Aloys Winterling: Caligula

Der römischen Aristokratie müssen unter seiner Herrschaft so ungeheuerliche Dinge zugestoßen sein, daß man ihm posthum die höchste denkbare Stigmatisierung zuteil werden ließ: Er wurde als Monster und Wahnsinniger beschimpft und damit gleichsam aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen.

978-3-406-63233-4Caligula (12–41) ist einer der bekanntesten römischen Kaiser, da er spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Musterbeispiel für den größenwahnsinnigen und psychopathischen Diktator dient. Winterlings Darstellung Caligulas widerspricht diesem Bild des Kaisers diametral: Aufgrund einer differenzierten und kritischen Lesart der antiken Quellen erscheint der Kaiser bei ihm als ein rational handelnder Monarch, der nach mehreren Versuchen, ihn zu beseitigen, den stillschweigenden Konsens zwischen Herrscher und Senat, den sein Urgroßvater Augustus etabliert hatte, aufkündigte und versuchte, eine echte Alleinherrschaft zu etablieren. Offensichtlich gelang es ihm aber nicht, in kurzer Zeit ein neues Gleichgewicht und eine den angestrebten Verhältnissen angemessene Kommunikation zu begründen, sondern nutzte die Doppelbödigkeit des früheren Missverhältnisses dazu, die römischen Oberschicht zu demütigen und in Angst und Schrecken zu versetzen. Konsequenterweise führte dies nur zu weiteren Intrigen gegen ihn, von denen eine ziemlich bald durchschlug.

Caligulas kurze Herrschaft markiert somit einen Tiefpunkt in der Entwicklung der frühen, römischen Kaiserzeit. Winterling weist aber darauf hin, dass keine der zeitgenössischen Quellen von einem pathologischen Wahnsinn des Kaisers ausgeht. Dort, wo das Wort fällt – etwa bei Seneca –, wird es in dem Sinne gebraucht, wie auch wir heutzutage von Bauwahn oder ähnlichem reden. Erst Sueton scheint das Konzept vom wahnsinnigen Kaiser erfunden und die Quellen entsprechend tendenziös ausgeschlachtet zu haben. Er verfolgte damit augenscheinlich den Zweck, die Rolle der römischen Oberschicht im 1. Jahrhundert zu schönen und so sein und das Renommee seiner Standeskollegen aufzupolieren.

Winterlings Darstellung ist durchweg überzeugend, gut lesbar und auch für den historischen Laien nachvollziehbar. Ein uneingeschränkt zu empfehlendes Buch.

Aloys Winterling: Caligula. Beck’sche Reihe 6035. München: C. H. Beck, 2012. Broschur, 208 Seiten. 14,95 €.

Hans Peter Duerr: Die Fahrt der Argonauten

Duerrs Leser haben lange auf dieses Buch warten müssen: Es ist seit über zwei Jahren angekündigt gewesen, und das Vorwort ist mit »Herbst 2009« datiert, wobei ungeklärt bleibt, warum das Buch erst zur Frankfurter Buchmesse 2011 tatsächlich erschienen ist. Es handelt sich um eine unmittelbare Fortsetzung des Buchs über Rungholt; dort war in den letzten Kapiteln thematisiert worden, dass es sich beim Argonauten-Mythos um einen Reflex kretischer Fernreisen in den Norden Europas handeln könnte. Diese These wird hier nun ausführlich vorgeführt.

Dabei nimmt die Darstellung der oben genannten These nur einen relativ schmalen Raum ein: Es wird wahrscheinlich gemacht, dass kretische Seefahrer der Bronzezeit vom Mittelmeer aus über die Aude bis etwa Carcassonne und von dort über Land bis zur Garonne in der Gegend von Toulouse und anschließend über die Garonne in den Atlantik gelangt seien und sich so die zeitraubende und von widrigen Strömungen behinderte Fahrt durch die Straße von Gibraltar und nördlich entlang der spanischen und portugiesischen Atlantikküste erspart hätten. Der Transport des Schiffes Argo über Land findet sich denn auch in der Argonautensage bei Apollonios widergespiegelt und kann zudem durch schiffsbautechnische Erkenntnisse durchaus gestützt werden.

Ein Großteil des Buches ist aber der Deutung des Argonautenmythos als Fahrt ins Totenreich und der Rückkehr von dort als Variation des Fruchtbarkeitsmythos gewidmet. Dabei erzeugt Duerrs immer schon bestehende Neigung zum Enzyklopädischen diesmal noch mehr als sonst den Eindruck eines umgestülpten Zettelkastens. Wie immer bei Duerr besteht das Buch zu knapp 50 % aus Anhang (276 von 1111 Seiten sind mit Anmerkungen, 227 Seiten mit Literaturnachweisen und 22 Seiten mit einem Register gefüllt), wobei sich allerdings ein bedeutender Teil des Textes von dem in den Anmerkungen aufgeführten zusätzlichen Material kaum anders als durch die gewählte Schriftgröße unterscheidet. Lange Passagen des Buches enthalten einfach umfangreiche Auflistungen von motivisch verwandtem Material aus diversen Kulturen zumeist des Mittelmeerraums, aber oft auch darüber hinaus. So finden sich unzählige Beispiele vom Vorkommen von Widdern in den unterschiedlichsten Fruchtbarkeitsritualen und -mythen, ebenso unzählige Beispielen für die Verbindung von Unterwelts- und Fruchtbarkeitsmythen, ebenso unzählige für die Verwendung des Motiv des Hieros gamos in den diversen Kulturen etc. pp. All dies bezeugt einmal mehr Duerrs Fleiß und seine ungeheuerliche Belesenheit bzw. seine Fähigkeit, große Mengen von Material zu organisieren, die allerdings in Zeiten elektronischer Datenbanken nicht nur an Überzeugungskraft, sondern auch an Bedeutung zu verlieren scheint. Die in weiten Teilen hauptsächlich reihende Präsentation des Materials ergab bei mir jedenfalls eine eher ermüdende Lektüre.

Hans Peter Duerr: Die Fahrt der Argonauten. Berlin: Insel, 2011. Pappband, 1111 Seiten. 34,90 €.

Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen

978-3-15-021702-3Ein kurze, gut lesbare Einführung in die Geschichte der Entzifferung antiker Schriftsysteme von den ägyptischen Hieroglyphen über verschiedene andere Hieroglyphen und Keilschriften bis hin zu Linear B. Es folgen dann noch kurze Kapitel zu nicht bzw. nur teilweise entzifferten Schriften wie Linear A, das Etruskische, die Indus- und die Osterinselschrift.

Das Buch ist für ein Sachbuch schon etwas betagt. Es wurde erstmals 1957 veröffentlicht und dann 1993 in einer Neubearbeitung erneut aufgelegt; in dieser Fassung wurde es 2008 von Reclam noch einmal gedruckt. Auch der überarbeiteten Fassung merkt man noch deutlich ihre Herkunft aus den 50er Jahren an, als Sachbücher noch versuchten, mit lebhaften Darstellungen zu glänzen. Leider bemerkt man das Alter auch an anderen Stellen:

Sayce war nicht, wie heute außerhalb Großbritanniens gerne behauptet wird, Engländer, sondern Waliser, stammte beiderseits von altadeligen und begüterten walisischen Familien ab und hatte auch das Walisische zur Muttersprache. So findet sich auch in diesem ungewöhnlichen Forscher der keltische Hang zum Grübeln und Sinnieren, die keltische Lust am fabulieren (die ihm in seinen Arbeiten so manchen Streich spielte), aber auch die impulsive Wärme und das überschäumende Temperament, das man seinen Stammesgenossen gerne nachsagt.

Zum Glück sind solche Passagen, in denen der Autor dem germanischen Hang zum Unsinnreden nachgibt, eher selten.

Insgesamt eine gute, informative Darstellung, die den Laien weder unter- noch überfordert.

Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen. Reclam Taschenbuch 21702. Stuttgart: Reclam, 22008. 350 Seiten. 9,90 €.

Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen

feuchtwanger_josephus_III Der dritte Band der Josephus-Trilogie. Das Buch ist zuerst 1942 in einer englischen Übersetzung erschienen, dann 1945 das deutsche Original. Der Roman verschärft die Tendenzen, die sich schon im zweiten Teil Die Söhne beobachten ließen: Der Autor kann mit seinem ursprünglichen Protagonisten Josephus Flavius nun noch weniger anfangen als bislang schon. So gerät das Buch zu einem historischen Roman über den Kaiser Domitian, in dem Josephus nurmehr eine Nebenfigur abgibt. Josephus ist zwar weiterhin mit dem Kaiserhaus schicksalhaft verbandelt, aber weder der Umfang der Anteile am Text, die ihm gewidmet sind, noch die darin geschilderten Ereignisse heben ihn wesentlich über andere Nebenfiguren in diesem Roman heraus. So erfahren wir etwa ausführlich vom Schicksal der Vestalin Cornelia, die im berauschten Zustand vom Privatsekretär des Kaisers beschlafen und deshalb einem jämmerlichen Tod zugeführt wird. Oder von Clemens und Domitilla, deren Söhne Domitian zu seinen Nachfolgern bestimmt hat, und die deshalb als störende Elemente in der Erziehung der Knaben beseitigt werden müssen. Oder von der Kaiserin Lucia, ihrem Einfluss, ihrer Macht und ihren Sym- und Antipathien dem Kaiser gegenüber. Usw. usf.

Feuchtwanger war diese Schwäche des Romans natürlich bewusst. Er hat versucht sie dadurch zu verschleiern, dass er die Josefs-Figur an Anfang und Ende des Romans prominent präsentiert – so wird seinem Tod das Schlusskapitel gewidmet, das deshalb auch wie angeklebt wirkt – und außerdem den Roman in zwei Teile gliedert, deren ersten er »Domitian« und deren zweiten er »Josephus« überschreibt. Erzählt wird über Joseph in etwa das folgende: Er sitzt daheim mit seiner neuen Familie, die er mit Mara gegründet hat und schreibt an seiner »Geschichte des jüdischen Volkes«. Er tritt nur selten in der Öffentlichkeit auf und lebt ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben für einen Mann seines Ruhms. Aufgrund seiner prominenten Position unter dem Kaiser Vespasian ist er am Hofe aber nicht vergessen. Er nimmt am Besuch einer Delegation jüdischer Gelehrter aus Jabne beim Kaiser teil, bei der unter anderem erörtert wird, dass der Messias dem Geschlecht  Davids entstammen soll, was auch für Josephus zutrifft. Der Kaiser will nun alle Nachfahren Davids töten lassen, um sicher zu gehen, dass es keinen Messias wird geben können, fürchtet sich aber vor dem unsichtbaren Gott der Juden so sehr, dass er doch lieber darauf verzichtet. Stattdessen sucht er lieber eine Gelegenheit, Josephus zu verletzen, die er auch findet, als dessen Sohn Matthias ins Gefolge der Kaiserin Lucia eintritt und in die Affäre um die oben schon erwähnte Domitilla verwickelt wird. Dies liefert Domitian den Vorwand, Matthias ermorden zu lassen. Josephus überführt die Leiche des Matthias zur Beisetzung nach Judäa und verbringt den Rest seines Lebens dort. Mit über 70 lässt er sich noch einmal von nationalistischen Gefühlen hinreißen und wird von einer Gruppe römischer Soldaten beiläufig zu Tode geschleift.

Auch in diesem Buch zeigt sich wieder Feuchtwangers Desinteresse an Entwicklung oder Veränderung seiner Figuren. Domitian gleicht als Kaiser in seinen Befürchtungen und Motivationen weitgehend seinem Bruder und Vorgänger im Amt Titus, er reagiert nur bösartiger auf sie. Josephus ändert sich in den mehr als 50 Jahren, die die Trilogie umfasst, nicht – wie Feuchtwanger im Roman explizit schreibt –, sondern bleibt im Grunde derselbe eitle, von sich und seiner Sendung überzeugte Dummkopf, der er von Anfang an ist. Das eigentliche Problem mit dieser Hauptfigur ist aber, dass sie die knapp 1.500 Seiten der Trilogie einfach nicht trägt. So wiederholt sich vieles und die soziale Dynamik der Figuren hat sich lange erschöpft, bevor der Leser den dritten Band erreicht. Was bleibt, ist ein Erzählen historischer Ereignisse, von denen sich einige ereignet haben mögen, die meisten aber sicherlich nicht. Insoweit bleibt die Trilogie am Ende eine Enttäuschung, gut zum Zeitvertreib, mehr aber nicht. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, für den genügt es, den ersten Band Der jüdische Krieg zu lesen und den ersten Teil dieses dritten Bandes.

Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen. Aufbau Taschenbuch 5604. Berlin: Aufbau, 32006. 439 Seiten. 10,00 €.

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P.S.: Was den Aufbau Verlag wohl dazu getrieben haben mag, ausgerechnet Catilina als Abbildung aufs Cover zu setzen?

Lion Feuchtwanger: Die Söhne

feuchtwanger_josephus_II Zweiter Teil der Josephus-Trilogie. Wie bei der Besprechung von Der jüdische Krieg bereits festgestellt, war das Werk ursprünglich nur auf zwei Bände angelegt. Ein Nachwort Feuchtwangers zu Die Söhne teilt dem Leser mit, dass der zweite Band bei Erscheinen des ersten bereits vollständig konzipiert und zu einem großen Teil auch geschrieben war. Diese Fassung und die zugehörigen  Materialien wurde bei der Plünderung von Feuchtwangers Haus im März 1933 – Feuchtwanger befand sich seit November 1932 im Ausland – durch die Nationalsozialisten vernichtet. Feuchtwanger schreibt weiter:

Den verlorenen Teil in der ursprünglichen Form wiederherzustellen erwies sich als unmöglich. Ich hatte zu dem Thema des »Josephus«: Nationalismus und Weltbürgertum, manches zugelernt, der Stoff sprengte den früheren Rahmen, und ich war gezwungen, ihn in drei Bände aufzuteilen.

Ob das dem Roman gut getan hat, ist natürlich eine kaum zu entscheidende Frage. Allerdings ist das Buch recht handlungsarm und langatmig geraten. Es beginnt mit dem Tod Kaiser Vespasians (79) und erstreckt sich bis über den Tod Titus’ (81) hinaus in die erste Regierungszeit von dessen Bruder Domitian. Wie der Titel schon vorgibt, steht im Zentrum eines Großteils der Handlung der Kampf des Josephus Flavius um seine beiden Söhne: Simon, sein »jüdisches Kind«, das er zusammen mit seiner ersten Frau Mara gezeugt hat, und Paulus, dessen Mutter die Ägypterin Dorion ist, die den Knaben im Sinne der griechischen Kultur erziehen lässt und dem Joseph aus einem Rachebedürfnis heraus entfremdet. Joseph kämpft um seinen Sohn Paulus, in dem er sein Ideal des jüdisch-griechischen Weltbürgers zu verwirklichen sucht, indem er ein Adoptionsverfahren anstrengt. Als er die Gunst des Kaisers Titus für sich erlangen kann, gewinnt er den Prozess, gibt den nun rechtlich unter seiner Obhut stehenden Jungen aber seiner Mutter zurück, als er begreift, wie unglücklich er ihn durch die Trennung von Mutter und Lehrer gemacht hat. Unterdessen ist der etwas von Joseph vernachlässigte Simon bei einem jugendlichen Kampfspiel verunglückt und ums Leben gekommen.

Dann kehrt Joseph nach Judäa zurück. Hier trifft er seine erste Frau Mara wieder, und es gibt eine ganze Menge Gerede um die jüdische Sekte der Christen und den Fortbestand des Judentums überhaupt. Josephus wird für eine Weile in die lokalen religiös-politischen Streitigkeiten verwickelt, entschließt sich dann aber überraschend, Mara wieder zu heiraten und nach Rom zurückzukehren, um endlich mit seiner großen Geschichte des jüdischen Volkes zu beginnen. Das Buch endet mit einer durch Domitian inszenierten öffentlichen Demütigung Josephs, die ihn für immer von seinem Sohn Paulus zu trennen scheint.

Der offensichtlichste Mangel des Buches ist wohl, dass Feuchtwanger ein ausreichend gewichtiger Handlungsfaden fehlt: Während in Der jüdische Krieg der Krieg, seine Vorgeschichte und seine Folgen das Unterfutter für eine Art von Entwicklungsroman Josephs lieferte, fehlt eine solche grundierende Fabel diesmal. Das Buch erschöpft sich daher über weite Strecken darin, zwischen einzelnen Figuren und Schauplätzen hin und her zu springen, ohne dass der Leser einen Eindruck davon bekäme, wo das ganze hinaus will. Der Charakter des Josephus bleibt weitgehend statisch; der Entwicklungsroman wird nicht fortgesetzt, man hat den Eindruck, dass der Autor selbst nicht so recht weiß, was er mit seinem Protagonisten anfangen soll. Dafür treten ideologische Aspekte stark in den Vordergrund: Es wird an einer breiten Zahl von Fällen erörtert, wie Isolationismus der Juden und Vorurteile der Nichtjuden einander bedingen und verstärken, so dass auch der Gutwilligste unfähig bleibt, die Schranken zu überwinden. Allerdings ist derlei höchstens ausreichend für eine Kurzgeschichte und trägt keinen Roman.

Insgesamt ein Buch, das sich nicht recht entscheiden kann, was es nun eigentlich erzählen will, deshalb viele Versuche und nur wenig wirklich Gerundetes enthält.

Lion Feuchtwanger: Die Söhne. Aufbau Taschenbuch 5603. Berlin: Aufbau, 32006. 527 Seiten. 10,00 €.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg

feuchtwanger_josephus_I Der erste Roman einer Trilogie, in deren Zentrum der jüdisch-stämmige Historiker Josephus Flavius steht. Der erste Band umfasst in etwa fünf Jahre vom ersten Besuch Josefs in Rom noch unter der Herrschaft Neros bis zu seiner Rückkehr dorthin unter dem Kaiser Vespasian. In der Zwischenzeit hat er eine erstaunliche Karriere hinter sich gebracht: Vom jüdischen Rebellenführer im Kampf gegen die römische Besatzungsmacht Judäas über die Gefangenschaft bis zum offiziellen Kriegsberichterstatter des jüdischen Krieges und persönlichen Berater des Kaisersohns Titus. Am Ende des Romans ist aus dem jungen jüdischen Juristen ein kompletter Außenseiter geworden: Die jüdischen Gemeinden Jerusalems und Roms feinden ihn an und das römische Bürgerrecht, das er sich für einen hohen Preis vom Kaiser hatte erwerben müssen, um seine Geliebte heiraten zu können, erscheint als eine Äußerlichkeit, der keine soziale Gemeinschaft entspricht.

Der Roman konzentriert sich auf einige wenige »große Figuren« der Zeit, wobei deren Motivationen nicht immer ganz zu überzeugen wissen. Auch die konkreten politischen Vorgänge – so etwa die Ausrufung Vespasians zum Kaiser – bleiben eher schemenhaft. Auch der Alltag der »kleinen Leute« in Rom und dem Nahe Osten bleibt bis auf einzelne Schilderung der Unterschiede zwischen jüdischen und römischen Haushalten eher blass. Sehr überzeugend sind dagegen die Belagerung und Zerstörung Jerusalems, deren Beschreibung sicherlich den Höhepunkt des Buches bilden.

Die Entwicklung des Protagonisten hebt sich recht positiv von der Darstellung der anderen Figuren ab: Josef Ben Matthias beginnt seine Karriere als ein hoch begabter, aber auch etwas selbstverliebter junger Mann, der erst langsam lernt, dass seine Handlungen neben den erwünschten auch unerwünschte und von ihm unvorhergesehene Konsequenzen zeitigen, dass sein Konzept des »Vernünftigen« durchaus nicht von allen seinen Zeitgenossen geteilt wird und dass er schließlich weit öfter Getriebener als Treiber ist.

Das Ende des Buches macht deutlich, dass es nicht für sich steht, sondern eine Fortsetzung konkret geplant geplant war; allerdings hatte Feuchtwanger wohl vorerst an einen, nicht zwei weitere Bände gedacht. Es hat sich dann so ergeben, dass die drei Bände der Josephus- zwischen 1931 und 1941 alternierend mit denen der Wartesaal-Trilogie entstanden sind. Die beiden Folgebände werden ebenfalls hier vorgestellt werden.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg. Aufbau Taschenbuch 5602. Berlin: Aufbau, 32006. 463 Seiten. 10,00 €.

Kleine Geschichte der Zeitrechnung …

holford-streven_zeitrechnun … und des Kalenders. Eine kurze, dichte und informative Einführung in das Gebiet von Leofranc Holford-Strevens, einem der beiden Autoren des hervorragenden Oxford Companion to the Year. Behandelt werden alle wichtigen Details der bedeutenden Kalendersysteme von der Antike (inklusive des präkolumbischen Kalenders Mittelamerikas) bis in die Neuzeit; selbst einige afrikanischen Besonderheiten finden Erwähnung. Das Kapitel zur Historie der Osterberechnung ist das ausführlichste und beste, das ich bislang in einer vergleichbaren Veröffentlichung gelesen habe. Ebenso findet man wohl nirgendwo sonst eine so knappe und zugleich detaillierte chronologische Darstellung der Einführung des Gregorianischen Kalenders in Europa.

Für alle, die sich für verschiedene Kalendersysteme interessieren oder mit ihnen im Sinne einer Hilfswissenschaft umgehen müssen, stellt diese Einführung eine kleine und preiswerte Alternative zum Oxford Companion dar, natürlich ohne diesen ersetzen zu können. Aber auf sehr viele Fragen wird man schon hier eine Antwort finden.

Leofranc Holford-Strevens: Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders. Aus dem Englischen übersetzt von Christian Rochow. RUB 18483. Stuttgart: Reclam, 2008. 192 Seiten. € 5,–.

Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt

sidebottom_krieg Eine interessante kleine Studie, wenn mich auch der Titel zuerst ein wenig in die Irre geleitet hat. Das Buch beschäftigt sich mit dem »Krieg in der antiken Welt« selbst eher unsystematisch; in der Hauptsache handelt es vom ideologischen Konzept der »abendländischen Art der Kriegführung«. Dies soll nicht bedeuten, das Buch sei nicht informativ; das Gegenteil ist der Fall. Nur wird die Darstellung der antiken Sachverhalte nicht in einer vermeintlich objektiven und neutralen Art und Weise versucht, sondern sie werden stets durch eine spezifische Interpretation dieser Sachverhalte vermittelt. Diese Interpretationen können sowohl der Antike selbst als auch der neueren Geschichtsschreibung entstammen. Dabei ist Sidebottom nicht kleinlich, was die Art der »Geschichtsschreibung« angeht: An gleich drei Stellen ist Ridley Scotts Film »Gladiator« Auslöser seiner Ausführungen.

Hat man sich einmal auf den ideologiekritischen Ansatz des Autors eingelassen, so liefert das Buch zahlreiche interessante Aspekte des antiken Kriegswesens. Die Mehrzahl der Beispiele entstammt der griechischen und römischen Antike; Perser, Germanen, Gallier etc. kommen nur insoweit vor, als sie Gegner der Griechen oder Römer waren und damit zugleich auch ihr ideologisches Gegenbild darstellten. Behandelt werden sowohl der Krieg als Aspekt der griechischen und römischen Gesellschaften, als Teil ihres Selbstverständnisses, aber auch der konkrete Aufbau der Armeen, ihre Kampftechniken, Probleme der Logistik und der Ökonomie.

Insgesamt eine lesenswerte und anregende Einführung in das Thema mit einem anspruchsvollen Ansatz, die aber die Erwartungen historischer Laien wohl nur teilweise erfüllen wird.

Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt. Aus dem Englischen übersetzt von Florian Himmler. RUB 18484. Stuttgart: Reclam, 2008. 224 Seiten. € 5,60.

Die eine Hälfte des Verfalls

gibbon_printEs ist ein merkwürdiger Torso, den dtv im November 2003 mit seiner neuen, anspruchsvollen Übersetzung des Gibbon dem deutschen Publikum vorgelegt hat: Mit Michael Walter übersetzt einer der profiliertesten und besten Kenner des Englischen des 18. Jahrhunderts das bedeutende Geschichtswerk der vorromantischen Epoche neu und – lässt es zugleich bleiben. Edward Gibbons »Decline and Fall of the Roman Empire« ist im englischsprachigen Raum wahrscheinlich die bis heute meistgelesene umfangreiche geschichtliche Darstellung überhaupt. Das Buch sorgte aufgrund seines distanzierten Blicks auf das frühe Christentum im Römischen Reich schon während seines Erscheinens europaweit für Aufregung, und die ersten Bände wurden bereits vor Abschluss des Gesamtwerks erstmals ins Deutsche übersetzt. Seitdem hat Gibbons monumentale Darstellung immer neue Auflagen sowohl des Gesamtwerks als auch diverser Ausgliederungen erlebt.

Der Text der neuen dtv-Ausgabe umfasst die ersten drei der insgesamt sechs Bände des Originals und endet mit dem Untergang des Weströmischen Reiches. Die nachfolgenden drei Bände, die die Geschichte Ostroms, sprich Byzanz’ bzw. Konstantinopels bis zur Eroberung der Stadt im Jahr 1453 enthalten, fehlen kommentarlos. Es findet sich weder eine herausgeberische Reflexion zu dieser Halbierung noch etwa die Ankündigung einer Fortsetzung oder Vervollständigung der vorgelegten Ausgabe.

Eine weitere Merkwürdigkeit tritt hinzu: Mit Michael Walter zeichnet, wie bereits gesagt, ein profilierter und stilistisch brillanter Übersetzer für den deutschen Text dieser Teil-Ausgabe verantwortlich, wenigstens für einen Teil des Teils. Denn Walter scheint seine Übersetzung nach dem Kapitel XXXII abgebrochen zu haben; alle Fußnoten, die Kapitel XXXIII bis XXXVIII und die den dritten Band des Gesamtwerks abschließenden »General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West« sind von Walter Kumpmann übersetzt. Auch diesen Umstand thematisiert die Ausgabe so wenig wie möglich, geschweige denn, dass sie ihn erklärt.

gibbon_fallAls sei dies alles nicht merkwürdig genug, hat sich der Verlag der Digitalen Bibliothek, die normalerweise für umfängliche und möglichst vollständige Ausgaben steht, entschlossen, den Torso des dtv-Verlages unverändert (inklusive der Druckfehler) und ohne Ergänzungen auf einer CD-ROM zu publizieren. Dabei ist das mit den »Ergänzungen« allerdings auch leichter hingeschrieben als getan, denn die letzte einigermaßen vollständige Ausgabe des »Verfalls und Untergangs« stammt vom Anfang des 19. Jahrhunderts und dürfte vermutlich in einem auffälligen stilistischen Kontrast zu Walters Übersetzung stehen. Und die Beigabe des englischen Textes hätte die digitale Ausgabe nicht nur im Preis bedeutend teurer (und damit unverkäuflicher) gemacht, sondern den fragmentarischen Charakter dieser deutschen Ausgabe entweder verdoppelt oder überaus auffällig gemacht, je nachdem ob man nur drei oder alle sechs Bände im Englischen beigegeben hätte.

Sieht man von all diesen Halbheiten einmal ab, so präsentieren die beiden Ausgaben den seit ungefähr 200 Jahren vollständigsten und sicherlich lesbarsten Gibbon in deutscher Sprache. Für den heutigen Leser ist weniger die sachliche Richtigkeit der Darstellung Gibbons en détail entscheidend als vielmehr sein erzählender Stil, sein origineller Blick und sein Humor, denn dies sind die Eigenschaften, die den konstanten Erfolg des Buches über die Jahrzehnte hinweg garantiert haben.

Mit dem ehrwürdigen Prokonsul [Gordian] wurde zugleich sein Sohn, der ihn als Legat nach Africa begleitet hatte, zum Kaiser erklärt. Er war weniger sittenstreng, doch im Wesen ebenso liebenswürdig wie sein Vater. Zweiundzwanzig anerkannte Konkubinen und eine zweiundsechzigtausend Bände umfassende Bibliothek bezeugten die Vielfalt seiner Neigungen, und wie seine Hervorbringungen beweisen, dienten beide Sammlungen mehr dem Gebrauch als zur Prahlerei.

Die Ausgabe wird ergänzt durch zahlreiche Bibliographien, ein Personenregister und einen hervorragenden, knapp 100 Seiten langen Essay von Wilfried Nippel über Gibbon. Zwischen der gedruckten und der digitalen Ausgabe besteht ein Preisunterschied von 48,– € und dies könnte ein Vermarktungsmodell für die Zukunft darstellen: Umfangreiche Werke, die im Taschebuch erscheinen, werden nach einigen Jahren als digitale Ausgaben auf den Markt gebracht, die so zum Taschenbuch des Taschenbuchs werden könnten. Die üblichen Vorteile einer digitalen Ausgabe mit der bewährten Software der Digitalen Bibliothek mit Volltextsuche, Lesezeichen, Notizen und Markierung verstehen sich als Dreingaben inzwischen ja beinahe von selbst.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. 6 Bde. dtv, 2003. Kartoniert, 2296 Seiten. 78,– €.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. Digitale Bibliothek Band 161. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Robert Graves: I, Claudius

Die erneute Lektüre wurde angeregt durch ein Gespräch über die hervorragende BBC-Serie nach Graves beiden Claudius-Romanen, die ich vor einiger Zeit auf DVD gekauft hatte. Ich hatte das Buch als Jugendlicher auf Deutsch gelesen und dann vor über zwanzig Jahren die hier gezeigte deutsch-englische Ausgabe aus dem Jahr 1941 geschenkt bekommen. The Albatros war ein Leipziger Verlag, der auf englische Texte für deutsche Leser spezialisiert war. Der Text ist sehr sorgfältig gesetzt, der Buchblock fadengeheftet und anschließend broschiert. Ich habe das Buch während der Lektüre recht lieb gewonnen.

Diesmal habe ich natürlich gemerkt, wie sehr »I, Claudius« ein geschickt aufgefüllter Sueton ist. Aber die Betonung liegt eben auf dem Wort geschickt, denn Graves gelingt es ganz erstaunlich gut, auf der Grundlage des Berichts von Sueton eine Romanhandlung zu stricken, die die Zeit von den letzten Jahren der Regierung Augustus’ bis zur Einsetzung von Claudius als Kaiser umfasst. Die meisten Leser werden sich so wie ich auf den ersten einhundert Seiten auf den Berichtston des Romans einstellen müssen. Graves gestaltet Claudius als einen Historiker, der auch in dieser privaten Familiengeschichte seine eigentliche Berufung nicht verleugnen kann und will. Später wird der Text auch reicher an Dialogen und damit unmittelbarer in seiner Darstellung, aber er gerät nie zu einem der typischen historischen Romane, wie etwa Clavell oder Jennings sie später geschrieben haben. Mir ist unklar, wie weit dies Berechnung des Autors ist oder ob er einfach Zeit gebraucht hat, um den Ton für das Buch zu finden.

»I, Claudius« ist ein gewendeter Narrrenroman: Claudius kann gelesen werden als klassische Narrenfigur, an deren vermeintlicher Beschränktheit sich die fürchterliche Normalität seiner Welt bricht; in einer solchen Lektüre ist das Spannenste wahrscheinlich, dass der Narr Claudius beinahe als der einzig geistig Gesunde erscheint, während der überwiegende Teil seiner Familie sich auf die ein oder andere Weise dem Wahnsinn überantwortet. Claudius ist der Fels in der Brandung, dessen Stoizismus dem Leser die Ungeheuerlichkeit der berichteten Ereignisse erst glaubhaft und wahrscheinlich macht.

Eine Rezension des Nachfolgebandes »Claudius the God« folgt hier bei Gelegenheit.

Aktuelle Ausgabe:
Graves, Robert: I, Claudius
Penguin, 2001. ISBN 0-14-000318-5
Kartoniert – 400 Seiten – ca. 15,00 Eur