Lew Tolstoi: Krieg und Frieden

Das ärgerte ihn noch mehr, denn in seiner Seele wusste er, nicht aus Überlegung, sondern durch etwas Stärkeres als Überlegung, dass er zweifellos recht hatte mit seiner Meinung.

Natürlich bietet es sich an, im Jahr 2012, 200 Jahre nach Napoleons Feldzug nach Russland, »Krieg und Frieden« zu lesen. Das Buch stand weit oben auf der imaginären Liste des Wiederzulesenden; die erste Lektüre wird an die 30 Jahre zurückliegen. Damals war es die Übersetzung von Marianne Kegel bei Winkler, diesmal habe ich es natürlich mit der Neuübersetzung von Barbara Conrad bei Hanser versucht. Parallel dazu habe ich etwas mehr als die Hälfte des Textes in der ausgezeichneten Komplett-Lesung von Ulrich Noethen angehört, der eine nicht genauer bezeichnete Bearbeitung der Übersetzung von Hermann Röhl liest, die wohl zuerst 1915 erschienen ist, wenn sie auch in zahlreichen Bibliographien mit der Jahreszahl 1922 oder 1923 verzeichnet ist.

Angesichts der inzwischen zahlreichen Verfilmungen des Stoffs – zuletzt 2007 mit einer durchaus nicht unkomischen Soap-Opera-Ästhetik fürs Fernsehen – ist eine ausführlichere Inhaltsangabe wohl unnötig. Für all jene, die das Buch nie gelesen haben, sollte wohl gesagt werden, dass die Handlung um die vier Adels-Familien Bolkonski, Besuchow, Kuragin und Rostow nur eine von drei Ebenen des Romans bildet; die zweite ist eine durchaus kontroverse Geschichte der Napoleonischen und russischen Feldzüge zwischen 1805 und 1812, die dritte, besonders im dritten und vierten Buch präsente, bildet eine breit angelegte Reihe geschichtsphilosophischer Essays. Der Einfluss, den diese Mischung verschiedener Genres in einem Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20 Jahrhundert hatte, sollte nicht unterschätzt werden.

Die Neuübersetzung dürfte, wenn ich der einzigen Stichprobe trauen darf, die ich vorgenommen habe, die genaueste sein, die es in deutscher Sprache gibt. Sie verzichtet im Gegensatz zu den Vorläufern darauf, Tolstois Text stilistisch zu glätten. Aufgefallen war mir eine Passage, die ich zuerst für einen Lapsus der Übersetzerin hielt; da heißt es zu Anfang des 3. Kapitels im 1. Teil von Buch 4:

Neun Tage nachdem Moskau aufgegeben worden war, kam ein Bote von Kutusow nach Petersburg mit der offiziellen Nachricht, dass Moskau aufgegeben würde. Dieser Bote war der Franzose Michaud, der kein Russisch konnte, doch quoique étranger, Russe de cœur et d’âme war, wie er von sich sagte.

Der Kaiser empfing den Boten sofort in seinem Kabinett im Palais auf Kamenny Ostrow. Michaud, der Moskau vor der Kampagne noch nie gesehen hatte und der kein Russisch konnte, fühlte sich dennoch gerührt, als er vor notre très gracieux souverain (wie er schrieb) mit der Nachricht vom Brand Moskaus erschien, dont les flammes éclairaient sa route.

Die Doppelung der Information, dass Michaud kein Russisch spricht, was sich im Verlauf des Gesprächs mit dem Kaiser auch als gänzlich unnötig erweist, ist stilistisch etwas unglücklich, um das wenigste zu sagen. Da keine der mir erreichbaren Übersetzungen diese Doppelung reproduziert (merkwürdiger Weise aber in einem Fall im ersten und im anderen im zweiten Absatz fort lässt), habe ich einen des Russischen mächtigen Bekannten gebeten, das Original für mich aufzuschlagen (an dieser Stelle mein Dank an Frank Fischer). Und tatsächlich findet sich die von Barbara Conrad übersetzte Doppelung so bei Tolstoi. Ob es sich dabei um einen Fehler oder um die absichtliche Zuspitzung der auch sonst in weiten Teilen des Romans zu beobachtenden Methode, Informationen wiederholt und in ähnlichem Wortlaut mitzuteilen, handelt, kann ich nicht beurteilen. Aber der Fund erhöht mein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der neuen Übersetzung.

Aus dem obigen Zitat lässt sich auch eine weitere Entscheidung der Übersetzerin ablesen, nämlich die nicht russischen – in der Hauptsache französischen – Passagen des Buches in der jeweiligen Sprache im Haupttext zu belassen und nur in Fußnoten ins Deutsche zu übersetzen. Tolstoi markiert mit dem durchaus breiten Gebrauch des Französischen besonders in Gesprächen am Hof und unter dem Hof nahestehenden Adeligen nicht nur einen historischen Zug der russischen Kultur, sondern ist sich zugleich der Ironie bewusst, dass sich die Russen einem Angriff von Seiten genau jener Kulturnation gegenübersehen, die sie in ihrem höfischen Leben zu imitieren suchen. Auch diese Entscheidung der Neuübersetzung hebt sie aus der Reihe der bisherigen deutlich heraus. Hinzukommt, dass es sich wohl um eine der wenigen wirklich vollständigen Übersetzungen ins Deutsche handelt, da die meisten anderen deutschen Ausgaben auf die Übertragung des zweiten, rein essayistischen Teils des Epilogs verzichten.

Trotz alledem und obwohl meine zweite Lektüre sicherlich der ersten an Verständnis weit voraus ist, muss ich am Ende gestehen, dass ich mit Tolstoi nicht warm zu werden verstehe. Ich sehe durchaus die Vorzüge des Buches: Der breit angelegte Stoff, sowohl was die Fabel im engeren Sinne als auch was die historische Darstellung angeht, der lange Atem des Erzählers, die Spannbreite der dargestellten Lebens- und Notlagen zwischen Geburt und Tod, der ambitionierte Versuch zur Begründung einer originären – letztlich aber wohl inkonsistenten und von der eigenen historischen Erzählung konterkarierten – Theorie der Geschichte. Ich bewundere die Kunstfertigkeit, die disparaten gedanklichen und stofflichen Tendenzen des Buches miteinander in ein Gleichgewicht und einen Einklang zu bringen. Ich begreife inzwischen auch wenigstens in Grundzügen den Einfluss, den dieser Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20. Jahrhundert gehabt hat.

Dennoch, und das betrifft nicht nur »Krieg und Frieden«, sondern ist mir mit »Anna Karenina« genauso gegangen, kann ich mich nicht dazu bringen, am Schicksal der Tolstoischen Figuren irgendeinen Anteil zu nehmen. Wer es auch sein mag, Natascha, Sonja, Marja, Andrej oder Pierre, sie bleiben mir gänzlich gleichgültig, und ich nehme ihre Meinungen, ihre Verirrungen, ihre Gedanken und Gefühle achselzuckend zur Kenntnis und denke: Naja, so geht es halt zu unter Menschen. Ich mag auch noch das erzählerische Konzept verstehen, dass diese Adeligen, diese Creme der Gesellschaft, zwar besser gebildet, deshalb aber nicht weniger dämlich ist als der Rest der Menschheit, der sie umgibt, doch eine Empathie mit ihnen erwächst daraus nicht. Im Gegenteil: Je menschlicher sie im Verlauf der Handlung geraten, desto mehr gehen sie mir auf die Nerven.

Als Essayist zeigt Tolstoi zahlreiche Mängel eines sogenannten Selbstdenkers, also eines Menschen, der nur eine unzureichende Ausbildung im abstrakten Denken erhalten hat: Er wiederholt sich aufs Umständlichste, analysiert Gedankengänge anhand konkreter Beispiele, die sich durchaus immer auch anders verstehen lassen, bleibt in seiner Kritik oft negativ, ohne sagen zu können, wodurch denn die von ihm kritisierten Deutungsansätze ersetzt werden sollten, und endet zu oft bei völlig vagen Konzepten wie zum Beispiel dem »Geist des Heeres«.

Vielleicht sollte ich Tolstoi die Lizenz Nietzsches einräumen, dass man von großen Dingen entweder groß reden oder schweigen soll, und entsprechend den Mund halten. Aber unter uns bleibt es dabei: Tolstoi ist zweifellos eine literarhistorische Größe, vielleicht auch ein Gigant, aber nichts von alle dem geht mich etwas an. Bei Gelegenheit werde ich sicherlich auch noch einmal »Anna Karenina« in der neuen Übersetzung bei Hanser in die Hand nehmen, doch viel Hoffnung mache ich mir nicht.

Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Übersetzt von Barbara Conrad. München: Hanser, 2010. 2 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1104 und 1184 Seiten. 58,– €.

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. In der Übersetzung von Hermann Röhl vollständig gelesen von Ulrich Noethen. Berlin: DAV, 2009. 54 CDs (3979 Minuten). 199,– €.

Roger Paulin: Theodor Storm

Um Storm scheint es derzeit etwas ruhig zu sein: Außer der veralteten Rowohlt-Bildmonographie von Hartmut Vincon ist derzeit wohl keine Storms Leben vollständig beschreibende Biographie auf dem Markt. Die beiden letzten stammen, soweit ich sehe, von Georg Bollenbeck (Insel, 1988; demnächst in diesem Theater) und eben Roger Paulin, der innerhalb der Reihe der Beck’schen Autorenbücher ein Storm-Porträt abliefert.

Wie bei der Reihe üblich, ist das Buch zugleich Kurzbiographie und Werkeinführung und zielt auf eine studentische Leserschaft ab, die sich schnell einen Überblick zu einem Autor verschaffen will. Diesem Anspruch genügt das Buch vorbildlich. Paulin ist offensichtlich ein exzellenter Kenner Storms und findet bei der Besprechung ein ausgewogenes Verhältnis von Prosa und Lyrik – er schließt sich übrigens Storms Selbsteinschätzung an, einer der bedeutendsten Lyriker des 19. Jahrhunderts zu sein. Er geht bei der Erschließung der Werke von der Autorenpoetik aus und setzt Storms Dichtung von den zeitgenössischen Hauptströmungen ab, ohne sie dabei in die Kategorie Heimatdichtung abzuschieben. Auch persönliche und ökonomische Bedingungen der Produktion werden knapp, aber treffsicher thematisiert. Angesichts des derzeitigen Mangels an Biographischem zu Storm ist es trotz seinem nicht unbeträchtlichen Alter zu bedauern, dass dieses Buch von Beck nicht weiter aufgelegt worden ist.

Roger Paulin: Theodor Storm. Beck’sche Reihe 622. München: Beck, 1992. 144 Seiten.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren

toibinNoch ein Henry-James-Roman, der ebenso wie David Lodges »Autor, Autor« aus dem Jahr 2004 stammt. Der Originaltitel lautet schlicht »The Master«, aber das Marketing beim Hanser Verlag fand offenbar die Joyce-Anspielung schick.

Das Buch setzt später ein als das von Lodge: Jedes der elf Kapitel ist mit einer Monatsangabe überschrieben und das erste Kapitel beginnt im Januar 1895 mit der desaströsen Premiere von James’ Theaterstück »Guy Domville«, und es folgen dann drei weitere Kapitel bevor das Buch das einigermaßen kontinuierliche Erzählen aufgibt und sich in Sprüngen bis zum Oktober 1899 bewegt; allerdings umfasst das letzte Kapitel auch noch den Übergang in das Jahr 1900.

Insgesamt ist Tóibíns Buch bei weitem nicht so konzentriert wie das von Lodge. Tóibín unternimmt lange Rückblenden, die zum Teil weitere Rück- oder Vorblenden enthalten, so dass man am Anfang manch eines Abschnitts nicht ganz sicher sein kann, wo in der Chronologie man sich gerade befindet. Man vermisst einen roten Faden, der das Buch strukturieren würde; im Grunde laufen alle Erzählstränge recht unverbindlich nebeneinander her und James muss für die Assoziationsbrücken des Autors Tóibín geradestehen.

Da geht denn dann auch einiges schief: So erfährt der Leser auf S. 235 zum ersten Mal etwas über Constance Fenimore Woolson, die Henry James bis zu ihrem Freitod in Venedig im Januar 1894 sehr nahe gestanden hatte. Dementsprechend heißt es dann zwei Seiten später:

Ihr Tod war für Henry, ebenso wie der seiner Schwester Alice, ein ständiger täglicher Begleiter.

Wenn das so war, dürfte die Frage berechtigt sein, warum der Leser davon erst nach über 230 Seiten Kenntnis erlangt, nachdem er bereits dreieinhalb Jahre im Leben des Henry James hinter sich gebracht hat. Solche Beliebigkeiten in der Darstellung finden sich recht häufig.

Im Gegensatz zu Lodge, der das Thema eher dezent anspricht, betont Tóibín die vermutliche Homosexualität Henry James’ stark und setzt sich deshalb auch intensiv mit den Prozessen um Oscar Wilde auseinander, denen James aufgrund der ihm zugeschriebenen habituellen Invertiertheit fasziniert folgen muss.

Recht gelungen ist die Darstellung des älteren Bruders William James und seiner Familie im letzten Kapitel des Buches, aber alles in allem wäre wahrscheinlich anzuraten, die Lektürezeit besser auf das Buch von Lodge oder die Biographie von Leon Edel zu verwenden.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, 2005. Pappband; 427 Seiten. 24,90 €.

David Lodge: Autor, Autor

188967399_14e15afd94David Lodge, englischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, hat sein neues Buch einem Klassiker der englischsprachigen Literatur gewidmet: Es erzählt die Lebensgeschichte des amerikanischen Autors Henry James (1843–1916). Doch »Autor, Autor« ist keine Biografie, sondern ein Roman, der sich aber in nahezu allen Details an die Tatsachen hält.

Henry James hat heute in der englischsprachigen Welt in etwa den Status, den Theodor Fontane in der deutschsprachigen Literatur einnimmt: eine der wichtigen Stationen auf dem Weg zum modernen Roman. Das war aber nicht immer so. David Lodge konzentriert sich im Hauptteil seines Buches auf eine Zeit der Krise im Leben von Henry James, der seit Ende 1876 hauptsächlich in London lebte. Ende der 1880er Jahre ist sein Ruhm als Autor im Schwinden begriffen, der Absatz seiner Bücher geht von Jahr zu Jahr zurück und James sieht sich auf lange Sicht einer ernsthaften finanziellen Notlage gegenüber.

Da kommt es ihm gerade recht, dass er Ende 1888 die Anfrage einer englischen Theatertruppe bekommt, die ihn bittet, seinen Roman »Der Amerikaner« zu einem Theaterstück umzuarbeiten. Nach anfänglichem Zögern begreift James dieses Angebot als Chance, seine finanzielle Lage dauerhaft abzusichern. Er geht nicht nur auf das Angebot ein, sondern entwirft zugleich den Plan, eine Karriere als Bühnenautor zu beginnen. Erst nach mehr als fünf Jahren wird James die Fruchtlosigkeit seiner Versuche endgültig einsehen. Lodge beschreibt die Hoffnungen, Anstrengungen, Erfolge und Niederlagen, die James in diesen Jahren durchlebt, mit großer Sensibilität und Empathie.

Begleitet wird die Erzählung dieser Lebensphase von der Darstellung zweier wichtiger Freundschaften mit anderen Autoren: George du Maurier (dem Großvater von Daphne du Maurier), eigentlich Zeichner, der 1894 mit seinem Roman »Trilby« einen Megaseller schreibt, und Constance Fenimore Woolson, der Frau, die dem lebenslang keuschen Henry James wohl am nächsten stand; auch sie war als Autorin kommerziell wesentlich erfolgreicher als James.

Dieser Hauptteil wird durch die Erzählung der letzten Wochen gerahmt, die Henry James durchlebt: Seinem langsamen geistigen Verfall nach einem Schlaganfall, der Ehrung durch das englische Königshaus mit dem Order of Merit, seinem Tod und schließlich einem Ausblick auf seinen Nachruhm, der in der englischsprachigen Welt bis heute anhält.

Lodges »Autor, Autor« ist ein ruhig und sorgfältig erzählter Roman, was seinem Inhalt auch ganz angemessen ist. An einer Stelle macht sich Lodge beinahe ein wenig lustig über Henry James und zugleich über sich selbst:

Das Thema […] war reizvoll, aber er gab bereitwillig zu, daß der Roman mit zu vielen Kommentaren behaftet und im Tempo zu gemächlich war. [S. 137]

Doch wer ein wenig Geduld für das Buch aufbringt und sich für Schriftsteller und das späte 19. Jahrhundert interessiert, sollte »Autor, Autor« auf jeden Fall lesen.

David Lodge: Autor, Autor. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 2006. Fadenheftung; 544 Seiten. 17,90 €.