Martin Amis: Gierig

»Sie Arschloch«, sagte sie.

Von Zeit zu Zeit falle ich doch wieder einmal auf die Schaumschlägerei einer Empfehlung herein: So diesmal, als Martin Amis’ Roman in einem Atemzug mit Nabokovs Lolita genannt und zugleich als bester Roman des 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde. Ich hätte es wissen müssen, denn schließlich kenne ich den besten Roman des 20. Jahrhunderts.

Ich will auch gar nicht sagen, dass das Buch schlecht ist. Es ist im Gegenteil bei all seiner Flachheit von einer erheblichen Präzision, mit großer Geduld des Autors verfasst, zeigt ein Stück Welt, das in dieser Unverstelltheit wahrscheinlich zuvor literarisch nicht erfasst wurde und was der Dinge zu loben mehr sind. Ich sehe auch ein, dass bestimmte Bücher geschrieben worden sein müssen, weil die Zeitläufte selbst den Autor in gewisser Weise dazu nötigen. Es ist eben nur unglaublich langweilig und platt.

Der Ich-Erzähler ist ein kompletter Vollidiot, mit dem Autor und Leser nach 20 Seiten fertig sind: Ein erfolgreicher Werbefuzzi, Alkoholiker, abhängig von Tabletten und anderen Drogen, exzessiver Nutzer von Pornographie, Frauenverächter – was man haben will. Was mit dieser Figur passiert oder nicht passiert ist schon auf 30 Seiten vollständig unerheblich, geschweige denn auf den 572, die der Roman in der deutschen Ausgabe hat. Ich habe 100 Seiten gelesen, weitere 100 quer gelesen und es dann zu Seite gelegt.

Empfehlen kann ich es nicht, höchstens zur Selbstkasteiung.

Martin Amis: Gierig. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Zürich: Kein & Aber, 2015. Broschur, 572 Seiten. 13,– €.

Oscar Wilde: Erzählungen und Prosagedichte

Es ist witzlos, ein charmanter Bursche zu sein, es sei denn, man hat Vermögen.

Neben den beiden Bänden sogenannter Märchen erschien 1891 ein weiteres schmales Büchlein von Oscar Wilde mit dem Titel Lord Arthur Savile’s Crime and Other Storys. Enthalten waren vier Erzählungen, die Wilde in seiner Zeit als Redakteur der Frauenzeitschrift The Woman’s World geschrieben hatte. Die beiden längeren haben einen humoristischen Grundton, die beiden kürzeren sind von eher anekdotischer Natur. Berühmt geworden ist aus dieser Sammlung Das Gespenst der Cantervilles, in dem eine sehr praktische und abgeklärte us-amerikanische Familie ein altes englisches Schloss kauft und das Schlossgespenst das Fürchten lehrt. Doch ganz zum Schluss wird das Schloss durch die Güte der Tochter der Familie sogar von seinem alten Spuk befreit. Es mag sein, dass Wilde, der die USA aus eigener Anschauung kannte, dies für alle alten Gespenster des Vereinigten Königsreich erhoffte.

In der Titelgeschichte wird Lord Savile aus seiner Hand vorhergesagt, er werde einen Mord begehen, eine Sache, die ihm so peinlich ist, dass er sie gern noch vor seiner bald bevorstehenden Hochzeit erledigt hätte. Seine Versuche an unangenehmen Verwandten enden kläglich, doch dann spielt ihm das Schicksal eine unwiderstehliche Gelegenheit zu. …

Die Prosagedichte sind 1894 unter diesem Titel erschienen und enthalten sechs sehr kurze, etwas verblasene Text, die sich in pseudo-biblischer Sprache an zumeist biblisch-mythologischen Motiven abarbeiten. Möglicherweise gelingt es der einen oder dem anderen, darin mehr als stilistische Phraseologie zu erwittern; ich selbst konnte mit dem abgehobenen Zeugs nichts anfangen.

Oscar Wilde: Erzählungen und Prosagedichte. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Werke in 5 Bänden, Bd. 2. Zürich: Haffmans, 1999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 151 Seiten. Diese Übersetzung ist derzeit bei Zweitausendeins lieferbar.

Shalom Auslander: Hoffnung

Gibt’s in Stockton etwa keine Holocauste?, fragte sie.
Nein, sagte Kugel.
Werden wir ja sehen.

Auslander_HoffnungShalom Auslander ist einer der frechsten jüdischen Autoren. Nach seinen erfolgreichen Erzählungen hat er nun seinen ersten Roman geschrieben bzw. das, was man heute im Allgemeinen so nennt. Erzählt wird die Geschichte Solomon Kugels, der mit seiner Frau Bree und ihrem gemeinsamen kleinen Sohn Jonah gerade aufs Land gezogen ist, nach Stockton, einer Kleinstadt, deren Attraktivität für Kugel in der Hauptsache darin besteht, dass sie in der US-amerikanischen Geschichte keinerlei Rolle spielt. Mitgezogen ist auch Kugels Mutter, die sich hartnäckig weigert, die ärztliche Voraussage ihres kurz bevorstehenden Todes zu erfüllen.

Kugel steht bereits zu Anfang der Geschichte am Rande eines Nervenzusammenbruchs: Eigentlich können sich die Kugels das Farmhaus, das sie gekauft haben, nicht leisten, können aber nur eines statt zwei Zimmer vermietet, weil das andere Mutter Kugel bewohnt. Kugel leidet unter Paranoia, nicht nur vor einem vermeintlichen Holocaust, sondern konkreter vor einem die Gegend unsicher machenden Brandstifter, seine Arbeitsstelle ist gefährdet. Er schläft schlecht und last not least versucht er den Neurosen und den Wahnvorstellungen seiner Mutter zu genügen, die vorgibt, ein Holocaust-Opfer zu sein, seit sie von ihrem Mann verlassen worden ist. Als sei all dies nicht genug, stellt Kugel in einer schlaflosen Nacht fest, dass auf dem Dachbodens seines Hauses Anne Frank lebt. Sie ist aus Bergen-Belsen entkommen und versteckt sich seit 40 Jahren auf dem Dachboden, wo sie versucht, ihren ersten Roman zu schreiben, der den Erfolg ihres Tagesbuches übertreffen soll und daher niemals fertig werden wird.

Der Rest ergibt sich mehr oder weniger aus dieser Exposition. Das Buch hat hoch komische Passagen, auch den einen oder anderen tatsächlich inhaltlich interessanten Dialog, alles in allem aber bleibt es anekdotisch, ist nicht frei von Wiederholungen und macht über weite Strecken den Eindruck, dass der Autor nicht weiß, wo das ganze enden soll. Wen solche formalen Mängel nicht weiter stören, wird sich mit dem Buch wahrscheinlich bestens unterhalten.

Shalom Auslander: Hoffnung. Eine Tragödie. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Berlin: Berlin Verlag, 2012. Pappband, Lesebändchen, 335 Seiten. 19,99 €.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen

978-3-499-23539-9Beim Suchen im SUB ist mir die Neu-Übersetzung von Salingers »The Cather in the Rye« durch Eike Schönfeld, die seit 2003 vorliegt, in die Hand gefallen. Ich habe nun endlich einmal hinein geschaut und bin einmal mehr enttäuscht. Zwar ist diese Übersetzung der Vorgängerversionen gleich in mehrfacher Hinsicht überlegen, schon allein deshalb, weil sie endlich auf das amerikanische Original zurückgeht anstatt auf englische Bearbeitungen, doch bleibt auch sie deutlich hinter dem Original zurück. Weder die vom Übersetzer erfundene Jugendsprache, die niemals von irgendeinem Jugendlichen zu irgendeiner Zeit gesprochen worden ist, noch die Übersetzung des Erzähltons schlechthin konnten mich überzeugen. Wenn Holden horny ist, ist er bei Schönfeld heiß; ist irgendetwas sexy, ist es bei Schönfeld heiß. Und wenn dann tatsächlich im Original mal jemand hot auf etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Und auch, wenn Holden crazy about etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Egal, ob ein Taxifahrer Holden Mac oder buddy nennt, in der deutschen Fassung nennt er ihn Meister, eine übersetzerische Entscheidung, zu der es schon einiger Dumpfheit bedarf. Mädchen, die deep down, gave me a pain in the ass, sind in der Übersetzung solche, die mich tief im Innern nerven. Das ist einerseits nicht falsch und andererseits so falsch, wie es nur sein kann.

Folgendes Zitat von Wilhelm Stekel, das Mr Antolini für Holden auf einen Zettel schreibt

The mark of the immature man is that he wants to die nobly for a cause while the mark of the mature man is that he wants to live humbly for one.

wird ohne erkennbaren Anlass in das grammatikalisch falsche

Der unreife Mensch kennzeichnet sich dadurch aus, dass er edel für eine Sache sterben will, der reife dadurch, dass er bescheiden für eine leben will.

übersetzt. Ganz abgesehen davon, dass hier massiv in die Struktur des Zitats eingegriffen wird und das doppelte das Kennzeichen eines […] Mannes einfach fortgelassen wurde.

Wie vielleicht bekannt sein dürfte, fehlte in der Erstausgabe dieser Neuübersetzung der viel zitierte Satz, dass Holden, wäre er ein Pianist, in the goddam closet spielen würde, um dem Applaus der Idioten zu entgehen. In der von Heinrich Böll durchgesehenen alten Übersetzung war aus dem closet ein Klosett geworden, was nur dem Ton nach und nicht inhaltlich falsch ist; inzwischen hat man in der Neuübersetzung eine verfluchte Wäschekammer ergänzt, was auch inhaltlich nur gerade so eben noch durchgehen dürfte. Dass der Satz in der Erstausgabe der Neuübersetzung gefehlt hatte, hat offenbar nicht zu einer gründlichen Revision des Textes geführt, denn auf S. 194 fehlt in dem nächtlichen Telefongespräch Holdens mit Sally ebenfalls ein kompletter Satz.

Solche Dinge sind ärgerlich, wenn schon der – unbestreitbar notwendige – Aufwand betrieben wird, eines der kanonischen Bücher der US-amerikanischen Literatur neu und besser zu übersetzen. Wenn auch diese Neuübersetzung einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung darstellt, ist dennoch Salingers Klassiker auch weiterhin im Deutschen nicht adäquat übersetzt. Wer verstehen will, warum dieses Buch in der US-amerikanischen Kultur eine solche Rolle spielt, muss weiterhin zum Original greifen.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen. Deutsch von Eike Schönfeld. rororo 23539. Reinbek: Rowohlt, 72007. 270 Seiten. 7,95 €.

Zwei neue Conrad-Biografien

Im Conrad-Jahr 2007 (am 3. Dezember war der 150. Geburtstag) sind zwei neue, umfangreiche Biographien zu Joseph Conrad erschienen:

  • John Stape: Im Spiegel der See. Die Leben des Joseph Conrad.
  • Elmar Schenkel: Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad.

stape_conradJohn Stapes Im Spiegel der See liefert eine Biografie im klassischen Sinne, ja, er betont sogar gleich im Vorwort, dass er sich mit den Schriften Conrads nur in biografischer, nicht in literaturwissenschaftlicher Hinsicht beschäftigen wird. Außerdem betont er, sein Ziel sei Kürze gewesen. Das überrascht auf den ersten Blick, da das Buch immerhin mehr als 540 Seiten hat und über Conrad so viel eigentlich nicht bekannt ist. Nun sollte man nicht erwarten, dass Stape den Forschungsstand zu Conrad wesentlich erweitert. Stattdessen finden sich häufig Passagen wie diese:

Mademoiselle Renouf mag eine herzlose coquette gewesen sein, oder einfach eine Frau, die versuchte, einer arrangierten Ehe aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war der Flirt auch weitgehend einseitig, oder Conrad hatte einfach spontan gehandelt. Vermutlich hat er davon geträumt, sich mit Eugénie Renouf in Australien oder auf Mauritius niederzulassen, doch darüber gibt es keine Aufzeichnungen.

Kurz zusammengefasst: Wir wissen nichts darüber, warum die bereits verlobte Eugénie Renouf sich auf die Werbung Conrads eingelassen hat oder warum Conrad nichts von dem schon bestehenden Eheversprechen wusste. Aber natürlich kann man ganz allgemein darüber spekulieren und auf diese Weise einen Absatz füllen. Dabei muss man Stape zugestehen, dass er zwischen dem, was sich belegen lässt, und dem, was sich die Conrad-Forschung so mit der Zeit zusammenphantasiert hat, immer deutlich trennt. Da die Spekulationen aber mit den Jahren den dünnen faktischen Gehalt überwuchert haben, hat der Leser einige Mühe, die wenigen harten Fakten aus dem allgemein vorherrschenden »Es könnte sein« herauszufiltern.

Auch enthält Stapes Buch immer wieder gänzlich wirre Abschnitte:

Conrad schnappte ein paar Brocken Handelsmalaiisch auf, pasar Melayu, einen Grundstock an Wendungen, die ihm Nahrung, Schutz und Transport sicherten, dazu ein paar nautische Begriffe. Er lernte das Verhalten und Denken dieses Volks genauer kennen, auch wenn er überwiegend Kontakt mit dessen raueren Vertretern hatte, den Seemännern, mit denen er fuhr. Hugh Clifford, ein Kolonialbeamter und Schriftsteller, mit dem sich Conrad anfreundete, nachdem seine ersten Romane erschienen waren, kritisierte, dass Conrad «von den Malaien nicht die geringste Ahnung» habe. Das räumte dieser auch bereitwillig ein. Sein Interesse war kein anthropologisches. Wie seine Schriften zeigen, war er von dem, was er sah, tief bewegt.

So etwas ist Geschwätz ohne Hand und Fuß, und es ist einfach ärgerlich, solch einen Unsinn aufgetischt zu bekommen.

Hervorzuheben ist aber die schöne Ausstattung des Bandes: Zwar ist er nicht fadengeheftet, verfügt aber über eine leserfreundliche, elegante Typographie und ein schön gestaltetes Vorsatzpapier.

schenkel_conrad Deutlich angenehmer liest sich Elmar Schenkels Fahrt ins Geheimnis. Schenkel verzichtet auf den Versuch, eine chronologisch konsequente Biographie Conrads zu liefern.  Statt dessen kreisen die einzelnen Kapitel jeweils um einen thematischen Schwerpunkt: ein biographische Ereignis, ein literarisches Motiv, eine Reise, eine Person oder ein Werk. Diese Form ist nicht immer streng durchgehalten; so geht etwa das Kapitel über Conrads Beschäftigung mit Napoleon über in eine Betrachtung zu Conrads Geburtsort, Balzac (der dort geheiratet hat) und die Polnischen Teilungen. Aber darüber lässt sich hinwegsehen.

Insgesamt erscheint die Auswahl der Themenschwerpunkte gut und ausgewogen. Auch Schenkels Darstellung leidet natürlich unter dem Mangel an konkreten Lebensdaten für bestimmte Phasen in Conrads Biographie, was bei ihm aber nicht so auffällig wird wie bei Stape, da er nicht der Chronologie verpflichtet ist. Auf der anderen Seite wird es Lesern, die Conrads Leben nicht wenigstens in den Grundzügen kennen, schwer fallen, sich ein einigermaßen geschlossenes Bild zu erarbeiten. Für sie gibt es am Ende des Bandes zwar eine 15-seitige Chronik, die eine traditionelle Biografie aber nicht wirklich ersetzen kann. So ist zu befürchten, dass dieses Buch Einsteiger eher enttäuscht zurücklassen wird. Ihnen wäre zu empfehlen, zuvor zumindest eine Kurzbiographie wie etwa die von Renate Wiggershaus aus der Reihe »dtv portrait« zu lesen.

John Stape: Im Spiegel der See. Die Leben des Joseph Conrad. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Hamburg: marebuchverlag, 2007. Pappband, Lesebändchen, 543 Seiten. 39,90 €.

Elmar Schenkel: Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad. Eine Biographie. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 368 Seiten. 24,90 €.