Karen Duve: Taxi

duve_taxi Nach ihrem Regenroman erst mein zweites Buch von Karen Duve und wieder ist der vorherrschende Eindruck: Diese Frau kann einfach erzählen. Auch dieses Mal haut mich der Inhalt nicht besonders vom Hocker, aber ich muss eingestehen, dass ich die über 300 Seiten gern und zügig gelesen habe. Duve verarbeitet offensichtlich ihre eigenen Erfahrungen als Taxifahrerin, aber das Buch bleibt weder im Autobiografischen noch im Anekdotischen stecken. Besonders letzteres ist eine erzählerische Klippe, an der zu scheitern der Stoff anbietet. Duve hat das so gelöst, dass sie den Stoff auf zwei Ebenen verteilt: Die eine bleibt klar anekdotisch, während auf der anderen eine Art statischer Entwicklungsroman erzählt wird.

Ich-Erzählerin ist Alex Herwig, die nach einer abgebrochenen Ausbildung zur Versicherungskauffrau nichts mit sich anzufangen weiß und deshalb beginnt, Taxi zu fahren. Es braucht einige Zeit, bis sie feststellt, dass dies ihr Grundproblem nicht beseitigt, sondern nur verschiebt. Sie lässt sich aus lauter Trägheit auf eine Beziehung mit ihrem Kollegen Dietrich ein – einem Taxi fahrenden Künstler – und pflegt darüber hinaus noch einige andere Herrenbekanntschaften, da sie sich eigentlich nicht binden will. Die Handlung umfasst mehr als fünf Jahre, wobei nur die erste und die letzte Phase dieses Zeitraums erzählt werden. Die Protagonistin, die schon zu Anfang kein sehr positives Menschenbild pflegt, entwickelt mit den Jahren eine ernsthafte Depression begleitet von solider Misanthropie. Das alles bleibt erträglich, weil der Text einerseits nirgends ins Wehleidige gerät, anderseits die innere Unbeweglichkeit der Heldin immer von ihrem anekdotisch-bewegten Leben als Taxifahrerin gekontert wird. Erzählerisch ist das gut gemacht, und selbst seine Poetik liefert das Buch en passant mit:

»Die Unterhaltungsfunktion von Büchern ist ja auch längst überholt«, sagte Rüdiger. »Wer sich unterhalten lassen will, k-kann das viel besser tun, indem er den Fernseher anstellt. Die Funktion von Büchern kann heute nur noch in der geistigen Erfrischung bestehen. […]«

Einzelne sprachliche Schwächen – so wird etwa »gegenüber« im Deutschen immer noch mit Dativ konstruiert – muss man heutigen Autoren wohl insgesamt nachsehen. Auch die etwas merkwürdige Typographie des Bandes – die Sätze aus dem Taxifunk werden in einer im Vergleich zu Grundschrift deutlich kleineren, zudem serifenlosen Schrift, die auch noch halbfett gesetzt ist, wiedergegeben – lässt sich tolerieren.

Intelligente, gut erzählte und humorvolle Unterhaltung.

Karen Duve: Taxi. Frankfurt/M.: Eichborn, 2008. Pappband, 313 Seiten. 19,95 €.

P.G. Wodehouse: Jetzt oder nie!

wodehouse_jetztWieder ein Band in der guten Übersetzung von Thomas Schlachter, von der andere  hier schon vorgestellt wurden.  Er ist nach dem bewährten Strickmuster Wodehouses geschrieben: Ein begrenztes Personal wird auf einem Landsitz – diesmal Claines Hall in Sussex – versammelt, eine Anzahl einer widersprechender Interessen ins Werk gesetzt und dann konsequent ein Reigen der Verwirrungen und Verwechslungen durchgeführt. Der Landsitz gehört in diesem Fall Mable und Howard Steptoe, einem amerikanischen Ehepaar. Mable versucht mit einigem Aufwand vom lokalen Adel anerkannt zu werden, während sich Howard, ein ehemaliger Boxer und Filmstatist, sich in England denkbar unwohl und fehl am Platz fühlt. Mable versucht ihren Gatten mithilfe eines Kammerdieners zur Gesellschaftsfähigkeit zu erziehen, hat damit aber nur begrenzten Erfolg, da Howard einen Diener nach dem anderen vergrault. Auf dem Landsitz leben außerdem noch Sally Fairmile, eine verarmte Nichte der Steptoes, die die Stelle einer unbezahlten Bediensteten ausfüllt, Mrs Chavendar, eine Freundin Mables, und Lord Holbeton, der sich gerade heimlich mit Sally verlobt hat. Holbeton steht nach dem Tod seines Vaters unter der Vormundschaft von James Duff, eines Londoner Schinkenfabrikanten, der zudem noch vor 15 Jahren mit Mrs Chavendar verlobt war.

Alles beginnt nun damit, dass sowohl Mrs Chavendar als auch Sally die Büroräume James Duffs aufsuchen, jene, um sich über die Ungenießbarkeit des Duffschen Premium-Schickens zu beschweren, diese, um Duff über die Verlobung in Kenntnis zu setzen und nach Möglichkeit ein bisschen Geld aus dem alten Herrn herauszubetteln. Beide Damen treffen aber hauptsächlich auf Joss Weatherby, einem von James Duff beschäftigten jungen Malers, der einerseits Duff das Leben gerettet, andererseits Mrs Chavendar porträtiert hat. Joss verliebt sich Knall und Fall in Sally, von der er unter anderem erfährt, dass sie wieder einmal auf der Suche nach einem neuen Kammerdiener für Howard Steptoe ist. Joss erkennt darin eine Chance, Sally den Hof zu machen und fährt sofort nach Claines Hall, um sich auf die Stelle zu bewerben. Duff dagegen setzt es sich in den Kopf, das in Caines Hall befindliche Porträt Mrs Chavendars in seinen Besitz zu bringen, um dieses Konterfei zu Werbezwecken für seine Schinken einzusetzen. Auch er macht sich daher nach Sussex auf und stiftet vor Ort sowohl Sally und Lord Holbeton als auch Joss dazu an, das Bild zu stehlen.

Aus dieser Konstellation heraus entwickelt Wodehouse eine seiner routinierten Prosakomödien, deren Motive der Wodehouse-Kenner sicherlich schon aus dem einen und anderen kennen wird. Dennoch eine angenehme und elegante Lektüre für Zwischendurch.

P.G. Wodehouse: Jetzt oder nie! Mit einem Nachwort von Evelyn Waugh. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Suhrkamp Taschenbuch 3774. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. 235 Seiten. 7,90 €.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / …

conrad_jugend … Das Ende vom Lied. Drei Erzählungen Joseph Conrads, die in dieser Zusammenstellung zum ersten Mal 1902 erschienen sind. In dem mitgelieferten Vorwort Conrads aus dem Jahr 1917 weist der Autor jegliche Idee einer zyklischen Anlage der Sammlung zurück und betont, dass die Texte nur aufgrund ihrer in etwa zeitgleichen Entstehung zusammengehören. Karriere gemacht hat bekanntlich Herz der Finsternis, das spätestens durch die freie Variation in Apocalypse Now in der westlichen Kultur Kultstatus bekommen hat.

Allerdings lag bislang keine wirklich gute Übersetzung vor. Ich selbst hatte mir nach der ersten Lektüre der englischen Originale Conrads eigentlich vorgenommen, keine weiteren Übersetzungen seiner Bücher ins Deutsche zu lesen. Doch als mir letztens von meinem Buchhändler der hier vorgestellte Band in die Hand gedrückt wurde, war ich erstaunt, wie genau der Ton der ersten Seite von Herz der Finsternis meiner Erinnerung an das Original entsprach. Dieser erste Eindruck hat sich gehalten: Die Übersetzungen haben durchgängig ein hohes Niveau und ein genaues Gespür für die von Conrad tonal erzeugten Stimmungen. Das lässt sich natürlich nicht in allen Fällen nachbilden, ist aber hier besser gelungen, als ich es bislang in irgend einer der älteren Übersetzungen gefunden habe.

Die beiden ersten Erzählungen haben eine Rahmenerzählung, in der Conrads Erzählerfigur Marlow in einem Kreis Londoner Bekannter eigene Erlebnisse berichtet: Jugend von seiner ersten Fahrt als Zweiter Offizier auf einem heruntergekommenen Frachter, der schließlich auf hoher See Opfer eines Schwelbrandes in der Ladung wird, Herz der Finsternis von seiner Zeit als Kapitän auf dem Kongo und seiner Begegnung mit dem Handelsagenten Kurtz, der – halb wahnsinnig, halb hybrider Philosoph – im Kern die Faszination und begriffliche Hilflosigkeit der Weißen angesichts der Konfrontation mit dem schwarzen Kontinent widerspiegelt.

Die wohl insgesamt weniger bekannte Erzählung Das Ende von Lied (deren Originaltitel The End of the Tether den sprichwörtlichen Geduldsfaden mit ins assoziative Spiel bringt), ist die Geschichte des alternden Kapitän Whalley, der sich, um seine verheiratete Tochter finanziell unterstützen zu können, noch einmal für drei Jahren als Kapitän verpflichtet. Dies erweist sich für ihn als ein Wettlauf mit der Zeit und der eigenen Gesundheit. Diese Erzählung kann als ein Musterstück retardierenden Erzählens gelesen werden, denn die Fabel bleibt wesentlich anekdotisch und ließe sich ohne großen Verlust auf zwei Seiten zusammenfassen. Doch die ausführliche Beschreibung zahlreicher Nebenfiguren, ihrer Motive und Geschichte sowie die beinah quälende Verzögerung der Auflösung des Rätsels um Kapitän Whalley machen diesen Text mit beinahe 130 Seiten zum längsten des Bandes.

Wer mit der Lektüre Conrads beginnen möchte, dem sei dieser Band ans Herz gelegt; die anderen, die Conrad nicht im Original lesen, mögen hier nachschauen, was einem sorgfältigen Übersetzer im Deutschen möglich ist.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / Das Ende vom Lied. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 379 Seiten. 19,90 €.

Alan Bennett: The Uncommon Reader

bennett_reader Der Titel spielt auf eine im angelsächsischen Raum recht bekannte zweibändige Essaysammlung Virginia Woolfs an, die The Common Reader überschrieben ist, was wiederum ein Ausdruck Dr. Johnsons ist. Im Mittelpunkt von Bennetts Erzählung steht nun allerdings eine äußerst ungewöhnliche Leserin: Queen Elizabeth II., die beim Gassigehen mit ihren Corgis hinter ihrem Palast zufällig auf einen Bücherbus stößt, der die Dienerschaft ihrer Majestät mit Lesestoff versorgt. Höflich, wie sie ist, betritt sie den Bus und trifft dort auf einen ihrer Küchenjungen, Norman Seakins. Und da sie nun einmal die Gelegenheit hat, entleiht sie als weiteres Zeichen ihrer königlichen Gnade einen Roman von Ivy Compton-Burnett, an deren Adelung sich die Königin noch gut erinnern kann.

Dies ist der Beginn einer neuen Beschäftigung der Queen: Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren liest sie einen Roman, liest einfach nur, um zu lesen. Der junge Norman Seakins wird zum Pagen befördert und mit den königlichen Lektürewünschen betraut. Und Elisabeth II. wird zu einer leiderschaftlichen Leserin; bald sind ihr die öffentlichen Obliegenheiten und Repräsentationspflichten nur mehr lästig, und ihre Majestät kehrt bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ihren Büchern zurück. Und als sei all dies nicht schon schlimm genug, denkt sie schließlich darüber nach, selbst ein Buch zu schreiben, etwas im Stil Prousts vielleicht …

Diese kleine Erzählung hat einen wundervollen Humor und transportiert auf ihren etwa 120 Seiten viele Erfahrungen, die jeder ernsthafte Leser im Verlauf seiner Lesegeschichte auch selbst gemacht hat. Sowohl der Widerstand des Hofstaates gegen das veränderte Verhalten der Königin, als auch das gänzliche Unverständnis der königlichen Familie, bieten einen wundervoll ironischen Blick auf das Haus Windsor – besonders Prinz Philip hat mir viel Freude gemacht:

‘We have a travelling library,’ the Queen said to her husband that evening. ‘Comes every Wednesday.’
‘Jolly good. Wonders never cease.’
‘You remember Oklahoma?’
‘Yes. We saw it when we were engaged.’ Extraordinary to think of it, the dashing blond boy he had been.
‘Was that Cecil Beaton?’ said the Queen.
‘No idea. Never liked the fellow. Green shoes.’
‘Smelled delicious.’
‘What’s that?’
‘A book. I borrowed it.’
‘Dead, I suppose.’
‘Who?’
‘The Beaton fellow.’
‘Oh yes. Everybody’s dead.’
‘Good show, though.’
And he went off to bed glumly singing ‘Oh, what a beautiful morning’ as the Queen opened her book.

Das Büchlein erscheint im August in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die souveräne Leserin bei Wagenbach.

Alan Bennett: The Uncommon Reader. London: Faber and Faber, 2008. Paperback, 121 Seiten. Ca. 11,– €.

Charles Dickens: Harte Zeiten

dickens_harte_zeiten Harte Zeiten ist 1854 im Anschluss an Bleakhaus entstanden. Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte des Geschwisterpaares Louisa und Tom Gradgrind, die von ihrem Vater nach einem streng rationalen Programm erzogen werden: Fantasie, Märchen, überhaupt Gefühle aller Art sind verpönt, stattdessen werden die Wissenschaften, insbesondere aber Mathematik – genauer: die Statistik – und Logik hoch gehalten. Die Kinder geraten dementsprechend: Louisa heiratet den Bankier und Webereidirektor Josiah Bounderby, der ihr gänzlich gleichgültig ist, weil sie hofft, damit ihrem Bruder Tom das Leben erleichtern zu können, der in Bounderbys Bank als Angestellter beschäftigt ist. Tom verfällt aber, sobald er dem väterlichen Regime entflohen ist, nahezu sofort der Spielleidenschaft und häuft rasch drückende Schulden an.

In dieser Situation kommt der weltgewandte, aber tief gelangweilte Dandy James Harthouse nach Coketown, einer kleinen, fiktiven Industriestadt, in der der Roman spielt, um sich um einen Parlamentssitz in der Gegend zu bewerben. Er wird als Parteifreund auch im Hause Bounderbys empfangen und entschließt sich gleich bei ihrer ersten Begegnung, Louisa zu verführen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, kümmert er sich um den haltlosen Tom, der gerade zu dieser Zeit einen Einbruch in die Bank vortäuscht, um seine eigene Veruntreuung zu vertuschen. Harthouse nimmt sich Toms als vorgeblicher Freund an, um sich das Vertrauen Louisas zu erwerben, die sich schließlich vor seinen Verführungskünsten, denen sie ebenso wenig entgegenzusetzen hat wie ihren eigenen Gefühlen für diesen Mann, verzweifelt ins elterliche Heim flüchtet. Am Ende scheitern beide Geschwister: Tom muss ins Ausland fliehen, wo er im Elend stirbt, und Louisa wird von ihrem scheinheiligen und angeberischen Ehemann verstoßen und geschieden.

Als Nebenstrang dient die Geschichte Stephen Blackpools, eines Coketowner Arbeiters, der vom Schicksal arg gebeutelt wird: Seine Frau ist Alkoholikerin, die Frau, die er liebt, Rachael, ist genau wie er selbst zu moralisch, um eine außereheliche Beziehung zu beginnen, er ist ein Außenseiter unter den Arbeitern, da er nicht bereit ist, sich ihrem Arbeitskampf anzuschließen und schließlich wird er von seinem Chef Bounderby auch noch entlassen, weil der Blackpools Einstellung nicht versteht. So verlässt Blackpool die Stadt, nicht ohne dass Tom zuvor durch einen kleinen Trick den Verdacht auf ihn lenkt, für den Bankraub verantwortlich zu sein. In dieser Nebenhandlung kommen nicht nur die nicht nur für Dickens typischen aufrechten, hoch moralischen und bitter armen Idealtypen vor, sondern sie wird von ihm auch dazu benutzt, ein erschreckendes Bild von der Industriearbeit seiner Zeit zu zeichnen. Ergänzt wird dieses Bild durch die Figur Slackbridge, der als gewerkschaftlicher Redner und Arbeiterführer an zwei Stellen zu Wort kommt. Dickens ist für die Figur Slackbridges zu Recht scharf kritisiert worden, da er mit seinen letztlich naiven Gutmenschen Blackpool und Rachael die soziale und gesellschaftliche Problematik seiner Zeit eindeutig unterläuft.

Besonders der erste Teil des Romans lebt von Dickens scharfer und witziger Satire gegen den Glauben an eine reine Rationalität, wie sie im Utilitarismus Jeremy Benthams oder John Stuart Mills zum Ausdruck kommt. Sicherlich spitzt Dickens Musterfamilie Gradgrind die Thesen der Utilitaristen polemisch zu, aber der Kritik, die aus den von Dickens aufgezeigten Konsequenzen einer seelen- und mitleidslosen Rationalität folgt, kann sich der Utilitarismus nur schlecht entziehen. Es ist schlicht falsch, zwischenmenschliche Beziehungen auf ein statistisches Rechenexempel reduzieren zu wollen, und wer dergleichen versucht, missversteht wesentlich, worum es im menschlichen Miteinander geht.

Insgesamt sicherlich nicht der gelungenste Roman von Dickens, aber gerade aufgrund seines polemischen Gehalts unterhaltsam und lesenswert. Die Übersetzung von Christiane Hoeppener ist recht korrekt – wenn es auch einzelne Unsicherheiten bei den verwendeten Anreden gibt –, macht aber insgesamt einen eher steifen Eindruck.

Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Christiane Hoeppener. Rowohlt Jahrhundert, Bd. 10. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1987. 382 Seiten. – Diese Übersetzung ist derzeit nur antiquarisch lieferbar.

Lieferbare Alternativ-Ausgabe: Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Paul Heichen. Insel Taschenbuch 955. Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1986 ff. 433 Seiten mit Illustrationen v. F. Walker u. Maurice Greiffenhagen. 11,50 €.

Charles Dickens: Bleakhaus

Dieser in Deutschland eher unbekannte Roman von Dickens gehört in der angelsächsischen Welt zu seinen bekanntesten und gelobtesten. Er ist ab 1852 entstanden und gilt als Auftakt des Spätwerks. Die figurenreiche Handlung erzählt im Kern die Geschichte Esther Summersons, einer Waise, die als junge Frau in den Haushalt ihres Vormunds John Jarndyce aufgenommen wird. John Jarndyce hat ebenfalls die Vormundschaft über Ada Clare und Richard Carstone, die, ebenso wie ihr Vormund, in einen langwierigen Erbschaftsprozess verstrickt sind, der in gewisser Weise das Rückgrat der Erzählung bildet. Denn während der Roman die Geschichte Esthers entfaltet, begleitet er zugleich den moralischen und gesellschaftlichen Fall Richards, dem der schier endlose Prozess »Jarndyce kontra Jarndyce« langsam aber sicher zur fixen Idee und einzigen Lebensperspektive wird. Dickens nutzt diesen Erzählstrang zu einer sorgfältigen Satire des englischen Rechtswesens, in dem er selbst für einige Jahre als Rechtsanwalts-Gehilfe tätig gewesen war.

Der Gang der Handlung ist bei weitem zu komplex und vielfältig, um auch nur zu versuchen, hier eine Inhaltsangabe zu liefern. Neben den eindimensionalen und moralisch blitzsauberen Hauptfiguren tummeln sich zahlreiche skurrile und höchst reizvolle Nebenfiguren, so etwa der intrigante und kaltherzige Anwalt Tulkinghorn oder der hochnäsige und elitäre Sir Leicester Dedlock oder der joviale und zugleich unbestechliche Inspektor Bucket, um nur einige wenige als Beispiele zu nennen. Die Fülle der verwendeten Figuren bedingt eine hohe Komplexität der Handlung, die in zahlreichen Handlungssträngen zugleich vorangetrieben wird. Dabei erweist sich keiner der Stränge als rein dekorativ, sondern alle erfüllen eine genau bestimmte erzählerische Funktion. Ich erlaube mir, ein längeres Zitat Arno Schmidts herzusetzen, das den Gesamteindruck des Buches sehr gut wiedergibt:

Es ist, allein was das ‹Gerüst› der Fabel, die Konstruktion im Großen wie im Kleinsten, anbelangt, von mathematischer Perfektion. Der bloße ‹Leser› merkt das, bewußt, zunächst überhaupt nicht; wogegen der Fachmann auf jeder der 1000 Seiten ein paarmal neidisch die Zähne aufeinandersetzen, und bewundernd die Luft einziehen muß. Es gibt in der ganzen Weltliteratur nur noch 3 oder 4 weitere, ähnlich umfangreiche Stücke, die derart ‹berechnet› wären, derart ‹aufgebaut›. / Vom ersten Satz an, wo Nebel und Dämmerung und die übliche unmenschliche Staats=Justiz=Maschinerie mit einander identifiziert werden, steht kein Wort, keine Episode mehr umsonst: nie sind Zufall – oder, wenn Sie so wollen, Notwendigkeit! – als so eisernes Netz über Menschen und Dinge gespannt worden. Scheinbar zufällige Nebensätzlichkeiten, Ausrufe, Einsilbiges aller Art: wirken sich im Lauf der Handlung aus. Scheinbar belanglose – nicht ‹Taten›, sondern Handgriffe! – führen maschinenhaft, 500 Seiten später, Verbrechen & Tod herbei, Glück oder Unglück Unbekannter, Nie=Gesehener, Nie=Bedachter.

Diese Durchkonstruiertheit des Buches, die sicherlich ein artistisches Glanzstück darstellt, ist zugleich sein wesentliches Manko, da es sich besonders gegen Ende hin in Auflösung und Zusammenführung der zahlreichen Stränge abarbeitet, dabei sogar kurz vor Ultimo noch einen Mordfall in die Handlung einbaut, um sie wenigstens noch ein bisschen spannend zu halten, so dass der geübte Leser dem Schmidtschen Wort »maschinenhaft« oft nur seufzend beipflichten kann. Natürlich stellt das Buch eine beeindruckende schriftstellerische Leistung dar, aber zu vieles bleibt letztlich leerlaufendes Räderwerk einer hybriden erzählerischen Konstruktion. Die Geschichte Esther Summersons bleibt flach – nicht umsonst ist das Buch inzwischen mehrfach mit großem Aufwand als Soap opera verfilmt worden – und vorhersehbar (wenn der Leser nicht immer wieder vergäße, um was es eigentlich geht), und der satirische Gehalt des Buches, der den Zeitgenossen Dickens wohl weit mehr Freude bereitet hat als uns, blitzt nur hier und da in der schieren Masse des Textes auf. Beeindruckend bleiben – wie so oft bei Dickens – einige Nebenfiguren und die Beschreibung des Elends und der Not in den Londoner Slums des 19. Jahrhunderts.

Charles Dickens: Bleakhaus. Aus dem Englischen von Gustav Meyrink. detebe 21166. Zürich: Diogenes Verlag, 1984 ff. 843 Seiten mit zahlreichen Druckfehlern. 14,90 €.

Włodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig

odojewski_sommerEs ist nicht ganz einfach, dieser Erzählung gerecht zu werden, wenn man über ein rein emotionales Urteil hinauskommen will. Erzählt wird eine Episode im Sommer 1939, in deren Mittelpunkt der neunjährigen Marek steht, der in einer gutbürgerlichen Familie Polens aufwächst. Seine Familie hat eine lange Tradition von Reisen nach Venedig, die bereits von den Großeltern begonnen wurde. Im Sommer 39 soll endlich auch Marek zusammen mit seiner Mutter die Lagunenstadt besuchen, eine Reise auf die er sich seit Langem freut und vorbereitet hat. Venedig ist der Fixpunkt seiner kindlichen Fantasie und Sehnsucht.

Allerdings verläuft der Sommer 1939 dann ganz anders: Mareks Mutter entwickelt eine ungewohnte patriotische Betriebsamkeit, und schließlich erhält sein Vater auch noch einen Gestellungsbefehl. Es wird daher beschlossen, die Reise nach Venedig aufzugeben, und stattdessen reisen Mutter und Sohn zur Tante Weronika nach Südpolen. Weronika lebt in einer großen, ländlichen Villa, die einmal zu einem Hotel hatte umgebaut werden sollen, ein Umbau, der aber nie abgeschlossen wurde. Hier vergisst Marek bald seine Enttäuschung über die ausgefallene Reise. Im Weiteren kreist die Erzählung wesentlich um zwei Ereignisse: Auf der einen Seite den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der mit apokalyptischen Bildern eines Fliegerangriffs und Flüchtlingsströmen in die ländliche Idylle einbricht, und auf der anderen die Entdeckung einer »Quelle« im Keller der Villa, einem Wasserrohrbruch, der langsam aber sicher den gesamten Keller auffüllt.

Diese »Quelle« und der sich langsam füllende Keller werden zum Anlass einer merkwürdigen Realitätsflucht beinahe der gesamten Familie: Nachdem man sich zuerst ausführliche Gedanken um die Verwandlung der Villa in ein Kurbad mit Mineralquelle macht, führt der immer höhere Wasserstand zur kollektiven Fanatsie, es handele sich beim Keller um eine Art von Venedig. Man schafft Tische hinunter, verbindet sie mit Holzplanken, stellt weitere Möbel auf die Tische und verbringt auf diese Weise eine »Saison in Venedig« (so der polnische Originaltitel der Erzählung). Die Erzählung endet damit, dass ein deutscher Offizier ankommt, um die Villa zu besichtigen – die vermeint- lichen Sieger haben die Zuflucht erreicht und wahrscheinlich hält mit ihnen auch das Realitätsprinzip wieder seinen Einzug.

Die Erzählung ist atmosphärisch dicht, hinterlässt aber den Eindruck, als handele es sich um einen Teil einer größer angelegten Lebens- geschichte. Zahlreiche Motive werden zwar angespielt – sehr auffällig etwa das erotische Erwachen des Protagonisten –, kommen im Weiteren aber in keiner Weise zum Tragen. Auch das Thema Realität versus Fantasie scheint der Autor nur zu probieren, nicht wirklich durchzuführen. Vieles wirkt so unfertig wie die Zimmer der Villa, deren Umbau nie vollendet wurde. Dass dies auch dem Autor bewusst war, manifestiert sich im letzten, erzählerisch dilettantischen Absatz der Erzählung, in dem versucht wird, die Geschichte im Hauruck-Verfahren in die Jetztzeit der Leser hinein zu verlängern.

Inzwischen ist bei SchirmerGraf (einem Verlag mit offenbarem Mangel an Bindestrichen) mit Als der Zirkus kam eine weitere Erzählung Odojewskis erschienen, deren Protagonist ebenfalls Marek zu sein scheint. Mag sein, es rundet sich darin das eine oder andere, das hier offengeblieben ist.

Włodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig. Aus dem Polnischen von Barbara Schaefer. München: SchirmerGraf, 2007. Leinenband, Lesebändchen, 126 Seiten. 14,80 €.

Ian McEwan: Am Strand

Eine längere Erzählung, in deren Zentrum die Hochzeitsnacht eines jungen, englischen Ehepaars steht. Die Hochzeitsreise hat sie nach Dorset geführt, wo sie in einem Hotel in der Nähe von Chesil Beach Quartier nehmen. Es ist der Juli 1962, und McEwan betont die zeitliche Nähe der erzählten Ereignisse zum Umbruch der Sexualmoral Ende der 60er-Jahre. Die Jungvermählten, Florence und Edward, scheinen auf den ersten Blick beide über keine erheblichen sexuellen Erfahrungen zu verfügen: Zwar masturbiert Edward offensichtlich exzessiv, aber Florence hat einen heimlichen Ekel vor den Vorstellungen, die sie von sexuellen Handlungen zwischen den Geschlechtern hat.

So beginnt diese Hochzeitsnacht unter schlechten Voraussetzungen: Während Edward sich an der Schwelle zur Erfüllung seiner sexuellen Wünsche wähnt, sieht sich Florence einer angstbesetzten Probe ihrer Liebe zu Edward gegenüber. McEwan behandelt die konkrete Situation selbst mit einigem psychologischen Geschick. Statt seine Protagonisten geradewegs auf die sich abzeichnende Katastrophe zusteuern zu lassen, schiebt er einen Augenblick echter Erregung als retardierendes Moment in den Gang der Ereignisse ein: Mehr zufällig berührt Edward bei einem ungeschickten Griff an den Oberschenkel seiner Frau dabei eines ihre Schamhaare, und sein hin- und herstreichelnder Daumen versetzt sie für einen Moment lang in einen Zustand, der sie ihre Angst vergessen lässt. Aber dann verdirbt Edward alles: Weil er den Reißverschluss am Kleid seiner Frau nicht öffnen kann, bricht er alle weiteren Zärtlichkeiten ab, entkleidet sich und versucht, ohne weitere Umstände zum Vollzug zu kommen. Florence, im Bewusstsein ihrer ehelichen Pflicht, greift nach seinem Glied und versucht, es in sich einzuführen. Bei dem Versuch erleidet Edward, der sich für die bevorstehende Hochzeitsnacht seit einer Woche der Masturbation enthalten hatte, einen vorzeitigen Samenerguss, den er nur als ein eklatantes Versagen begreifen kann. Florence wiederum ekelt sich vor dem sich über sie ergießenden Samen Edwards so sehr, dass sie aufspringt und aus dem Zimmer flieht.

Später findet Edward Florence am Strand wieder, und es kommt zum Streit. Florence eröffnet Edward einen Plan, den sie sich schon vor der Hochzeitsnacht zurechtgelegt hatte: Edward soll jegliche Freiheit genießen, sich mit anderen Frauen sexuell auszuleben, dabei aber mit ihr zusammenleben und sie lieben. Edward kann dies im Augenblick nur als einen Zynismus und Betrug an sich und seiner Liebe begreifen, und so kommt es zu einem endgültigen Bruch zwischen den beiden.

McEwan füllt diese kleine Studie mit den Vorgeschichten seiner beiden Protagonisten auf und rundet sie mit einer kurzen Erzählung ihrer weiteren Schicksale ab. Am spannendsten an der Geschichte von Florence dürfte ihr enges Verhältnis zu ihrem Vater sein, von dem der Text offenlässt, ob es sich um eine platonische Vater-Tochter-Liebe handelt, wie sie sich wohl in vielen Fällen entwickelt, oder ob diese Liebe in einen Missbrauch gemündet ist, den Florence komplett aus ihrem Bewusstsein verdrängt hat. Letzteres bleibt aber Spekulation, die der Text höchstens nahelegt, aber nicht tatsächlich stützt.

McEwan lässt aber von Beginn an keinen Zweifel daran, dass es sich für ihn wesentlich um eine Geschichte mangelnder Kommunikation handelt:

Sie waren beide jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren. Einfach sind sie nie.

Wie oben bereits gesagt, ist die Nähe zur sogenannten Sexuellen Revolution nicht zufällig gewählt: McEwan konfrontiert die heutige Lage an der sexuellen Front – wie sie inzwischen in der Literatur gehandelt wird – mit der Situation, in der sich junge Menschen noch vor knapp 50 Jahren normalerweise befanden. Dies ist eine reizvolle Folie, und der Autor verzichtet bewusst auf jeglichen expliziten Kommentar der vorgeführten Differenz.

Ein gehaltvolles kleines Buch, das McEwan einmal mehr als einen Autor von außergewöhnlichem psychologischem Einfühlungsvermögen zeigt.

Ian McEwan: Am Strand. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes, 2007. Leinenband, 208 Seiten. 18,90 €.

William Faulkner: Licht im August

Die Neuübersetzung bei Rowohlt war der gegebene Anlass, endlich zu beginnen, eine schon lange als Versäumnis empfundene Lektürelücke zu füllen. Die erste und bislang einzige Übersetzung des Romans durch Franz Fein war 1935, nur drei Jahre nach dem Erscheinen des Originals, auch schon bei Rowohlt gedruckt worden und hatte zumindest bei einigen deutschen Lesern – etwa Gottfried Benn – Eindruck gemacht. Die Neuübersetzung durch Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel liest sich – wenn ich meinen vergleichenden Stichproben trauen darf – insgesamt deutlich flüssiger, was sicherlich zum großen Teil der auch im Nachwort von Paul Ingendaay festgestellten Tatsache zu schulden ist, »dass Übersetzungen schneller altern als Originale«. Die Neuübersetzung folgt zudem enger der grammatikalischen Struktur des Originals und ist im Einzelausdruck häufig präziser.

Licht im August ist wahrscheinlich Faulkners beliebtester weil zugänglichster seiner sonst oft als schwierig bezeichneten Romane. Es handelt sich in weiten Teilen um einen Roman ohne erzählerisches Zentrum: Er ist weder durch einen durchgängigen Protagonisten geprägt, noch scheint es lange Zeit einen einheitlichen Erzählstrang zu geben, der alle Figuren des Romans einbinden würde. Für längere Zeit scheint die Erzählung von Figur zu Figur zu schweifen und erst allmählich fügen sich die vereinzelt erscheinenden Aspekte zu einem Gesamtbild. Die wichtigsten Protagonisten sind:

  • Lena Grove, eine junge, hochschwangere Frau, die auf der Suche nach Lucas Burch, dem Vater ihres Kindes, ist. Sie ist seit vielen Wochen unterwegs und kommt nun nach Jefferson, dem Hauptort von Faulkners fiktivem Yoknapatawpha County. Sie hat gehört, dass Lucas dort in einem Hobelwerk arbeite, was einerseits zwar auf einer Namensverwechslung beruht, sich andererseits aber als richtig erweist.
  • Joe Christmas ist ein Arbeiter in besagtem Hobelwerk. Er ist als Waisenjunge zuerst in einem Heim und schließlich bei bigotten Pflegeeltern aufgewachsen, hat mutmaßlich einen schwarzen Vorfahren und ist deshalb ein Außenseiter sowohl in der Welt der Weißen als auch der Schwarzen. Es hat ihn eher zufällig nach Jefferson verschlagen, wo er hängenbleibt, weil ihm das Geld ausgegangen ist, er bequem eine Unterkunft findet und schließlich ein Verhältnis mit einer alleinstehenden Frau, Joanna Burden, beginnt, der die Hütte gehört, in der er wohnt. Nach einiger Zeit beginnt er illegal Alkohol zu verkaufen, wodurch er zu einigem Wohlstand kommt. An dem Tag, an dem Lena in Jefferson eintrifft, brennt das Haus Joanna Burdens ab und sie wird – vermutlich von Christmas – ermordet aufgefunden.
  • Joe Brown ist ein Arbeitskollege von Christmas im Hobelwerk. Er heißt in Wirklichkeit Lucas Burch und ist der Vater von Lenas Kind. Als Joe Brown wird er bald nach seiner Ankunft in Jefferson Komplize von Joe Christmas bei dessen Alkoholgeschäften. Lucas Burch ist ein undisziplinierter, junger Mann mit einer Neigung zum Saufen und entspricht in keiner Weise der idealisierten Vorstellung, die sich die Mutter seines Kindes von ihm macht. Als Lena in Jefferson eintrifft, wird Lucas gerade von der Polizei verhaftet, da er sich als Zeuge für den Mordfall Joanna Burden angeboten hat (er beschuldigt Joe Christmas der Tat, um die ausgesetzte Belohnung einzustreichen), selbst aber vorerst als Verdächtiger behandelt wird.
  • Byron Bunch arbeitet ebenfalls im Hobelwerk in Jefferson und ist derjenige, dessen Namen mit dem von Lucas Burch verwechselt wurde, als Lena gesagt wurde, ihr Liebhaber arbeite in Jefferson. Byron macht gerade am Samstagnachmittag Überstunden als Lena am Hobelwerk ankommt. Obwohl Byron weiß, dass er sich besser aus der Geschichte heraushalten sollte, empfindet er nicht nur sofort Mitleid und Sympathie für Lena, sondern den beiden wird auch rasch klar, dass es sich bei Joe Brown wahrscheinlich um Lucas Burch handeln dürfte. Sicheres Erkennungsmerkmal ist schließlich eine Narbe. Byron kümmert sich von nun an um Lena und bald wird deutlich, dass er bereit wäre, Lena zu heiraten und das Kind anzunehmen, wozu Lena aber bis zum Ende des Buches nicht bereit sein wird.
  • Gail Hightower ist ein gescheiterter Geistlicher in Jefferson, mit dem Byron Bunch befreundet ist. Byron sucht ihn auf, um in der Sache mit Lena Rat zu bekommen, wird Hightowers Vorschlägen aber letztendlich nicht folgen. Hightower stammt aus einer alten Südstaatenfamilie und ist besessen von der Geschichte seines Großvaters, der auf der Seite der Konförderierten am Sezessionskrieg teilgenommen hatte und dabei zu Tode kam. Hightower ist in seiner Gemeinde in Jefferson gescheitert, da seine Frau einen unsittlichen Lebenswandel geführt und sich schließlich umgebracht hat, wodurch Hightower in seiner Gemeinde Persona non grata wurde. Hightower bleibt aber in Jefferson, lebt ein zurückgezogenes Leben, liest, schaut aus dem Fenster und wartet, dass die Zeit vorbeigeht. Seine Verbindung zu den Ereignissen des Romans besteht nur durch Byron Bunch, dem es gelingt, Hightower auf verschiedenen Ebenen in die Ereignisse zu verwickeln.
  • Joanna Burden ist eine weitere Außernseiterin in Jefferson. Sie ist der letzte Spross einer Familie von Gegnern der Sklaverei und lebt allein im Haus ihrer Familie. Sie setzt noch immer den Kampf ihrer Familie für die ehemaligen Sklaven fort, indem sie sich für die Ausbildung und die Rechte Schwarzer engagiert. Joe Christmas und später auch Joe Brown/Lucas Burch leben in einer Hütte hinter ihrem Haus. Sie beginnt eine zuerst rein sexuelle Beziehung mit Joe Christmas, die über eine längere Zeit Höhen und Tiefen durchläuft. Schließlich macht sie klar, dass Christmas sie heiraten und Aufgaben im Rahmen ihres sozialen Kampfes übernehmen soll. Als Christmas sich dem verweigert, beginnt sie nicht nur für ihn zu beten, sondern ihn ebenfalls zum Gebet zu nötigen, was – aufgrund von Christmas’ Vorgeschichte – schließlich der Auslöser für ihre Ermordung wird.

Es wäre nicht sonderlich kompliziert, dieser Reihe von biografischen Skizzen noch zahlreiche weitere anzufügen: Percy Grimm, der Christmas erschießen und anschließend kastrieren wird, hätte eine verdient, ebenso die wahrscheinlichen Großeltern von Joe Christmas oder das Ehepaar Armstid, das Lena auf ihrem Weg nach Jefferson bei sich aufnimmt. Das Buch ist überaus reich an Figuren, die sorgfältigst gestaltet und ausgewählt sind. Es erzählt eine beeindruckende Fülle von Lebensgeschichten, Herkunftslinien, Einzelschicksalen, aber auch Typen. Faulkner ist ganz konzentriert auf sein Figuren, lässt jeder einzelnen Sorgfalt und Aufmerksamkeit angedeihen und erledigt die Handlung in weiten Teilen fast wie nebenbei. Hinzutreten thematische Schwerpunkte wie etwa Religion, Rassenhass und -vorurteile, Gerechtigkeit, Recht und Lynchjustiz. Zudem ist das ganze Buch mit einer christlichen Allegorie hinterlegt, in der Christmas als Jesus figuriert, Burch als Judas, Lena als Jungfrau Maria, Bunch als Josef und Hightower vielleicht als eine Parodie Gottes. Man hat nachgezählt, dass das Buch 66 Charaktere habe, was der Anzahl der Bücher der Bibel entspreche, und 21 Kapitel wie das Johannesevangelium. Und so sterben sowohl Joe Christmas als auch Jesus beide im Kapitel 19 des betreffenden Textes, was ja kein Zufall sein kann.

Gleichgültig wie ernst man solche allegorischen Konstruktionen nehmen mag und wie weit man ihnen folgen will: Dass das alles genau kalkuliert und aufeinander abgestimmt ist, beweist sich, wenn sich am Ende all das Vereinzelte zu einem Gesamtbild rundet, das zugleich erstaunlich detailreich und ausgewogen ist. Ein großartiges Buch von einem beeindruckenden Erzähler. Die Neuübersetzung sollte der alten auf jeden Fall vorgezogen werden; noch besser ist es aber, den Roman im Original zu lesen, so man das kann.

William Faulkner: Licht im August. Deutsch von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel. Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband, Lesebändchen, 480 Seiten. 19,90 €.

Einiges über Heinrich von Kleist

Im Jahr 2007 sind zwei umfangreiche Kleist-Biografien erschienen: Zum einen von dem renommierten Germanisten Gerhard Schulz bei C. H. Beck, zum anderen vom Journalisten und Kulturwissenschaftler Jens Bisky bei Rowohlt Berlin. Diesen beiden Bänden tritt ein deutlich schmaleres Bändchen von Peter Staengle, Mitherausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe, an die Seite, das 2006 beim Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn erschienen ist.

schulz_kleistAls gänzlich missraten muss leider Gerhard Schulzens Kleist-Biografie angesehen werden. Das Buch neigt zur Stilblüte, ist allgemein geschwätzig in dem Sinne, dass dem Autor zu irgend einem Detail im Lebens Kleists immer auch noch etwas anderes einfällt, was mit der Sache aber wenig bis nichts zu tun hat, bleibt im Einzelnen oberflächlich, weist zahlreiche offenbare Widersprüche auf, die unvermittelt nebeneinander stehen und was der Mängel mehr sind. Für all dies können hier nur Pars pro Toto einige Beispiel geliefert werden. Sätze wie etwa der folgende, finden sich durchgängig:

Kleist hatte allerdings schon früh in seiner Potsdamer Zeit die Klarinette gewählt und sich darin unterrichten lassen, jenes [sic!] Instrument, von dem man sagte, [sic!] daß es der menschlichen Stimme am nächsten komme, obwohl [sic!] es damals anders klang als heute.

Welche logische Beziehung mag hier durch das Wort »obwohl« ausgedrückt sein? Und was mag das nächste Zitat sagen wollen?

Und so war es damals auch eher förderlich für Kleist, daß sein eigener Aufsatz zunächst in der großen Verborgenheit des Ungedruckten blieb.

An anderer Stelle wird Kleists Abschied vom Militär mit Schillers Desertion in Beziehung gesetzt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass beide zuvor im Militär waren und nachher nicht mehr. Da findet sich eine gute Seite Text zu Prinz Louis Ferdinand, auf der auch Theodor Fontanes bekanntes Gedicht zitiert wird, um nachher altklug anzumerken, es stimme »nur bedingt«, und in folgender Passage zu gipfeln:

Ob Kleist und Louis Ferdinand einander je begegnet sind, ist nicht überliefert. Sehr früh hat Kleist jedoch in Potsdam einen der «Genossen» des Prinzen kennengelernt: Peter von Gualtieri, der sich Pierre nannte, wie er es überhaupt vorzog, französisch zu sprechen und zu schreiben, selbst an Goethe.

Man denke: Auf Französisch selbst an Goethe! Das waren wilde Zeiten!

Was die kulturellen und intellektuellen Zeitumstände angeht, herrscht bei Schulz im besten Fall Verwirrtheit vor:

Im gleichen Jahre 1777, in dem Heinrich von Kleist geboren wurde, verfaßte sein Landesherr, der Preußenkönig Friedrich II., einen Essay über Regierungsformen und Herrscherpflichten. Darin betrachtete er «die große Wahrheit, daß wir gegen die anderen so handeln sollen, wie wir von ihnen behandelt zu werden wünschen», als «Grundlage der Gesetze» – elf Jahre später erhob Kant diese Wahrheit zum kategorischen Imperativ und «Grundgesetz» der «praktischen Vernunft», also der Sittlichkeit schlechthin.

Auch wenn es ein beliebter Irrtum ist, wird die Gleichsetzung von Goldener Regel und kategorischem Imperativ auch durch Wiederholung nicht richtiger.

An der Schwelle zum technisch-industriellen Zeitalter waren die Naturwissenschaften erst allmählich im Begriff, eigenständig zu werden und sich zu differenzieren – Physik schloß oft noch die Chemie mit ein. Demzufolge bildete Mathematik auch nicht die Zuträgerin von Anwendbarem, sondern war reine Wissenschaft aus der Denkschule vor allem von Leibniz.

Newtons die neue Physik begründendes Buch von 1687 trägt den Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Und Daniel Bernoulli und Leonhard Euler dürften sich für die »Denkschule vor allem von Leibniz« auch herzlich bedankt haben.

Aber auch was Kleist selbst angeht, kann sich Schulz zu keiner auch nur einigermaßen stimmigen Meinung entschließen:

Kleist war seinem Wesen nach ein geselliger, der Freundschaft fähiger wie ihrer bedürftiger Mensch.

[…] der eher Menschenscheue […]

[…] so gesellig er war, so einsam konnte und wollte er zuweilen sein […]

Immer so, wie’s gerade passt, nicht wahr Gevatter?

Das alles sind wohlgemerkt nur wenige von zahlreichen Funden, die sich bereits auf den ersten 100 Seiten dieses Buches machen lassen. Auch dieses Werk wäre wohl besser »in der großen Verborgenheit des Ungedruckten« geblieben!

bisky_kleistIm Gegensatz dazu macht Jens Biskys Biografie einen soliden Eindruck. Auch Bisky liebt zwar die Abschweifung und die ausführliche Darstellung von Informationen zur Zeit Kleists, die man auch andernorts leicht finden könnte, doch insgesamt ist sein Buch ein Zeugnis beeindruckenden Fleißes. Das geht soweit, dass dem Leser an einigen Stellen gänzlich unnötig die absonderlichsten Theorien zu Kleist referiert werden, nur um anschließend zu betonen, all dies sei Spekulation oder Irrtum. Dies macht die Lektüre in manchen Passagen mühsam. Besonders der Fachmann hat Mühe, das Wesentliche unter dem Beiläufigen und Selbstverständlichen herauszufiltern, während der Laie die Lektüre angesichts der schieren Masse von Material wohl gern einstellen würde. An einigen Stellen neigt Bisky auch zur Überinterpretation, so etwa, wenn er versucht, Einheit und Sinn in Kleists frühe Briefe zu bringen, wo etwa Staengle sehr bodenständig und richtig urteilt:

Kleists Briefe in dieser Zeit beschwören ein Bild verzweifelter Orientierungslosigkeit.

Schwächen finden sich auch in der Darstellung der spezifisch deutschen Aufklärung – Lessings Position fehlt komplett; Kants Projekt wird weder von Kleist noch von Bisky richtig verstanden – und der zeitgenössischen Philosophie. Beides ist aber in Bezug auf Kleist zu verschmerzen.

Über einzelne sprachliche Eigenheiten (»Hier wird mit der Zauberrute der Analogie gedacht« oder »Hier liegt der Knüppel beim Hund«) mag man hinwegsehen wollen. Was schmerzlich fehlt ist ein Werkregister, das einen gezielten Zugriff auf die Analyse einzelner Texte Kleists erlauben würde. Die Interpretationen selbst sind nach meinem Geschmack zu oberflächlich und bleiben zu sehr dem offensichtlichen verhaftet, sind aber für jemanden, der sich über Kleist Orientierung verschaffen will, wahrscheinlich nützlich und eine eigene erste Lektüre stützend. Die Erzählungen kommen leider (einmal mehr) deutlich zu kurz.

staengle_kleist Peter Staengles Darstellung konzentriert sich in der Hauptsache auf das Leben Kleists und gibt zu den Werken und ihrer Interpretation eher verhalten Auskunft. Das, was wir über Kleists Leben wissen, wird knapp, präzise und korrekt referiert. Dort, wo Staengle Hinweise zur Interpretation der Werke gibt, sind sie ebenso kurz, wie in die richtige Richtung weisend. Man wünscht sich bald, Staengle und nicht Bisky hätte die umfangreichere Darstellung verfasst. Das Buch ist in dem, was es leisten will und leistet, nahezu als tadellos zu bezeichnen, allerdings liefert es oft eben nur die äußere Schale für das, weswegen Kleist für uns von Interesse ist: das Werk. Wie oben bereits gesagt, sind Staengles Zugriffe normalerweise bodenständig und sehr konkret; er benennt das, was wir wissen, ebenso direkt und ungekünstelt wie das, was wir nicht wissen. Insgesamt sicherlich die angenehmste Lektüre unter den drei Neuerscheinungen.

loch_kleist Es bleibt am Ende nur noch auf die bereits 2003 bei Wallstein erschienene Biografie Kleists von Rudolf Loch hinzuweisen: Sie ist unter den umfassenden Biografien immer noch die lesbarste und ausgewogenste, die den Anspruch einer Einführung in Leben und Werk zurzeit aufs Beste einlöst. Loch ist ein ausgewiesener Kenner Kleists, was besonders seinen Werkdeutungen zugute kommt. Sicherlich bleibt auch hier vieles ungesagt und die Interpretation zeigt alles in allem eine Neigung zur Glättung der Texte, aber eine radikale Problematisierung, wie sie für das Verständnis Kleists letztendlich nötig ist, kann von einer Gesamtdarstellung mit Fug nicht erwartet werden. Auch vom Inhalt abgesehen ist dies sicherlich das schönste Buch unter den hier vorgestellten: Nicht nur hat es einen sehr angenehmen Satzspiegel, es verfügt auch über lebende Kolumnentitel und ist fadengeheftet!

Wem also im Wesentlichen eine Lebensbeschreibung mit kurzen Abrissen zu den Werken genügt, greife zum Buch von Staengle, wer eine umfassendere Darstellung sucht, lasse die Finger von den beiden neueren Publikationen, sondern greife zum Buch von Loch.

Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2007. Leinen, Lesebändchen, 608 Seiten. 26,90 €.

Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt Berlin, 2007. Pappband, Lesebändchen, 528 Seiten. 22,90 €.

Peter Staengle: Kleist. Sein Leben. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner, 2006. Broschur, 241 Seiten. 8,– €.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein, 2003. Pappband, fadengeheftet, 542 Seiten. 37,– €.