Allen Lesern ins Stammbuch (28)

Wisset derowegen, dass nicht durch langen Fleiss, sondern durch des Geistes Demut und Gebet und Reinigkeit des Herzens, nicht durch einen kostbaren Vorrat vieler Bücher, sondern durch einen reinen Verstand und Schlüssel der Wahrheit die Wissenschaft muss erlanget werden; denn die Menge der Bücher beschweret den Leser und machet ihn nichts klüger, und wer vielen Autoribus folget, der irret mit vielen.

Agrippa von Nettesheim

Vgl. auch: So verstau’ ich meine Bücher

Alfred Döblin: November 1918 (1)

Döblin großes, drei- bzw. vierbändiges Romanwerk über das Ende des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der deutschen Revolution des Jahres 1918. Geschrieben wurden die Romane zwischen 1937 und 1943 im französischen und amerikanischen Exil, wobei vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur der erste Band 1939 noch erscheinen konnte. Geplant war ursprünglich eine Trilogie, doch hatte sich der zweite Band während der Niederschrift zu einem solchen Umfang entwickelt, dass er geteilt werden musste. Döblin entschloss sich daher bereits 1943 für eine Aufteilung auf vier Bände.

Nachdem er als Offizier der französischen Militärverwaltung nach Deutschland zurückkehrt war, versuchte Döblin den Romanzyklus geschlossen erscheinen zu lassen. Er legte daher den ersten Band den französischen und amerikanischen Zensurinstanzen vor, um einen Wiederabdruck genehmigt zu bekommen. Die Franzosen lehnten dies ab, da ihnen die Elsass-Lothringen-Thematik des Buches politisch zu heikel schien; die Amerikaner begründeten ihre Ablehnung mit dem herrschenden  Papiermangel. So sah sich Döblin gezwungen, nur die drei bislang nicht veröffentlichten Bände als Trilogie unter dem Sammeltitel November 1918 erscheinen zu lassen. Um das Fehlen des ersten Bandes zu kompensieren, dessen Kenntnis beim deutschen Nachkriegsleser kaum vorausgesetzt werden konnte, stellte er aus ihm ein gut 40-seitiges »Vorspiel« zusammen, das dem ersten Band der neuen Trilogie, sprich dem zweiten Band des Gesamtwerks vorangestellt wurde.

Walter Muschg, der Herausgeber der  Ausgewählten Werke (1960–1972) verzichtete auf die Aufnahme des Zyklus, den er für misslungen hielt. So blieben die Erstausgaben (1939, 1948–1950) die einzigen Drucke bis im Jahre 1978 bei dtv erstmals eine geschlossene Ausgabe aller vier Bände erschien, die bis heute lieferbar ist. Der Verlag bemühte sich dabei um eine Vereinheitlichung, Angleichung und behutsame orthographische Glättung der Erstausgaben; außerdem wurde das »Vorspiel« aus dem Jahr 1948 wieder herausgenommen, da der erste Band den Lesern ja nun direkt zugänglich war. Im letzten Jahr legte S. Fischer alle vier Romane in einer gebundenen, einheitlich gestalteten Ausgabe wieder vor. Diese Ausgabe stellt den Zyklus als eine Trilogie vor, indem sie die Bände 2 und 3 als 2-I und 2-II untertitelt und dementsprechend den letzten Band als Band 3. Da dieser Rezension die Neuausgabe zugrunde liegt, folge ich dieser Konvention, ohne mich zugleich der Auffassung anzuschließen, es handele sich bei dem Zyklus um eine Trilogie. Die Frage, ob Tri- oder Tetralogie, kann offensichtlich nur daran entscheiden werden, ob sich zwischen dem 2. und dem 3. Band ein dichterer Zusammenhalt findet als zwischen dem 1. und 2., respektive 3. und 4. Band. Ob dies der Fall ist, wird später noch thematisiert werden.

Als Kuriosum ist anzumerken, dass man sich bei S. Fischer entschlossen hat, allen vier Bänden der Neuausgabe denselben Anhang mitzugeben, und zwar einen Ausschnitt aus der kommenden 3. Auflage des Kindlerschen Literaturlexikons. Warum man meint, es sei für Leser interessant, vier Mal denselben Anhang zu erwerben, wissen wahrscheinlich nur die Auguren des Vertriebs.

978-3-10-015554-2 Teil 1: Bürger und Soldaten 1918.

Der erste Teil handelt im Elsass und später auch in Berlin, also an den beiden Orten, an denen Döblin selbst die Tage der Revolution erlebt hat. Im Elsass stehen im Zentrum ein Militärlazarett in der Nähe von Straßburg, eine Militärtruppe, die dort stationiert ist und die Tage der Revolution in Straßburg selbst vor der Ankunft der französischen Truppen. Der Roman umfasst – von Rückblenden einmal abgesehen – die Zeit vom 10. November bis zum 24. November, als die letzten deutschen Truppen das Elsass verlassen und die Franzosen in Straßburg einziehen.

Vermittelt wird zwischen beiden Orten durch einen Lazarettzug, der Verwundete aus dem Elsass nach Osten transportiert und in dem sich auch zwei befreundete Soldaten befinden: Oberleutnant Friedrich Becker – hier durchaus noch nicht als die Hauptfigur zu erkennen, die er für den Zyklus werden wird – und Leutnant Johannes Maus, die beide schließlich nach Berlin kommen werden. Beide sind nur Teil eines umfangreichen und sozial breit angelegten Figurenensembles, das Döblin über die erzählten 14 Tage hinweg verfolgt. Erzählt werden in unregelmäßigem Wechsel die Schicksale der einzelnen Figuren und sowohl aus französischer als auch aus deutscher Sicht historische Ereignisse der letzten Kriegs- und der ersten Revolutionstage. Viele der Figuren bekommen keinen eigenen Namen, sondern sind nur über ihren militärischen Rang (der Major) oder ihre gesellschaftliche oder berufliche Stellung gekennzeichnet (der Pfarrer).

Während dabei zu Beginn des Romans der private Bereich überwiegt, gewinnt die historische Ebene Seite um Seite mehr an Gewicht; das schließlich im ersten Band erreichte Gleichgewicht wird auch in den weiteren Teilen des Zyklus vorherrschen. Der erste Band versucht nicht einmal halbherzig, irgendeine Form von Abschluss zu erzeugen, sondern ist klar auf eine Fortsetzung hin konzipiert. Zwar werden einzelne Erzählstränge offensichtlich zum Ende geführt (so etwa das Schicksal des Oberstabsarztes), bei anderen lässt sich aber durchaus nicht zu erkennen, ob sie vereinzelte Episode bleiben oder im Nachfolgeband weitergeführt werden sollen (zum Beispiel der Strang um die beiden Kleinkriminellen Motz und Brose-Zenk).

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Bürger und Soldaten 1918. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 415 Seiten. 17,90 €.

Wird fortgesetzt …

Kleine Umfrage

Liebe Leserinnen und Leser,

da ich mich gerade mit Alfred Döblins umfangreichem Romanzyklus November 1918 beschäftige, bin ich neugierig, wie bekannt er unter engagierten Leserinnen und Lesern ist. Wenn Sie mögen, nehmen Sie bitte an der gänzlich anonymen Umfrage unten teil.

Vielen Dank im Voraus!

Kommentare zur Umfrage sind durchaus erwünscht.

P.S.: Die Abstimmung lief vom 16. Juni bis zum 16. Juli. Ich danke allen Leserinnen und Lesern, die an ihr teilgenommen haben.

Wilhem von Sternburg: Joseph Roth

978-3-462-05555-9Derzeit einzige umfangreiche Biografie über Joseph Roth. Ihr Autor, Wilhelm von Sternburg, ist ein Routinier, was man auch diesem Buch anmerkt. Das Buch ist recht breit angelegt, was wahrscheinlich auf Leser mit geringem historischen Vorwissen abzielt. So sind die Ausführungen über Roths jüdisch-galizischen Hintergrund sicherlich gut gemeint und für einen Großteil der Leser nützlich. Ob dies allerdings auch für den seitenlangen Exkurs über Schriftsteller, vor allem US-amerikanische, als Alkoholiker zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Solche Tendenzen machen die Lektüre ein wenig langatmig und mühsam.

Die erzählerischen Werke Roths werden nahezu alle inhaltlich referiert und zum bedeutenden Teil kurz und sicher in den Zeithorizont eingeordnet. Wirkliche Interpretationen versucht von Sternburg nicht zu liefern; einmal vergleicht er Radetzkymarsch mit Budenbrooks, ohne dabei über den bekannten Jean Paulschen Vergleich der Tanz- und Fechtkunst hinauszukommen.

Die Biografie wird wohl so gut dargestellt, wie es die Datenlage derzeit erlaubt. Der Leser bekommt einen soliden Eindruck vom chaotischen und selbstzerstörerischen Pathos des Schriftstellers, der sich – besonders in den letzten Lebensjahren – einfach nicht mehr zu helfen wusste: Erzwungenes Exil, die private Verpflichtung für die im Sanatorium befindliche Ehefrau einerseits und die Lebenspartnerin mit ihren Kindern andererseits, der sich zunehmend verschlimmernde Alkoholismus und die aus all dem erwachsende andauernde Geldnot – es ist alles in allem erstaunlich, dass Roth unter diesen Bedingungen überhaupt noch in der Lage war Literatur und dann auch noch auf einem solchen Niveau zu produzieren. Eine bemerkenswerte Mischung von Haltlosigkeit und Disziplin beherrschte dieses Leben.

Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. Pappband, 559 Seiten. 22,95 €.

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

Thomas Nagel: Was bedeutet das alles?

978-3-15-010682-2 Auch dieser Band entstammt der Reihe A Very Short Introduction der Oxford University Press. Das Schöne an dieser »ganz kurzen Einführung in die Philosophie« ist, dass sie dem akademischen Betrieb gänzlich fernsteht. Sie ist geschrieben für Menschen, die von Philosophie, ihren Methoden und Fragestellungen nur eine geringe oder gar keine Vorstellung haben. Nagel entwickelt an neun klassischen Themen der Philosophie – Erkenntnis, das Bewusstsein anderer, Leib/Seele, die Bedeutung von Wörtern, Willensfreiheit, Recht und Unrecht, Gerechtigkeit, Tod und Sinn des Lebens – jeweils eine Reihe von Antworten, die er immer wieder sokratisch hinterfragt, abwandelt und von anderer Seite neu aufgreift. Wie nebenbei markiert er in wenigen Worten treffsicher bestimmte philosophische Positionen, ohne dabei in irgendwelche ideologischen Debatten abzuschweifen.

So liefert er eine schlichte und gut verständliche Einführung in Kernbestände philosophischen Denkens, ohne Anspruch darauf, auch gleich Antworten bereit zu halten. Im ganzen Buch fällt – wenn ich es richtig erinnere – nicht ein einziger Name eines Philosophen. Alles bleibt auf die Sache bezogen, nichts wird historisiert. Das könnte man unangemessen finden, da philosophische Antworten natürlich immer zugleich auch historische Antworten sind. Dem steht entgegen, dass Nagel mit dieser Vorgehensweise das Feld der Philosophie gerade jenen öffnet, die zwar an einer Auseinandersetzung mit den Fragestellungen interessiert sind, die aber nicht gleich den gesamtem Ballast der Philosophiegeschichte mit stemmen wollen.

Ein frischer, origineller und weitgehend voraussetzungsloser Zugang zur Philosophie.

Thomas Nagel: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Gebauer. Stuttgart: Reclam, 2008. Pappband, 108 Seiten. 6,90 €.

Zwei Thomas-Mann-Hörbücher

Nach der großen Anstrengung des Doktor Faustus (1947) schrieb Thomas Mann noch zwei in Ton und Inhalt humoristische und leichte Romane: Der Erwählte (1951) und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954). Letzteres blieb insoweit Fragment, als der veröffentlichte Text nur den ersten Teil der Pseudoautobiografie Krulls darstellt und eher unvermittelt abbricht. Dennoch handelt es sich bei den Bekenntnissen um den deutlich prominenteren Text, was sicherlich auch der sehr rasch erfolgten Verfilmung mit Horst Buchholz in der Hauptrolle geschuldet ist.

Der Erwählte ist eine parodistische Neuerzählung des Gregorius des Hartmann von Aue. Es ist die Geschichte eines aus einem Geschwisterinzest hervorgegangenen Knaben, der als Kleinkind ausgesetzt, auf einer der Kanalinseln aufwächst und dort zum Geistlichen erzogen wird. Trotz dieser Ausbildung drängt es ihn, Ritter zu werden, was er auch durchsetzt, als er nach einem handgreiflichen Vorfall mit einem seiner Ziehbrüder von seiner unseligen Herkunft erfährt und die Insel verlässt. Er kehrt unwissentlich in seine Heimat zurück, befreit die Stadt, in der seine Mutter residiert, von einer Belagerung und heiratet im Anschluss seine Mutter, mit der er zwei Töchter zeugt. Als zufällig die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse zutage kommen, verpflichtet Gregor seine Mutter zur Aufgabe der Regierung und zu wohltätigem Dienst, während er selbst sich im Sünderhemd zu einem Exil auf einer winzigen Felseninsel verbannt, auf der er auf wundersame Weise von der Erde selbst genährt wird. Befreit wird er nach 17 Jahren von zwei römischen Gesandten, die sich nach göttlicher Vision auf die Suche nach ihm gemacht hatten, um ihn als Papst nach Rom zu führen.

Der märchenhafte Grundton dieser Erzählung ist bereits in der Vorlage zu finden und wird von Thomas Mann in ausschmückendem Stil und epischer Breite übernommen. Da schon Hartmann nicht die Absicht verfolgt, die Biografie eines konkreten Papstes zu schreiben, kann sich Thomas Manns Text gänzlich im Reich der Ironie bewegen. Kein Satz, keine Szene ist der Ernsthaftigkeit verpflichtet, alles bewegt sich im Spielerischen. Das Faszinierendste dürfte sein, dass der Text sogar dann parodistisch wirkt, wenn der Leser die Vorlage nicht kennt. Von allen Romanen Thomas Manns ist Der Erwählte vielleicht sein freiester und gelöstester überhaupt.

Bekenntnisse des Hochstapler Felix Krull ist im Gegensatz dazu keine Parodie eines konkretes Textes, sondern gleich eines ganzes Genres: des deutschen Entwicklungsromans. Auch hier hat die Parodie in der Hauptsache humoristische und keine literaturkritische Absicht. Erzähler ist der alte Felix Krull, der die Geschichte seines Lebens aufschreibt: Sohn eines Sektproduzenten aus dem Rheingau, der sich den Folgen eines Bankrotts durch Selbstmord entzieht, sieht er sich gezwungen, eine Stellung als Liftboy in Paris anzutreten. Er ist von auffallender Schönheit, und seine Neigung zu gehobener Sprache und Umgangsformen zeichnen ihn ebenso aus wie eine skrupellose Dreistigkeit bei Diebstahl und Betrug. Seine Karriere als Hochstapler beginnt im eigentlichen Sinne, als er einen luxemburgischen Marquis kennenlernt, der ein Double benötigt, das für ersatzweise für ihn eine von seinen Eltern angeordnete Reise nach Südamerika antritt. Felix reist also nach Lissabon, von wo aus er mit einem Schiff nach Argentinien fahren soll. Unterwegs macht er die Bekanntschaft deutschen Professors Kuckuck, der in Lissabon ein Museum leitet. Natürlich wird er auch in die Villa Kuckuck eingeladen, wo er sich sowohl in die Tochter als auch in die portugiesische Frau des Professors verliebt. Leider bricht der Roman gerade an dem Punkt ab, als Felix sowohl bei der Mutter als auch bei der Tochter zum Ziel gekommen ist. Aus dem Fragment heraus lässt sich leider nur vermuten, ob nicht die wirkliche Hochstapelei Krulls darin besteht, sich diesen fantastischen Lebenslauf zuzuschreiben.

Von beiden Büchern – so wie von zahlreichen anderen Romanen Thomas Manns – gibt es ungekürzte Lesungen Gert Westphals aus einer Zeit, als es das Hörbuch zumeist nur im Radio und nur ausnahmsweise als Audiocassette gab. Heute liegen diese Lesungen selbstverständlich auf CD vor, und es steht zu hoffen, dass auch hier bald MP3-Versionen eine kompakte und preisgünstige Alternative liefern. Westphal hat für meinen Geschmack eine ideale Stimme für die Texte Thomas Manns; er befindet sich stets auf der Höhe der Texte – einzig sein Englisch hat einen störenden Akzent – und macht Manns hier und da zu feisten Manierismus durch seine Sprechkunst durchsichtig  und erträglich. Nachdem ich in den letzten Jahren eher Schwierigkeiten hatte, mich mit Manns Spätwerk noch einmal anzunähern, haben diese beiden Hörbücher mir einen neuen Weg eröffnet, und ich werde es demnächst auch einmal mit der Westphalschen Lesung des Doktor Faustus versuchen.

Thomas Mann: Der Erwählte. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 10 CDs mit zus. etwa 660 Minuten Laufzeit. Ca. 60,– €.

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 13 CDs mit zus. etwa 990 Minuten Laufzeit. Ca. 75,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (27)

I plainly tell all my readers, except half a dozen, this treatise was not at first intended for them; and therefore they need not be at the trouble to be of that number. But yet if any one thinks fit to be angry and rail at it, he may do it securely; for I shall find some better way of spending my time than in such kind of conversation.

John Locke

Max Frisch: Andorra

978-3-518-36777-3 Der vorläufig letzte Teil der Max-Frisch-Auffrischung: Ein schon 1957 nicht besonders subtiles Stück zum Thema Antisemitismus, das in den vergangenen 50 Jahre nicht wirklich besser geworden ist. Die dramaturgische Grundkonstruktion ist ebenso wenig überzeugend wie die geradelinige und steife Psychologie der Figuren. Natürlich begegnet der Autor all diesen Einwänden mit der Behauptung, es handele sich bei dem Stück um »ein Modell«. Wovon es ein Modell sein soll, wird nicht so recht klar. Um eine Formulierung von Friedrich Dürrenmatt abzuwandeln: Bei Frisch klatschen alle, die keine Antisemiten sind oder keine Antisemiten sein wollen; hat sich das einmal herumgesprochen, klatscht alles. Kein Wunder, dass sich das Buch seit Jahrzehnten im Kanon deutscher Schullektüren hält. Das Beste, was sich noch über das Stück sagen lässt, ist, dass es die Vorlage zu Georg Kreislers Parodie Sodom und Andorra geliefert hat.

Max Frisch: Andorra. Suhrkamp Taschenbuch 277. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 662008. 126 Seiten. 5,50 €.

Axel Hacke & Michael Sowa: Wumbabas Vermächtnis

978-3-88897-555-4 Bevor ich eine Empfehlung für dieses Bändchen aussprechen kann, ist leider ein kleiner Exkurs über dessen Titel notwendig. Der erste Band der kleinen Reihe von Handbüchern des Verhörens trug den schlichten Titel Der weiße Neger Wumbaba. Dieser Titel entstand aus einem Verhörer des berühmten Gedichts Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius, in dem es heißt:

Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Die letzte Zeile führte zu dem poetischen Verhörer:

Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Neger Wumbaba.

Nach dem Erscheinen des zweiten Bandes unter dem Titel Der weiße Neger Wumbaba kehrt zurück kündigte Axel Hacke in einem Gespräch den dritten Band unter dem wundervollen Titel »Das Vermächtnis des weißen Negers Wumbaba« an. Wie wir nun sehen, ist der »weiße Neger« aber nicht noch einmal aufs Titelblatt zurückgekehrt. Warum?

Schon ein kurzer Blick auf die Kundenrezensionen bei amazon.de lässt erahnen, mit welcher Flut an politisch korrekten Reaktionen sich Autor und Verlag wohl haben herumschlagen müssen. Nun ist Politische Korrektheit eine besonders penetrante Erscheinungsform der Dummheit in unserer Zeit. Die Vertreter dieser Position sind der Überzeugung, dass sich bereits aus der Verwendung eines Wortes auf die Gesinnung seines Verwenders schließen lasse. Das mag in Einzelfällen vielleicht sogar stimmen; in den meisten Fällen aber dürften aber gerade die politisch Unkorrekten die wahren Adepten der Politischen Korrektheit sein. Denn Rassismus, Menschenverachtung, Umweltvernichtung und was der bösen Dinge mehr sind, lassen sich viel bequemer hinter einer politisch korrekten Fassade betreiben als mit einer politisch nicht korrekten Wortwahl. Dass einer »Neger« schreibt oder sagt, macht ihn noch nicht zum Rassisten, und dass einer stets »Schwarzer« sagt, garantiert nicht seine Toleranz. Es ist schade, wenn auch verständlich, dass Autor und Verlag den bequemen Weg gegangen sind und sich ihren Titel haben von den Politisch Korrekten verstümmeln lassen. Aber auf Deckel und Titelblatt ist er wenigstens noch zu sehen: der weiße Neger Wumbaba.

Wie dem auch sei, handelt es sich bei Wumbabas Vermächtnis um eine nette und lesenswerte Fortsetzung der beiden anderen Bändchen. Man sollte in einem solchen Fall nicht von Band zu Band eine Steigerung erwarten, sondern sich über jeden schönen Fund freuen, den Hacke seiner Sammlung hinzufügt: Ob Elvira España, Ladislav Bonita oder die vermissten Schweinespuren im Sand, sie alle verdienen unsere Sympathie. Mit diesem Bändchen beschließt Hacke die Reihe; sie wird sicherlich in diversen Internetforen bis auf weiteres fortgesetzt werden.

Axel Hacke & Michael Sowa: Wumbabas Vermächtnis. Drittes Handbuch des Verhörens. München: Antje Kunstmann, 2009. Pappband, Fadenheftung, 80 Seiten. 9,90 €.