv-portrait« – und dem sehr nützlichen »Who’s who bei Goethe« von Michael Lösch (ebenfalls im Druck bei dtv), einem ausführlichen Figurenlexikon zu den Werken Goethes. Insgesamt umfasst die CD-ROM mehr als 46.000 Bildschirmseiten, was in etwa 23.000 Buchseiten entsprechen dürfte. Der Preis von 19,90 € ist bei einem solchen Angebot kaum der Rede wert.

Johann Wolfgang von Goethe – Leben und Werk. Digitale Bibliothek Sonderband 30. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) – MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 19,90 €.

Software für Mac- und Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Katharina Hacker: Die Habenichtse

habenichtseNun waren die Preisrichter mit ihrem Urteil doch rascher fertig als ich mit meiner Lektüre. Katharina Hackers Roman »Die Habenichtse« ist mit dem Deutschen Buchpreis 2006 ausgezeichnet worden. Die Auswahl der Shortlist im Jahr 2005 war von erstaunlicher Qualität gewesen und das Buch, das den Preis schließlich erhielt, Arno Geigers »Es geht uns gut«, war eine durchweg positive Überraschung. Das ließ für dieses Jahr viel hoffen.

»Die Habenichtse« beginnt mit drei Erzählsträngen, die sich nach etwas mehr als einem Drittel des Buches miteinander vereinen:

1. Die Geschichte von Jakob und Isabelle beginnt in Berlin, wo sich die beiden nach vielen Jahren wieder begegnen. Sie kennen einander aus ihrer Studienzeit in Freiburg, haben damals eine einzige Nacht miteinander verbracht, die Jakob offenbar so einprägsam war, dass er – inzwischen Jurist in Berlin – für viele Jahre darauf wartet, ob ihm das Schicksal Isabelle noch einmal über den Weg führt. Isabelle arbeitet als Graphikerin in Berlin für eine kleine Werbeagentur. (Wer erstellt einmal eine Bibliografie all jener Romanen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, in denen wenigstens eine der Hauptfiguren in der Werbung arbeitet?) Und sie begegnen einander auf einer Feier am Abend jenes unvergesslichen 11. September 2001. Jakob und Isabelle heiraten rasch, und Jakob geht im Auftrag seiner Berliner Firma nach London, in Vertretung eines Kollegen, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen ist – auch dies schicksalhaft, wie Jakob meint, denn eigentlich wäre er an jenem Tag im WTC gewesen, hätte er nicht, um Isabelle sehen zu können, seine Reise vorverlegt.

2. Jim ist ein Londoner Kleinkrimineller und Dealer, der mit Leidenschaft an Mae hängt, einer labilen und drogensüchtigen jungen Frau, die früh aus dem Roman verschwindet, nachdem Jim einmal mehr seine Gewalttätigkeit nicht unter Kontrolle hatte. Jim sucht nach Mae, versucht dem Einfluss seines Bosses zu entkommen und nistet sich in der Wohnung eines entfernten Bekannten ein, der sich für längere Zeit nicht in London aufhält. Jims Geschichte steckt voller Klischees, sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher, und sein Milieu wird ungefähr so geschildert, wie sich ein deutscher »Tatort«-Zuschauer die Verbrecherwelt vorstellen mag. Jim bleibt als Figur mager und ohne rechten Hintergrund; wir verstehen nur, dass er ein Umhergetriebener ist, aber wir verstehen nicht, warum. Eine schlimme Kindheit wird angedeutet, das frühe Ausreißen von Zuhause, das diesen Mann »hart« gemacht hat etc. Aber das alles bleibt vage und eher entworfen als erzählt.

3. Sara ist ein kleinwüchsiges und vielleicht auch geistig zurückgebliebenes kleines Mädchen, das mit ihrem älteren Bruder Dave und ihren Eltern in derselben Straße Londons wohnt, in die auch Jakob und Isabelle einziehen werden und in der Jim seine Fluchtwohnung hat. Sara lebt in einem zerrütteten Elterhaus: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter gänzlich willenlos, der Bruder die einzige Person, die sich um Sara kümmert. Die Eltern halten Sara im Haus, lassen sie nicht in die Schule gehen, ob aus Scham, aus Bequemlichkeit oder aus Gedankenlosigkeit wird letztendlich nicht klar, weil Saras Eltern recht schemenhaft bleiben. Sara wird von ihrem Vater geschlagen, eine Stelle des Romans deutet auch einen sexuellen Missbrauch an, sie muss oft mehrere Tage hungern, wenn beide Eltern aus dem Haus sind und auch ihr Bruder den häuslichen Missständen zu entfliehen versucht.

Alle diese Personen und einige Neben- und Randfiguren werden in den beiden hinteren Dritteln des Buches miteinander in Beziehung gesetzt. Genauso aseptisch, wie das klingt, ist es auch. Der größte Mangel des Buches scheint mir zu sein, dass es sich bei allen Figuren um Gedankenkonstrukte, um Platzhalter in einer Installation der Autorin handelt: Keine der Figuren hat Geist, keine der Figuren hat Leben, selbst ihre inneren Widersprüche sind konstruiert und erzeugen keine Spannung. Jim steht für die Gewalt, Isabelle für die Sexualität, Jakob für Weltflucht und Konfliktscheu, Sara für das geschundene, unschuldige Opfer usw. usf. Katahrina Hacker schiebt diese Figuren auf dem Schachbrett ihres Romans 300 Seiten lang herum, ohne dass dabei irgendetwas Relevantes oder auch nur Überraschendes herauskommen würde. Und tatsächlich spielt sie mit all dem bloß: Nichts hat tatsächlich ernsthafte Konsequenzen in diesem Roman – zwei Katzen sterben, das ist aber schon das Ärgste, obwohl die Allgegenwart von Gewalt immer wieder behauptet wird – und von der Gnadenlosigkeit der Zerstörung eines Shakespeares, dessen »King Lear« Katharina Hacker kokett zitiert, hat der Roman auch nicht einen Schimmer. Alles bleibt papieren und – und das ist das Schlimmste überhaupt – langweilig. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch über weite Strecken gänzlich humorfrei zu sein scheint.

Nur hier und da blitzt einmal auf, dass das auch ein spannendes Buch hätte werden können: Wenn Jakob sich etwa im Auftrag eines Klienten mit Wolf-Heinrich Graf von Helldorf beschäftigt, bekommt man plötzlich eine Seite lang einen Eindruck davon, was die Autorin alles hätte erzählen können. Hier und da sind Wirklichkeitsdetails genau recherchiert und punktgenau getroffen. Aber das geht rasch vorbei und wieder zieht Katharina Hacker seitenlang ihre Figuren übers Brett. Ich jedenfalls habe mich herzlich gelangweilt bei der Lektüre.

Katharina Hacker: Die Habenichtse. Frankfurt: Suhrkamp, 2006. Pappband, 309 Seiten. 17,80 €.

Das witzigste Buch der Welt

shandy

Anlässlich der stark beworbenen Neuausgabe der Übersetzung von Michael Walter beim Eichborn Verlag möchte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, auf eines der witzigsten Bücher der Weltliteratur hinzuweisen: Laurence Sternes »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman«. Es gibt nicht viele Bücher, die man in seinem Leben immer und immer wieder lesen kann, ohne dass sie ihren Reiz und Witz irgendwann einmal verlieren; der »Tristram Shandy« gehört sicherlich dazu.

Denn ungewöhnlich ist das Buch in beinahe jeder Hisicht. Aber langsam! Fangen wir mit dem an, was sich ohne zu große Verwirrung zu stiften, sagen lässt: »Tristram Shandy« ist zwischen 1759 und 1767 in neun Bänden in London erschienen. Sein Autor, Laurence Sterne (1713–1768), entstammte einer englischen Offiziersfamilie, war in Irland geboren worden, und zu dem Zeitpunkt, als er seinen Roman schrieb, seit 20 Jahren Geistlicher. Die ersten beiden Bände des »Tristram Shandy« machten den Autor über Nacht berühmt und zu einem gefeierten und gesuchten Gast der Londoner Salons. Auch in Paris, das er Ende 1762 auf dem Weg nach Südfrankreich besuchte, wurde er triumphal empfangen und gefeiert. Er war einer der Literaturstars seiner Zeit. Neben dem »Tristram Shandy« existiert noch eine Sammlung von Predigten und im Todesjahr 1768 erschien »A Sentimental Journey through France and Italy« in zwei Bänden. Damit ist Sternes Werk auch schon so gut wie ausgeschöpft.

Der Ich-Erzähler und Held des »Tristram Shandy« ist wahrscheinlich einer der ungewöhnlichsten, sicherlich aber der unordentlichste Erzähler der Weltliteratur. Von jedem Gedanken, jedem Einfall lässt er sich ablenken, immer fällt ihm noch etwas ein, das er noch kurz erzählen muss, bevor er mit seiner Geschichte weiterkommen kann, wobei er in der Abschweifung gleich die nächste Abschweifung beginnt und so weiter und so fort. Den Anfang seiner Lebensgeschichte macht er mit einem Bericht, beinahe schon einer Klage über seine eigene Zeugung:

Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide – denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet – hübsch bedacht hätten, was sie vornahmen, als sie mich zeugten! Hätten sie geziemend erwogen, wieviel von dem abhinge, was sie damals taten – daß es also nicht nur die Erzeugung eines vernünftigen Wesens galt, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und ausgiebige Wärme des Körpers, daß vielleicht des Menschen Geist und seine ganze Gemütsbeschaffenheit, ja sogar – denn was wußten sie vom Gegenteile? – das Wohl und Geschick seines ganzen Hauses durch ihren damals vorherrschenden Seelen- und Körperzustand bestimmt werden konnte; – wenn sie, wie gesagt, das alles getreulich erwogen und überdacht hätten und dementsprechendvorgegangenwären, sowürde ich nach meiner Uberzeugung eine ganz andere Figur in der Welt gemacht haben als die, in welcher mich fortan der Leser dieses Buches erblicken wird.

(Übers. v. Rudolf Kassner)

Und nachdem er im Folgenden die Umstände seiner Zeugung mit einiger Sorgfalt »ab ovo« – um wie Tristram Shandy selbst mit Horaz zu sprechen – dargelegt hat, braucht der Erzähler immerhin bis ins dritte Buch hinein, um überhaupt bis zu seiner Geburt und zugleich Nottaufe vorzudringen. Im Weiteren erfahren wir, warum nach Auffassung der Kirche Kinder nicht mit ihren Müttern verwandt sind, was für eine geheimnisvolle Bewandnis es mit Nasen und Namen hat, wie und – im doppelten Sinne – wo Tristrams Onkel Toby in Flandern bei der Belagerung von Namur verletzt wurde und was diese Verletzung für Folgen zeitigte, wir kommen an der berühmten schwarzen und der noch berühmteren bunten Seite des Buches vorüber – jene ein Symbol der Trauer, diese ein Symbol der Buntscheckigkeit des Buches und des Lebens –, vermissen ein ganz und gar aus dem Buch herausgerissenes Kapitel, werden vom Erzähler zum Kapitelanfang zurückgeschickt, weil wir beim Lesen nicht gut genug aufgepasst haben, und was der Leseabenteuer mehr sind. »Tristram Shandy« ist eine solch übersprudelnde Quelle von Einfällen, Pointen, nichtsnutzigen Verweisen, falschen und richtigen Zitaten, philosophischen Weis- und Dummheiten, dass es eine reine Freude ist. In diesem Buch kann man versinken, die Welt vergesssen und sie wiederfinden. In jeglicher Hinsicht ein Zauberbuch.

Das Buch war im 18. Jahrhundert ein solch grandioser Erfolg, dass es nicht nur rasch in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt wurde, sondern dass es eine ganze Reihe von Nachahmern gefunden hat: Die Sterneiana sind auch in Deutschland eine wichtige Literaturtradition, die sich bis ins zwanzigste Jahrhundert fortgesetzt hat; aber davon müssen wir ein andermal erzählen.

Die nun bei Eichborn wieder aufgelegte Übersetzung Michael Walters ist die späteste und modernste Übersetzung des Textes. Die erste deutsche Übersetzung stammt von dem bedeutenden Verleger und Übersetzer Johann Christoph Bode und erschien 1774. Später ist das Werk noch des öfteren übersetzt worden; die Eindeutschungen von Seubert (1880) und Kassner (1937) dürften auch heute noch bedeutsame Alternativen darstellen. Dass sich schließlich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer der besten deutschen Übersetzer – Michael Walter – daran gemacht hat, den »Tristram Shandy« neu ins Deutsche zu übertragen, hatte seine erste Ursache in einem Aufsatz Arno Schmidts. Der hatte in »Alas, poor Yorick!« (1963) nicht nur eine der damals noch im Druck befindlichen Überarbeitungen der Bodeschen Übersetzung auf gut irokesisch massakriert, sondern verstärkt auch auf den seiner Meinung nach weitgehend ignorierten sexuellen Grundbass des Buches hingewiesen.

Michael Walter machte es sich nun zur Aufgabe, eine Übersetzung zu liefern, die gerade diesen Basso continuo sexueller Anspielungen und Wortspiele deutschen Lesern sichtbar machen sollte. Dabei ist ihm dieser Klang zum Teil recht deutlich geraten, hier und da sicher auch deutlicher als im Original. Aber wenigstens eines kann der deutsche Leser der Walterschen Übersetzung nur mit Mühe: Ignorieren, dass es sich bei »Tristram Shandy« auch um ein Buch des sexuellen Witzes handelt.

Ohne jede Frage ist die Waltersche Eindeutschung grandios und virtuos geraten. Aber vielleicht ist es doch besser, das Buch zuerst einmal – mehrmals lesen wird man es ohnehin, wenn man es denn einmal mit Genuss gelesen hat – in der Übersetzung von Rudolf Kassner zu lesen (Diogenes Taschenbuch 20950). Auch Kassner hat die sexuelle Ebene des Textes durchaus wahrgenommen und mitübersetzt, ist aber deutlich dezenter als Walter. Und so mag es der einen oder dem anderen eher gelingen, auch auf die anderen Töne zu hören, die bei Walter manchmal drohen im allzureichen Glockenklang unterzugehen. Aber ganz gleich, welchen Zugang man auch wählt, für »Tristram Shandy« gilt der alte Satz Lichtenbergs: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Laurence Sterne: Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys. Aus dem Englischen von Rudolf Kassner. Zürich: Diogenes, 1982. (detebe-Klassiker 20950). Broschiert, 810 Seiten. 14,90 €.

Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Ins Deutsche übertr. u. hrsg. v. Michael Walter. Neuausgabe Frankfurt: Eichborn, 2006. 852 Seiten. 39,90 €.

No monkey business

dewaalFrans de Waal schreibt seit 15 Jahren Bestseller über Menschenaffen. Das liegt in erste Linie an seinem Talent, komplexe Zusammenhänge in einer klaren und auch dem Laien verständlichen Art und Weise darzustellen. Wie abstrakt auch immer sein Thema zu sein scheint, ihm gelingt es scheinbar mühelos, es mit einer passenden Geschichte aus seinem lebenslangen Umgang mit Primaten und anderen Affen zu illustrieren, ohne die Problemlage zu simplifizieren. Frans de Waal ist ein Erzähler, der in jedem Fall seiner Erfahrung mehr vertraut als jeder noch so ausgefeilten Theorie. In seinem neuen Buch stehen gleich drei Primatenarten im Zentrum seines Interesses: Schimpanse, Bonobo und Mensch.

In »Der Affe in uns« (»Our Inner Ape«) beschäftigt sich de Waal weit stärker als in den vorangegangenen Büchern (»Wilde Diplomaten«, »Der gute Affe«, »Der Affe und der Sushi-Meister«) außer mit Schimpansen und Bonobos auch mit dem Menschen. Ausgehend von den Versuchen anderer Primatologen und Verhaltensforscher, den Menschen durch Vergleiche mit seinen nächsten evolutionären Verwandten zu begreifen und einzuordnen, entwickelt »Der Affe in uns« eine Position, die die Menschen in einer doppelten Perspektive in das Kontinuum der Primaten einzugliedern versucht. Auch de Waal glaubt, dass der Mensch in vielen seiner wesentlichen Eigenschaften eine tiefe Verwandtschaft mit Schimpansen oder Bonobos aufweist, aber er betont eben zugleich, in welchen Fällen, auf welche Weise und unter welchen Umständen der Mensch die Verhaltensweisen unserer gemeinsamen Vorfahren modifiziert und ihre Grenzen im Guten wie im Bösen überschritten hat.

Gab es etwa nach der Entdeckung der Tatsache, dass Schimpansen untereinander Krieg führen und Mitglieder anderer Schimpansengruppen absichtlich töten, den Versuch, den Menschen als ins Extrem pervertierten Raubprimaten zu begreifen, so weist de Waal darauf hin, dass wir nicht nur die Aggressionen mit den Schimpansen teilen, sondern auch das Vermögen, Frieden zu stiften und Konflikte zu vermeiden. Es gelingt ihm mit wenigen, prägnanten Beispielen, Schimpansen und Bonobos mit ihren unterschiedlichen sozialen Gefügen darzustellen und zu zeigen, dass der Mensch seine beiden nächsten Verwandten im Tierreich in beiderlei Hinsicht – Aggression gegen die eigene Art und Fähigkeit, Frieden zu halten – übertrifft: Ihm gelingt es sowohl, sich seine Artgenossen soweit zu entfremden, dass er gewissenlos Genozid betreibt, als auch ist er in der Lage, über lange Perioden in und mit großen Gruppen Frieden zu wahren und Konflikte auszugleichen, anstatt sie eskalieren zu lassen.

Der Leser lernt während der Lektüre Schimpansen und Bonobos als erstaunlich sensible, einsichtsvolle und sozial hoch kompetente Lebewesen kennen. Es entsteht der Eindruck, dass die soziale Komplexität innerhalb einer Gruppe von Primaten, ihr Verständnis für die Zusammenhänge ihrer Gesellschaft und ihre Fähigkeit innerhalb dieser Zusammenhänge die Interessen des Individuums und der Gruppe ins Gleichgewicht zu bringen, mit denen in der menschlichen Gesellschaft durchaus vergleichbar sind. Sicherlich sind die Ausdrucksformen andere, aber wir haben keinerlei Schwierigkeiten, die grundlegenden gesellschaftlichen Bedingungen einer Primatengesellschaft zu verstehen, eben weil wir sie in unseren eigenen Lebenszusammenhängen nur zu gut wiederkennen.

Sicherlich ist auch de Waals Blick auf den Menschen verkürzt, aber das ist dem Autor durchaus bewusst. Er versucht auch nicht, ein Buch über den Menschen als Kulturwesen schlechthin zu schreiben, sondern er blickt auf die Menschen und ihre Gesellschaft mit dem geschulten Blick eines Primatologen. Und er erkennt vieles wieder – und wir mit ihm. Natürlich gibt es im Leben der Menschen noch andere Bedürnisse als Sex und Nahrung. Aber es gibt eben auch diese beiden Bedürfnisse und was sie betrifft, so unterscheiden wir uns zwar deutlich von Schimpansen und Bonobos, aber doch wieder nicht so wesentlich, dass wir uns nicht in de Waals Erzählungen wiedererkennen würden.

Selbst wenn man am Ende einige der Schlussfolgerungen de Waals nicht teilen mag, ist das Buch eine anregende und in vielen Fällen horizonterweiternde Lektüre. Auch wenn es am Ende nicht unseren Blick auf den Menschen verändert haben sollte, so werden wir doch auf jeden Fall für Schimpansen und Bonobos weit mehr Respekt aufbringen, als wir es vielleicht bislang getan haben. In jedem Fall ist das eine Lektüre wert.

Frans de Waal: Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind. Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert. München: Hanser, 2006. Pappband, 366 Seiten. 24,90 €.

Ein Lesebuch des Aberglaubens

hdwb AbberglaubensEs ist ein seltener Fall, dass ein Nachschlagewerk das erste seiner Art ist und dennoch über viele Jahrzehnte hinweg nach Inhalt und Umfang ein unverzichtbares Standardwerk bleibt. Das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« ist eine solche Ausnahmeerscheinung. Es wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts konzipiert und erschien unter erheblichen Schwierigkeiten zwischen 1927 und 1942 in zehn Bänden. Viele seiner Einträge sind inzwischen überholt, aber dennoch ist das Lexikon als ganzes bis heute ein unverzichtbares Hilfsmittel für alle, die sich mit Volksglauben, Sagen, Märchen und anderen Formen der Volksliteratur beschäftigen. Nun ist in der Digitalen Bibliothek eine CD-ROM-Ausgabe des Werks erschienen.

Dabei ist das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« (HDA) nicht nur als Nachschlagewerk geeignet, sondern es ist eine nahezu unerschöpfliche Quelle zum Schmökern: Viele Artikel sind eine Sammlung zahlreicher Überlieferungen, die hier zum ersten Mal auf engstem Raum zusammengefasst sind, sich überschneiden, ergänzen, auch widersprechen. Man bekommt ein Eindruck von der reichhaltigen und lebendigen Überlieferung des Volksglaubens, der sich auf alle Lebensbereiche erstreckt und über viele Jahrtausende auch auf die Hochkultur und besonders die Kunst auf vielfältigste Weise eingewirkt hat. Und man lernt von Gebräuchen, die heute nahezu vergessen sind:

Teller (und Tellerwurf). Die alteuropäische, im Kaukasus und wohl auch anderwärts noch bestehende Speisesitte, Fladenbrote als T. für eine Auflage von Fleisch zu benützen, hat vielfach die T.form von Gebildbroten auf Weihnachten und Ostern bestimmt, wie dies Gebäckmodel aus dem 15. und 16. Jh. und neuere Gebäcke in Form von Korb-T.n wie etwa im Lüneburgischen, dartun.

Nach der Bibel hatten die Juden den Brauch nebst einem Widderpaar tellerförmige Brote ins Opferfeuer zu werfen. Vorläufig fehlen Belege dafür, daß eine solche Übung im Mittelmeerkreis etwa zum Aberglauben des T.wurfes geführt hätte, um eine Feuersbrunst zu löschen. Sicher war keine Speisung sondern ein Bannen und Binden des Elementes zu seiner Besänftigung beabsichtigt, wenn es 1601 in den Aufzeichnungen des Pfarrers Noll zu Rüdesheim heißt: »Gegen Blitzfeuer (sic!) Schreibe folgendes (Satorformel) (s.d.) auf einen T. und wirf ihn in das Feuer, dann wird es verlöschen«. Vorschrift und Anwendung sind in späteren Tagen in Süd- und Mitteldeutschland vielfach in Geltung geblieben. Man wirft in der Tat aber auch wohl mit Opferabsicht Speck-T. oder einen T. aus Zinn – dem »Silber der Armen« – ins Feuer.

Mag ein solcher Eintrag eher obskur erscheinen, so liefern die umfangreichen Einträge etwa über den Glauben an eine »Endschlacht«, der sich in zahlreichen Kulturen wiederfindet, oder auch der gleich nachfolgende über »Engel« ein unvergleichlich reiches Bild von den Weltkonzepten früherer Zeiten, die heute in unserer mehr und mehr dem Glauben an die Vernunft anhängenden offiziellen Kultur drohen, komplett vergessen und durch gänzlich andere Glaubenskonzepte ersetzt zu werden. Mit dem Vergessen geht aber auch einher, dass uns Nachgebornenen eine wesentliche Grundlage zum Verständnis der Kultur, Kunst und Literatur früherer Epochen verloren zu gehen droht.

Ich will nicht verschweigen, dass das HDA auch seine Schwächen hat: Es ist besonders in den späten Bänden lückenhaft geblieben. Bei wichtigen Stichwörter wie z. B. »Teufel« oder »Zahl« wird zwar auf den Nachtrag verwiesen, die entsprechenden Artikel sind aber nie geschrieben oder gedruckt worden. Auch bemängeln moderne Kritiker, dass der dem HDA zugrunde gelegte Begriff des Aberglaubens zu eng war und bestimmte Geheimkünste und magische Wissenschaften ausschloss. Diese Kritik ist berechtigt, ändert aber garnichts an der Fülle des gelieferten Materials und ebensowenig daran, dass das HDA bis heute keinen gleichwertigen oder gar überlegenen Nachfolger gefunden hat. Wer sich mit dem Phänomen des Volksglaubens beschäftigen will, kommt auch heute noch am HDA nicht vorbei!

Das HDA ist 1986 erstmals wieder nachgedruckt worden und erfreut sich seitdem ungebrochener Beliebtheit bei Laien und Fachleuten. Die gedruckte Fassung in 10 kartonierten Bänden kostet derzeit 148,– €; die CD-ROM der Digitalen Bibliothek wird bis zum 31.12.2006 für 75,– € (danach 90,– €) angeboten und hat den für ein Nachschlagewerk unersetzlichen Vorteil einer Volltextsuche. Außerdem lassen sich durch das Register der digitalen Ausgabe auch die Einträge des Nachtragbandes nahtlos in die Stichwortliste einfügen. Kopier-, Markierungs- und Notizfunktionen gehören zum Standard der Software der Digitalen Bibliothek und genügen allen praktischen Ansprüchen. Alle Einträge der CD-ROM sind mit einer wortgenauen Konkordanz zur gedruckten Ausgabe versehen, so dass Zitate aus der digitalen Ausgabe auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Der CD-ROM liegt eine gedruckte Einführung in die Benutzung der Software bei. Inzwischen bietet die Digitale Bibliothek auch Software für MAC- und Linux-User an, die von der Homepage des Verlages heruntergeladen werden können.

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Digitale Bibliothek Bd. 145. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) – MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis bis 31.12.2006: 75,– €, danach 90,– €.

Die gänzlich »Andere Bibliothek«

Kann sich noch jemand außer mir erinnern, wie alles angefangen hat? Ende 1984 flutete der noch junge Greno Verlag die Buchhandlungen mit zwei Werbebroschüren: Eine zur Ankündigung einer neuen Buchreihe, der »Anderen Bibliothek«, die zweite speziell für den ersten Band der Reihe, Lukian von Samosatas »Lügengeschichten«. Und im Januar 1985 erschien dieser erste Band: Blauer Einband und ein Pappschuber, rotes Rückenschildchen, Fadenheftung und rotes Lesebändchen und – wichtigster handwerklicher Punkt der Ideologie der Reihe – im Bleisatz gesetzt; Preis: 25 Deutsche Mark (so hieß bei uns das Geld damals). Und ein Wunder geschah: Lukian von Samosata, der seit vielen Jahrzehnten nur noch einige Altphilologen zu einem zurückhaltendem Grinsen gebracht hatte, verkaufte sich so gut wie vielleicht niemals zuvor in der Geschichte des Buchhandels. Ein weiterer Sieg des Marketings über die Trägheit des Publikums!

Nun meldete Spiegel online, dass der Eichborn Verlag die »Andere Bibliothek« auch nach dem Bruch mit Hans Magnus Enzensberger fortsetzen wird. Es wurden zwei neue Herausgeber gefunden: Michael Naumann – ehemaliger Staatsminister für Kultur und Medien und jetziger Mitherausgeber der »Zeit« – und Klaus Harpprecht – ehemaliger Redenschreiber Willy Brandts und heute in Frankreich ansässiger Publizist – werden für die Reihe verantwortlich zeichnen.

Das bedeutet, dass alles seinen Gang so gehen wird, wie seit vielen Jahren: Das Lektorat des Eichborn Verlags würfelt die 12 Bände im Jahr aus dem zusammen, was ihm so unterkommt, und hier und da wird mal einer der Herausgeber einen Vorschlag machen, was man noch bringen könnte. Das wird dann gemacht und damit haben auch die Herausgeber ihr Scherflein beigetragen. Den Rest regelt der Markt.

Sagen wir es offen: Nachdem Eichborn die Reihe zur Buchmesse 1989 übernommen hatte, hat sie mit der Zeit jegliches Profil und alle ihre alten Qualitäten beinahe komplett eingebüßt. Man hätte die »Andere Bibliothek« damals zusammen mit dem Greno Verlag sterben lassen sollen, aber einerseits war es verständlich, dass der insolvente Franz Greno froh war, wenigstens aus dem Verkauf seines einzigen Renommierprojekts noch einiges Geld schlagen zu können, andererseits war es für Eichborn, der mit der Vermarktung von Cartoons und Witzen groß geworden war, eine Chance sich endgültig als literarischer Verlag zu etablieren.

Doch mit der Reihe ging es bergab: Hatte schon Greno die Preise erst langsam, dann immer heftiger ansteigen lassen müssen, fiel die »Andere Bibliothek« jetzt unter die Controller: Für einige Jahre wurden wenigstens noch die Erstauflagen im Bleisatz – auch weiterhin in der Nördlinger Druckerei Grenos – hergestellt, dann stellte man auch das ein. Am Preis hat das nicht viel geändert: Ein Band der anderen Bibliothek, der heute handwerklich weit unter dem Standard der Anfangsjahre liegt, kostet inzwischen mehr als das Doppelte des Preises im ersten Jahr.

Hans Magnus Enzensberger wandte sich wieder eigenen Büchern zu und überließ Eichborn seinen Namen für die Reihe, in der dann immer noch hier und da ein Band erschien, der offenbar seine Handschrift trug – die Montaigne-Übersetzung Hans Stiletts etwa oder der monumentale Humboldtsche »Kosmos«, recht besehen übrigens nichts als eine obsolete Wortwüste –, aber insgesamt verlor die »Andere Bibliothek« innerhalb kurzer Zeit weitgehend ihr Profil.

Im Jahr 2004 sah Enzensberger dann die Chance für einen Neuanfang, als die F.A.Z. anfragte, ob er nicht Herausgeber einer »F.A.Z. Bücherei« werden wolle. Enzensberger kündigte daraufhin einseitig und vertragswidrig die Herausgeberschaft bei Eichborn auf – was die »Andere Bibliothek« nicht daran hindert, auch weiterhin monatlich treulich zu erscheinen –, wurde aber von seinem alten Verlag gerichtlich daran gehindert, zusammen mit der F.A.Z. ein Konkurrenzprojekt zu starten. Der Vertrag, der Enzensberger bindet, läuft nun 2007 aus, die beiden Nachfolger sind designiert, die »Andere Bibliothek« wird auch davon gänzlich unbeeindruckt weiterhin erscheinen. Und wenn sich ihr Ruf eines Tages soweit abgeschliffen haben wird, dass es auch Eichborn einsieht, wird sie sang- und klanglos verschwinden, und dann wird vielleicht einer seine Zeitung aufschlagen, eine entsprechende Kurznotiz lesen und ein wenig überrascht sagen: »Was, die gab es noch?«

Die Meuterei auf der Bounty

34908Am 28. April 1789 kam es auf der HMAV Bounty unweit der Küste der Südseeinsel Tofua zu einer Meuterei, in deren Folge der Kapitän des Schiffes, Leutnant William Bligh, zusammen mit 18 weiteren Mitgliedern der Besatzung im Longboat der Bounty auf See ausgesetzt wurde. Das Schiff übernahm einer seiner Unteroffiziere, Fletcher Christian, der sich mit diesem Akt der Auflehnung einen ewigen Platz in der Geschichte der britischen Navy sicherte. Der Fall erregte in England viel Aufsehen, sowohl nach der Rückkehr Blighs und seiner Leute, die dieser beinahe vollzählig in einem seemännischen Bravourstück über eine Strecke von 5.800 Meilen in einen sicheren Hafen brachte, als auch bei dem Prozess gegen eine Gruppe von Meuterern, die 1791/92 ebenfalls auf abenteuerlichste Weise nach England zurückgebracht wurden.

Zahlreiche Beteiligte an den Vorgängen um die Meuterei auf der Bounty haben ihre Version der Ereignisse zu Papier gebracht und veröffentlicht, allen voran Kapitän William Bligh, der immer neue Varianten seines Berichtes drucken ließ, die alle reißenden Absatz fanden. Bereits 1791 übersetze Georg Forster, der ebenso wie Bligh, wenn auch nicht auf derselben Reise, mit Cook die Südsee bereist hatte, einen ersten Bericht Blighs ins Deutsche. Auch sonst sorgte die Meuterei in ganz Europa lange Zeit für Gesprächsstoff.

Im 20. Jahrhundert wurde der Stoff in der Hauptsache durch drei Verfilmungen prominent: 1935 unter der Regie von Frank Lloyd – bereits die dritte Verfilmung des Stoffs, aber die erste bleibende – mit Charles Laughton in der Rolle William Blighs und Clark Gable als Fletcher Christian, 1962 ein operettenhaftes Remake von Lewis Milestone mit Trevor Howard (hat sich stets bemüht) und einem dandyhaften Marlon Brando und schließlich 1984 von Roger Donaldson mit Anthony Hopkins und Mel Gibson in den Hauptrollen.

Den ersten beiden der angeführten Verfilmungen liegt ein Buch zugrunde, das 1932 zu ersten Mal erschien. Geschrieben hat es das amerikanische Autorenteam Charles B. Nordhoff (1887–1947) und James N. Hall (1887–1951), die Anfang der 20er Jahre zusammen nach Tahiti ausgewandert waren. Dem ersten Band »Meuterei auf der Bounty« folgten im Jahresabstand zwei weitere, die die Nachgeschichte der eigentlichen Meuterei noch einmal ausführlich erzählten: »Meer ohne Grenzen«, das die Fahrt des ausgesetzen Bligh nach Kupang thematisiert, und – in Deutschland selten gedruckt – »Die Insel Pitcairn«, das die weiteren Schicksale Fletcher Christians und seiner Meuterer in der Südsee beschreibt.

Der Insel Verlag hat nun den ersten Band dieser Trilogie wieder einmal im Taschenbuch nachgedruckt, und es ist sehr zu hoffen, dass auch die beiden anderen Bände dort in einer preiswerten und leicht erreichbaren Ausgabe aufgelegt werden. »Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen« wird von einem von den Autoren zur Besatzung der Bounty hinzuerfundenen sechsten Midshipman (Seekadetten) erzählt und umfasst die gesamte Geschichte der Meuterei von der Ausfahrt der Bounty über die Erlebnisse auf Tahiti, die eigentliche Meuterei, das Schicksal Blighs und den späteren Prozess gegen die Meuterer, ja es holt in einem Epilog sogar die Nachgeschichte Fletcher Christians noch ein. Es ist offensichtlich, dass Nordhoff und Hall sich nicht sicher waren, ob das Buch überhaupt ein Erfolg werden würde und sie dazu in der Lage wären, für die beiden Nachfolgebände einen Verleger zu interessieren.

Sie konnten nicht ahnen, wie sehr dieser erste Band und die auf ihm basierenden Verfilmung von 1935 den Stoff für das 20. Jahrhundert ausprägen sollten. Dabei versuchten Nordhoff und Hall durchaus keinen reißerischen Abenteuerroman zu schreiben, sondern sie näherten sich im Ton und der Art der Darstellung ganz bewusst den Reiseberichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an. Sicherlich waren sie hier und da etwas deutlicher und direkter als Bligh und seine Zeitgenossen, doch insgesamt ist der Roman von einer seltenen Dezenz. Aber die beiden Autoren prägen in diesem Buch das Bild von der Meuterei als Akt des Widerstands gegen einen ungerechten und tyrannischen Kapitän, für den der Stoff bis heute einen Archetypus bildet, obwohl inzwischen ein weit differenzierteres Bild von den tatsächlichen Vorgänge vorliegt.

Wer also einmal zur Quelle des Mythos von der Bounty zurückgehen will, der greife zu diesem Buch.

Charles B. Nordhoff und James N. Hall: Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen. Aus dem Amerikanischen von Ernst Simon. Insel Taschenbuch 3208 (2006). 370 Seiten. 11,00 €.

Das Buch vom schlechten Leser

barbey_antigoethe»Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen«, schreibt der sehr große Lichtenberg, »und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?« Dieser kleine Satz sollte allen Literaturkritikern ganz zu Anfang in ihr Stammbuch geschrieben werden, denn die Grundannahme der Literaturkritik ist im Normalfall, dass es sich um ein schlechtes Buch handeln muss, wenn der Kritiker mit dem Werk nichts Rechtes anzufangen weiß. Dass es aber – auch unter Kritikern! – prozentual mindestens ebenso viele schlechte Leser wie schlechte Bücher gibt, wird selten mitbedacht und noch seltener thematisiert. Nur hier und da erscheint einmal ein Beweis solcher Ignoranz, und es müssen schon ganz besondere Umstände zusammenkommen, damit nach über 100 Jahren ein solches Dokument noch einmal veröffentlicht wird.

Im Jahr 1873 erschien eine Reihe von Essays des damals in Frankreich hoch geschätzten Autors und Literaturkritikers Jules Barbey d’Aurevilly (1808–1889), die Goethe gewidmet sind und jetzt bei Matthes & Seitz in Berlin unter dem Titel Gegen Goethe zum ersten Mal auf Deutsch vorliegen. Barbey d’Aurevilly beginnt seine ausführliche Polemik gegen das Gesamtwerks Goethes mit einer skurrilen Szene:

Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe. Die Librairie Hachette hatte mir vor der Belagerung eine Ubersetzung seiner Sämtlichen Werke geschickt, damit ich sie in einer Zeitung bespräche, und zwischen zwei Wachen las ich immer wieder darin.

Dies ist eine Momentaufnahme aus dem Deutsch-französischen Krieg von 1870/71, den die Deutschen mit der Krönung Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles abschließen sollten – einer bewussten Provokation und Demütigung der Franzosen, die dies bis zum Vertrag von Versailles im Jahr 1918 auch nicht vergessen würden.

Und auch Barbey d’Aurevilly nimmt auf seine Weise Rache für diese Schmach: Er verreißt Goethe! Und das in aller Aufrichtigkeit: Er muss sich durchaus nicht zwingen, Goethe schlecht und – was ihm unverzeihlicher zu sein scheint – unerträglich langweilig zu finden, seine dramatischen Figuren hölzern, seine Gedichte von des Gedankens Blässe angekränkelt, die Romane unmoralisch oder dumm oder auch beides. Und überhaupt mangele es Goethe an Gefühl, Phantasie und Erfindungsgabe; sein Versuch, diese Mängel durch Gelehrsamkeit auszugleichen, ende in einem Fiasko wie dem zweiten Teil des »Faust«, hinterlasse aber auch sonst überall verhängnisvolle Spuren.

Nun höre ich ringsum schon ein allgemeines Aufatmen: »Endlich sagt es mal einer!« – »Recht so! Immer feste druff!« – »Ich habe es ja immer schon gewusst, nur zu sagen habe ich es mich nicht getraut.« ––– Nein, ich muss alle Erleichterten enttäuschen: Barbey d’Aurevilly hat einfach Unrecht; er war im Grunde genommen nichts weiter als ein schlechter Leser Goethes. Dass er ein solch ausgezeichnet schlechter Leser des Weimarer Klassikers wurde, hatte gleich mehrere Wurzeln, die das kluge Nachwort von Lionel Richard detailliert vorführt und analysiert: Barbeys Konkurrenz zu Sainte-Beuve, Goethes hohes Ansehen bei den Anti-Romantikern Frankreichs und eben nicht zuletzt auch die nationale Konfrontation des gerade verlorenen Krieges. Barbey d’Aurevilly wollte Goethe schlechtfinden, koste es, was es wolle. Sein Unverständnis ist oft einfach nur grotesk zu nennen und selbst da, wo er sich genötigt sieht, wenigstens Teilaspekte des Werkes zu loben, kritisiert er das übrige nur um so heftiger.

Und nun in unsern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irrtum durch den Druck sogleich allgemein predigen zu können! Mag ein solcher Kunstrichter nach einigen Jahren auch besser denken, und mag er auch seine bessere Überzeugung öffentlich verbreiten, seine Irrlehre hat doch unterdes gewirkt und wird auch künftig gleich einem Schlingkraut neben dem Guten immer fortwirken.

Goethe zu Eckermann, 13. Februar 1831

Warum wird ein solch weitgehend unbekanntes Buch noch einmal aufgelegt und der Irrtum erneut verbreitet? Nun muss man zuerst einmal natürlich auch Barbey d’Aurevilly und seinen Lesern eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn dieses Buch hat auch ganz unabhängig vom Ziel der Polemik seine Berechtigung und seinen Platz im Werk Barbeys. Dann mag die eine oder andere auch Vergnügen an der Form der Polemik und Barbeys Eifer haben, an den Brotkugeln, die er auf den Adler schießt in der festen Überzeugung, es seien Kanonenkugeln, die einem Spatzen gölten. Und es ist zudem keine kleine Kunst, in einem so schmalen Band gleich so viele Irrtümer, Fehler und Vorurteile zu versammeln. Und ganz zum Schluss ist das Büchlein eben auch das oben genannte Dokument eines schlechten Lesers, eine Mahnung an alle Kritiker – sie werden sie nicht lesen oder, wenn sie sie lesen, nicht verstehen oder, wenn sie sie verstehen, gleich wieder vergessen. Aber vielleicht bleibt es ja als Gewinn bei den guten Lesern übrig, immer mitzubedenken, dass ein Verriss seinen Grund nicht immer darin haben muss, dass das besprochene Buch nichts taugt.

Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last;
Ich hatt just mein gewöhnlich Essen,
Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu räsonieren:
»Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.«
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

Johann Wolfgang von Goethe

Jules Barbey d’Aurevilly: Gegen Goethe. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Matthes & Seitz, 2006. Pappband mit Schutzumschlag, fadengeheftet, Lesebändchen. 142 Seiten. 19,80 €.