Urs Bircher: Max Frisch

3-85791-286-3 Die bislang einzige umfangreiche biografische Darstellung des Lebens von Max Frisch, die inzwischen auch nicht mehr lieferbar ist. Wer sich derzeit über Frischs Leben informieren möchte, ist – wenn er nicht antiquarisch suchen will – auf die inzwischen ebenfalls mehr als zehn Jahre alte, dünne Rowohlt-Monographie von Volker Hage angewiesen. Das ist kein gutes Zeichen für einen Autor.

3-85791-297-9 Die beiden Bände von Urs Bircher behandeln sowohl die eigentliche Biografie als auch das Werk umfassend und – soweit ich das beurteilen kann – sorgfältig. Die Darstellung der Werke hat zumeist einführenden Charakter, was dem Rahmen des Buches aber ganz angemessen ist. Hier und da merkt man, dass das Buch von einem Fan geschrieben wurde, da kritische Stimmen zwar in Auswahl zitiert werden, die Zustimmung von Rezensenten und Kollegen zum Werk aber nahezu immer im Vordergrund steht. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Schwächen des Autors Frisch sollte man nicht erwarten. Auch eine Auseinandersetzung mit der Nachwirkung zumindest für das knappe Jahrzehnt nach Frischs Tod fehlt. Die zahlreichen Überschriften und ein Namen- und Werkregister in beiden Bänden erlauben den gezielten Zugriff auf bestimmte Themen oder Werke. Etwas lästig ist für den Leser allein die Marotte, die Legenden zu allen Bilder am Ende des jeweiligen Bandes zu versammeln.

Urs Bircher: Max Frisch 1911–1955. Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Zürich: Limmat Verlag, 1997. Bedruckter Pappband, 287 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Ders.: Max Frisch 1956–1991. Mit Ausnahme der Freundschaft. Zürich: Limmat Verlag, 2000. Bedruckter Pappband, 276 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel

978-3-257-06174-1 Ein mit 36 Briefen dünner Briefwechsel dieser beiden prominentesten Schweizer Autoren des vergangenen Jahrhunderts, den ich aus didaktischem Anlass wieder einmal aus dem Schrank geholt habe. Natürlich erklärt sich der geringe Umfang hauptsächlich daraus, dass Frisch und Dürrenmatt sehr vieles mündlich verhandelt haben bzw. sich später nur noch wenig zu sagen hatten. Man merkt beiden am Ende die gute Absicht an, mit der der jeweils andere nichts mehr anzufangen weiß. Dennoch waren sie wohl bis zum Schluss mit dem Gegenüber innerlich mehr beschäftigt, als es die äußerlich bleibenden Briefe ahnen lassen.

Daher ist das beinahe Wichtigste an dem Buch der umfangreiche Essay Fast eine Freundschaft des Herausgebers Peter Rüedi, der die Bekanntschaft der beiden Autoren sorgfältig aufarbeitet und darstellt. Rüedi hat zudem die einzelnen Briefe sorgfältig kommentiert, so dass das Bändchen eine Fülle von biografischen Materialien zu beiden Autoren liefert. Die Texte sind ergänzt um einige Brief-Faksimiles und Bilder sowie eine parallele Chronik zu beiden Autoren. Ein Personen- und Werkregister erschließt das Buch.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel. Hg. v. Peter Rüedi. Zürich: Diogenes, 1998. Leinen, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,90 €.

Markus Werner: Festland

Virtuose Erzählung, die drei Zeitebenen miteinander verbindet. Protagonistin und Erzählerin Julia hat gerade ihr Studium abgeschlossen und ist anschließend in eine depressive Verstimmung geraten. Aus dieser befreit sie ein Anruf ihres Vaters, zu dem sie nur wenig Kontakt hat. Aufgewachsen ist sie nach dem Freitod ihrer Mutter bei den Großeltern, die den unehelichen Vater vom Leben Julias ferngehalten haben. Nun ist Julia aber neugierig auf die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Zeugung. Sie sucht daher ihren Vater auf und findet diesen ebenfalls von einer Depression befallen. Der Vater erzählt seiner Tochter nun die Geschichte seiner unerwiderten Liebe zu Lena, Julias Mutter, aus der Julia als Kind eines einzigen Beischlafs hervorgegangen ist. Als dritte Zeitebene tritt der eigentliche Erzählzeitpunkt hinzu, zu dem sich Julia im Haus ihres Vaters im piemontesischen Orta aufhält. Auf dieser Ebene wird von der Trennung Julias von ihrem Geliebten Josef, einem Mediziner, erzählt.

Mit Orta und dem nahen Sacro Monte di Varallo geraten die beiden scheiternden Liebesbeziehungen des Buches unvermittelt in die Nähe der gescheiterten Liebe Nietzsches zu Lou Andreas-Salomé. Dabei lassen sich nicht ohne weiteres allegorisierende Parallelen ziehen, sondern der Ort und die beiden Spiegelfiguren Andreas-Salomé und Nietzsche dienen eher als Vexierbild der erzählten Ereignisse.

Der Text präsentiert einen souveränen und artistischen Erzähler, dem es ohne große Schwierigkeiten gelingt, seine im Grunde recht simple Liebesgeschichte nicht nur durch eine komplexe Erzählstruktur anzureichern, sondern ihr durch die literarisch-biographische Unterfütterung zudem einen auf Anhieb interessanten assoziativen Hallraum mitzugeben. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es sich nicht erweisen könnte, dass hier letztlich die Trivialität – die ja wesentlich diejenige des Stoffs ist – mehr verschleiert als gehoben wird. Es mag aber auch sein, dass diese reklamierte Differenz am Ende nicht nachweisbar sein wird.

Markus Werner: Festland. dtv 12529. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 42003. 142 Seiten. 8,– €.

Max Frisch: Schwarzes Quadrat

frisch_quadratDas Bändchen bringt erstmals zwei Poetik-Vorlesungen aus dem Nachlass von Max Frisch, die im November 1981 am New Yorker City College vor großem Publikum gehalten wurden. Die erste Vorlesung thematisiert in der Hauptsache das Verhältnis von Fiktion und Erfahrung, die Fragen nach dem Grund des Schriftstellerseins und nach der konkreten Arbeitsweise Frischs. Die zweite kreist um Fragen nach der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung des Schriftstellers sowie nach der Wirkung von Literatur bzw. Kunst schlechthin.

Aus dem zuletzt genannten Thema heraus gewinnt das Bändchen auch seinen Titel: Frisch erzählt die Anekdote eines Handels-Ambassadors, der in Petersburg nach erfolgreichem Abschluss seiner Verhandlungen mit offizieller Begleitung die Eremitage besucht und es dahin bringt, dass man für ihn auch Malewitschs Schwarzes Quadrat – eine radikale Absage an die Gegenständlichkeit in der Malerei – aus dem Keller holt:

Schliesslich durfte der Ambassador es sehen für ein paar Minuten. Ein schwarzes Quadrat. Und sie begeisterten sich beide vor Malewitsch. Aber ich verstehe, sagte der Ambassador, ich verstehe, das würde dem sowjetischen Volk nichts bedeuten, sowenig wie dem schweizerischen, ein Quadrat und schwarz und weiter nichts, warum hängt ihr das nicht ein Mal neben die Gemälde des Sozialistischen Realismus, wo das sowjetische Volk sich erkennt bei der Arbeit für die Gesellschaft, und das Volk würde sehen, Malewitsch ist Quatsch! Die Dame hörte zu. Im Ernst, sagte der Ambassador, Sie brauchen doch Malewitsch nicht im Keller zu verstecken, das Volk würde ihn gar nicht ansehen! Die Dame lachte: Sie irren sich – das Volk könnte nicht verstehen, wozu dieses schwarze Quadrat, aber es würde sehen, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat.

Dies illustriert die von Frisch vertretene Ansicht, die Literatur bzw. die Kunst überhaupt bilde keine Gegenmacht, sondern eine »Gegen-Position zur Macht«. Dies und das abschließende »Manifest« zur Poesie sind die spannendsten Teile der beiden Vorlesungen.

Das Büchlein ist sicherlich nur etwas für eingeschworene Frisch-Leser, die auch an seinen poetologischen Gedanken Interesse haben oder ihre Bibliothek vervollständigen wollen. Ich habe es aus einer alten Sentimentalität heraus gekauft und gelesen und einmal mehr bemerkt, wie sehr sich die literarische Wahrnehmung mit der Zeit wandelt: Ich scheine den Punkt meiner größten Entfernung von Frisch bereits durchlaufen zu haben.

Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen. Hg. v. Daniel de Vin unter Mitarb. v. Walter Obschlager. Mit einem Nachwort v. Peter Bichsel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Broschur, 93 Seiten. 14,80 €.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters

widmer_vater In Der Geliebte der Mutter spielte der Vater des Erzählers eine marginale, rein funktionale Rolle: Die Mutter, enttäuscht von ihrem Geliebten Edwin, heiratet den ersten besten Mann, der ihr über den Weg läuft, hat mit ihm ein Kind und verfällt dann langsam, aber sicher ihrer großen Krise. Nach Hochzeit und Zeugung wird der Vater wohl nur noch ein- oder zweimal erwähnt, er scheint aber weder für sich noch für die Mutter irgend eine Bedeutung zu haben.

Dieses Manko behebt Widmer nun mit diesem Buch, das die Geschichte des Vaters erzählt. Im Buch heißt der Vater zwar Karl, aber zahlreiche Lebensdetails dürften direkt der Biographie des Romanisten und Übersetzers Walter Widmer entnommen sein, was das Buch wesentlich reichhaltiger und spannender werden lässt als seinen Vorgänger. Widmer macht aber deutlich, dass es sich nicht um den Versuch einer Biographie seines Vaters handelt, sondern er im Gegenteil eine Figur erfindet, die sein Vater hätte sein können. Auch darf man nicht erwarten, dass beide Bücher naht- und bruchlos ineinandergreifen; sie widersprechen einander sogar in wesentlichen Details, da es sich in beiden Fällen um fiktionalisierte und erzählerisch idealisierte Biographien handelt, die auf die eine Strukturierung und Intensivierung der biographischen Wirklichkeit abzielen. Man sollte sie also zugleich und gleichwertig als Pendants und jeweils für sich stehend lesen.

Das Buch des Vaters beginnt mit der Feststellung: »Mein Vater war ein Kommunist.« Im Gegensatz zu diesem Auftakt folgt aber nun gerade keine politische Biographie, sondern die Politik spielt eher eine Nebenrolle. Indem der Erzähler dann den Tod des Vaters vorwegnimmt, führt er das zentrale Motiv des Buches ein, das auch den Titel des Buches bedingt: Der Vater verfügt über ein Lebensbuch, das er an seinem zwölften Geburtstag in einer märchenhaften, feierlichen Zeremonie im Heimatdorf seines Vaters überreicht bekommen hat und in dem er von da an täglich Ereignisse und Gedanken seines Lebens notiert. Allerdings ist Das Buch des Vaters nicht mit diesem Lebensbuch identisch; aber da soll nicht zuviel verraten werden.

Was Das Buch des Vaters deutlich angenehmer als Der Geliebte der Mutter macht, ist sein größerer Humor, was aber in der Hauptsache stoffliche Gründe haben dürfte. Während Der Geliebte der Mutter die Geschichte eines Liebeswahns ist, von dem sich die Mutter bis an ihr Lebensende nicht wirklich zu befreien versteht, erinnert Das Buch des Vaters eher an einen Schelmenroman, den Roman eines beinahe romantischen Taugenichts, der sein Leben weitgehend sorglos treiben lässt, seiner Leidenschaft für französische Literatur und hier und da auch die Frauen lebt und ansonsten den Lieben Gott einen guten Mann sein lässt. In einem gewissen Sinne ist er noch weltverlorener als die Mutter, was wiederum einen wichtigen Reflex auf das Buch der Mutter wirft, da es verständlich macht, warum der Vater in ihm eine so marginale Rolle spielt.

Erst zusammen mit diesem Buch wird Der Geliebte der Mutter richtig rund, und es ist, wie bereits gesagt, zu empfehlen, beide Bücher als Passepartouts für einander zu lesen.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters. detebe 23470. Zürich: Diogenes Verlag, 2005. Pappband, 209 Seiten. 8,90 €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-richterEine Schullektüre ist ein Buch, das jede und jeder meint zu kennen, weil es in der Schule gelesen werden musste. Die allermeisten hassen diese Bücher, weil sie die Schule oder auch nur den Deutsch-Unterricht gehasst haben, und schauen nie wieder in eines dieser Bücher hinein. Wahrscheinlich hat es kein einziges Buch verdient, zur Schullektüre zu verkommen, aber bei einigen bedauert man es mehr als bei anderen. Dürrenmatts Der Richter und sein Henker gehört bei mir zu diesen Büchern. Das ist um so erstaunlicher, als ich eigentlich kein Krimi-Leser bin. Der Krimi ist ein Genre, das ich zwar im Film goutiere, das mir aber im Roman in der Regel zu schematisch, langweilig und eindimensional ist – war, sollte ich besser sagen, denn ich lese schon lange keine Krimis mehr.

Die erneute Lektüre von Der Richter und sein Henker (es ist wohl insgesamt die vierte) hat einen didaktischen Anlass: Schullektüre eines Jüngeren. Ich hatte erwartet, einen erzählerisch etwas angestaubten Roman vorzufinden, und war überrascht, was für ein elegantes, schlankes und durchtrainiertes Büchlein sich mir diesmal gezeigt hat. Sicher ist das eine oder andere nicht ganz gelungen, so etwa die Erzählung der Vorgeschichten von Bärlach und Gastmann im Gespräch, wodurch Gastmann für einen Augenblick unnötig geschwätzig und banal erscheint. Oder auch das Gastmahl für Tschanz, das den Roman beschließt und das unnötig überfrachtet ist mit existenzialistischen und moralisierenden Motiven. Da geht der Dramatiker mit dem Prosaautor durch; aber derlei sind Kleinigkeiten.

Dem steht entgegen, wie einfach und schlicht etwa das politische Unterfutter der Bärlachschen Intrige in den Roman eingeführt wird oder wie hübsch sich die beiden Protagonisten Bärlach und Gastmann ineinander spiegeln und ihre Wette am Ende beide zugleich gewinnen und verlieren. Das alles ist gut ausgedacht und zeichnet ein Bild der Schweizer Gesellschaft Ende der 40er Jahre, wie man es lakonischer und zugleich böser in einem populären Roman wohl lange wird suchen müssen. Ein Buch, das an die Tradition großer Schweizer Erzähler anschließt!

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. detebe 22535. Zürich: Diogenes, 1985 ff. 180 Seiten. 5,90 €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler

duerrenmatt_schachspieler Eine Veröffentlichung aus dem Nachlass Friedrich Dürrenmatts ist dieser Entwurf zu einer Kriminal-Erzählung (kein Fragment, wie das Titelblatt suggeriert), der nur wenige Seiten umfasst. Erzählt wird die Geschichte zweier Juristen, eines alten Richters und eines jungen Staatsanwalts, die sich auf der Beerdigung des Vorgängers des Staatsanwaltes kennenlernen. Der Richter kommt mit dem Staatsanwalt ins Gespräch und erwähnt, dass er mit dem Verstorbenen befreundet war und sich mit ihm regelmäßig zum Schachspiel getroffen habe. Auch der junge Kollege spielt Schach und man verabredet sich für den kommenden Sonntag zum Spiel. An diesem Tag ziehen sich nach einem Essen, bei dem auch die Tochter des Richters und die Gattin des Staatsanwaltes anwesend sind, die beiden Herren ins Arbeitszimmer zurück, wo der Richter dem Jüngeren ein mörderisches Geheimnis anvertraut, das hinter dem gemeinsamen Schachspiel steckt … Seltsamerweise sind es bei Dürrenmatt oft Juristen, die dem Wahn verfallen müssen, gottgleich in das Schicksal der Menschen eingreifen zu dürfen.

Ergänzt wird der Entwurf durch einen kurzen Auszug aus einer Rede über Einstein aus dem Jahr 1979, in der Dürrenmatt zur Veranschaulichung einer Differenz zwischen einem »deterministischen« und einem »kausalen« Weltbild die Welt mit einer Schachpartie vergleicht. Die Nähe zum Szenario der Erzählung ist offensichtlich.

Attraktiv wird der Band durch die handwerkliche aufwendige Herstellung und die opulente Ausstattung mit Graphiken des Züricher Graphikers Hannes Binder, die den eigentlichen Gehalt des Bandes ausmachen, da der Entwurf der Erzählung allein, der an sich bloß Ideenskizze bleibt, kaum ein Büchlein füllen würde. Die Illustrationen sind konsequent schwarz-weiß gehalten und spiegeln im Format die Quadrate eines Schachbretts wider. Ästhetisch ist das Bändchen sehr gelungen, inhaltlich ist es etwas schmal geraten. Neben der hier vorgestellten Normalausgabe existieren zwei hochpreisigere Vorzugsausgaben, die nur direkt vom Verlag zu beziehen sind.

Ein Buch für Dürrenmatt- und/oder Schachfreunde.

Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler. Großhansdorf: Officina Ludi, 2007. Bedrucktes und geprägtes Leinen, Fadenheftung, 28 Seiten (24,5 × 24,5 cm). 27,80 €.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter

Widmer_MutterUrs Widmer genießt (oder erträgt) gerade einige Aufmerksamkeit, da er den Friedrich-Hölderlin-Preis 2007 erhalten hat. Widmer produziert seit vielen Jahren mit großer Kontinuität, ohne groß im Fokus einer breiteren literarischen Öffentlichkeit zu stehen. Ich kannte bislang nur seine Prosaversionen von »Shakespeares Geschichten«, die er ergänzend zu Walter E. Richartz Übersetzungen der Nacherzählungen von Mary Lamb verfasst hatte. »Der Geliebte der Mutter« wurde mir empfohlen, und so habe ich die Gelegenheit genutzt, als der Text in der Buchreihe der »Süddeutschen Zeitung« erschien.

Es handelt sich in der Hauptsache um die Geschichte einer unglücklichen Liebe: Clara Molinari – deren vollständigen Namen wir erst nach viel zu vielen Seiten erfahren – verliebt sich als junge Frau in Edwin, einen begabten jungen Dirigenten aus ärmsten Verhältnissen. Edwin hat eine Weile lang eine für ihn eher gleichgültige Affäre mit ihr, heiratet dann aber reich und gesellschaftsfähig und sieht Clara nie wieder. Clara wiederum, die während der Zeit der Affäre den finanziellen Ruin ihrer Familie und den Tod ihres Vaters am Tag nach dem Schwarzen Freitag 1929 ertragen muss und die Abtreibung eines Kindes von Edwin über sich ergehen lässt, heiratet auf die Nachricht von Edwins Hochzeit hin »den ersten besten Mann«, der im ganzen Buch dann überhaupt gar keine Rolle spielt, auch in den Gedanken des Erzählers nicht vorkommt. Nach einer weiteren Schwangerschaft, aus der der Erzähler hervorgeht, verliert sie zunehmend ihr psychischens Gleichgewicht, ist akut selbstmordgefährdet und wird in eine Klinik eingewiesen, wo sie mit Elektroschocks behandelt wird.

Aus der Klinik entlassen, therapiert sie sich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs selbst durch Gartenarbeit. Sie betreibt auch weiterhin einen Kult um Edwin, der inzwischen ein weltberühmter und steinreicher Dirigent geworden ist und seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzt. Sein Tod ist der eigentliche Erzählanlass der Geschichte und bildet den erzählerischen Rahmen. Nebenbei erzählt uns Widmer auch ein wenig von der Karriere Edwins, die Familiengeschichte des Vaters von Clara, lässt Mussolini leibhaftig auftreten und was der Anhängsel mehr sind, die den Text wenigstens auf eine einigermaßen angängige Länge bringen. Alles das ist sehr locker gestrickt, was einen nicht unbedingt stören muss, den Text aber in einigen Passagen merkwürdig beliebig macht.

Wirklich störend aber ist die Sprache Widmers. Die Absicht scheint zu sein, einen lakonischen Ton zu treffen, aber gerade dafür fehlt Widmers Beschreibungen und Wendungen die Präzision. Das meiste kommt sehr lax daher:

Für die eingemachten Birnen, Aprikosen, Zwetschgen hatte sie grüne Gläser aus Bülach. Daß sie aus Bülach waren, das war irgendwie wichtig.

Und bei diesem »irgendwie« bleibt es. Mehr weiß der Erzähler nicht, und um mehr hat er sich auch nicht gekümmert; und der Autor eben auch nicht!

Sie blieb jetzt im Haus am Stadtrand, auch in den Sommern. Es stand längst nicht mehr am Rand der Stadt, war eingeschlossen von neuen Häusern.

Mir sind solche sprachlichen Albernheiten unzugänglich, und ich kann darin nichts anders erkennen, als eine gewisse Gleichgültigkeit des Autors dem Leser gegenüber. – Von der mit einem schweren Stein in der Hand voller Verzweiflung in den See watenden Clara heißt es:

Der Stein entglitt ihr, ohne daß sie es bemerkte.

Spätestens wenn der Stein auf ihren Füßen gelandet ist, wird sie es wohl doch bemerkt haben. Und weiter schreibt Widmer:

So verharrte sie. Endlich machte sie rechtsum kehrt – vielleicht weil ein Nachtvogel schrie, oder weil ein fernes Auto hupte –, stakste ans Ufer zurück und rannte nach Hause.

Ist es nicht merkwürdig, dass der Erzähler genau weiß, dass sich seine Mutter rechts herum gedreht hatte, aber nur Mutmaßungen darüber anstellen kann, was der Grund für ihr Erwachen aus der Starre ist? Der Autor scheint weder besonders auf die von ihm verwendeten Worte zu achten, noch eine besonders präzise Vorstellung von der von ihm geschilderten Szene entwickelt zu haben. Und aus der mangelhaften Präzision der Vorstellung resultiert eine Beliebigkeit der Sprache. Leider hinterlässt das Buch auch insgesamt genau diesen Eindruck.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung | Bibliothek. München, 2007. Pappband, 129 Seiten. 5,90 €.