Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne

Nirgends lagen modernitätsbejahender Optimismus und modernitätskritischer Eskapismus im wilhelminischen Deutschland der Vorkriegszeit wohl so dicht nebeneinander wie im akademischen Milieu.

Kroll-Geburt-der-ModerneEine kurze, dennoch alle wesentlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte ansprechende Geschichte des deutschen Kaiserreichs zwischen etwa 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die erkenntnisleitende These lautet, dass sich die Rede von einem deutschen Sonderweg, die in einem prominenten Teil der historischen Literatur zum deutschen Kaiserreich vorherrscht, angesichts der vielfältigen, zu einem bedeutenden Teil widersprüchlichen Tendenzen dieser Epoche, die sich in vergleichbarer Ausprägung immer auch in anderen westeuropäischen  Staaten finden lassen, kaum aufrecht erhalten lässt. Zum Glück für den Leser orientiert sich Krolls Darstellung aber nicht an dieser ideologischen Leitlinie, sondern konzentriert sich weitgehend auf konkrete Daten und Fakten.

Der Fachmann wird wahrscheinlich die Darstellung in seinem jeweiligen Spezialgebiet notwendig verkürzt und daher ein wenig schief finden, aber das gezeichnete Gesamtbild scheint durchaus stimmig und gibt wohl im Großen und Ganzen einen zutreffenden Eindruck von der sehr dynamischen Entwicklung Deutschlands in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei ist es sicherlich so, dass Krolls Darstellung für den historischen Laien oft zu knapp ausfällt, so dass sich das Buch für einen ersten Überblick nur bedingt eignet. Doch sowohl als Propädeutik zu weiterer Lektüre als auch zur konzisen Auffrischung des Gedächtnisses kann das informative Büchlein nur empfohlen werden.

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, 216 Seiten. 4,50 €.

Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Auch eines der vielen Bücher, die ich nach langer Zeit noch einmal lese. Es ist bislang das einzige Buch Joseph Roths, das ich gelesen habe, und als ich es vor über 25 Jahren zum ersten Mal las, konnte ich mit seiner statischen und in vielen Teilen voraussehbaren Handlung wenig anfangen. Dafür, dass seine Statik zugleich die Statik des zum Ende kommenden österreichischen Kaiserreichs ist, fehlte mir damals der Sinn.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte dreier Generationen der Familie von Trotta. Der erste von Trotta, Sohn einer Bauernfamilie, rettet durch seine Geistesgegenwart dem jungen Kaiser Franz Josef I. in der Schlacht von Solferino das Leben. Er wird geadelt, zum Hauptmann befördert und gründet eine Familie. Aus Verbitterung über eine historisch falsche Darstellung seiner Tat von Solferino in einem Lesebuch seines Sohnes, nimmt er seinen Abschied und verbietet seinem Sohne eine militärische Karriere. Doch sein Enkel wird wieder Offizier, zuerst bei der Kavallerie, dann bei der Infanterie. Dieser Enkel des Helden von Solferino ist ein typischer Spätling: initiativ- und orientierungslos, moralisch naiv und indifferent, sensibel, doch ohne die Möglichkeit, dieser Empfindsamkeit irgendeinen Ausdruck zu geben.

Natürlich kommt es wie es kommen muss: Der Enkel Carl Joseph von Trotta verwickelt sich in Affären, Spiel und Trunksucht, macht Schulden und muss schließlich von seinem Vater aus einer ausweglos erscheinenden Situation gerettet werden, indem der eine kurzfristige Audienz beim Kaiser erzwingt. Doch damit scheint der Kredit der von Trottas verbraucht zu sein. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs markiert deutlich den Untergang des Kaiserreiches und zugleich der von Trottas: Carl Joseph fällt, als er sich für seine Männer nutzlos einer tödlichen Situation aussetzt. Mit ihm endet das Geschlecht des Helden von Solferino.

Wie schon angedeutet, ist die Geschichte derer von Trotta zugleich die des Untergang des Kaiserreichs. Nicht umsonst wird der Sohn des Helden von Solferino im Alter seinem Kaiser immer ähnlicher, so dass, als sie sich schließlich gegenüberstehen, wie ein Bruder des Kaisers zu sein scheint. Roths zugleich distanzierte und empathische Darstellung des alten Kaisers und seiner Isolation von der ihn umgebenden Welt gehört sicherlich mit zum besten, was der Roman zu bieten hat.

Bei Diogenes liegt eine vollständige Lesung des Romans durch Michael Heltau vor. Sein leichter österreichischer Akzent bekommt dem Roman sehr gut, allerdings muss man sagen, dass Heltau den Text an einigen Stellen extrem dehnt. Das ist stimmig und passt zu dem Gesamteindruck der Stagnation, die der Roman vermittelt, stellt den Zuhörer aber trotzdem hier und da auf eine Geduldsprobe. Man sollte sich also ein wenig Einhören und nicht zu rasch aufgeben.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. dtv 12477. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1998. 416 Seiten. 9,50 €.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. Gelesen von Michael Heltau. Zürich: Diogenes Verlag, 2007. 7 Audio-CDs. 49,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).