Mag dem indeß sein, wie ihm wolle, so bleibt es doch heut zu Tage mit der Dichterei überall bedenklich, weil es so wenig Verrückte mehr giebt, und ein solcher Überfluß an Vernünftigen vorhanden ist, daß sie aus ihren eigenen Mitteln alle Fächer und sogar die Poesie besetzen können. Ein rein Toller, wie ich, findet unter solchen Umständen kein Unterkommen. Ich gehe deshalb auch nur jetzt blos noch um die Poesie herum, das heißt, ich bin ein Humorist worden, wozu ich als Nachtwächter die meiste Muße habe. –
Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa
Kurze biografische Erzählung, deren Inhalt der Titel bereits umreißt. Die Erzählung beginnt mit der Fahrt Pessoas ins Krankenhaus am Abend des 28. November 1935 und endet mit seinem Tod aufgrund einer Leberzirrhose am 30. In dieser Zeit wird er von den wichtigsten seiner Heteronyme besucht: Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Bernardo Soares, Ricardo Reis und António Mora kommen einer nach dem anderen, um sich von ihrem Autor zu verabschieden. Dabei erlaubt sich Tabucchi besonders bei Ricardo Reis massive Eingriffe in dessen Biografie: Er sei gar nicht, wie Pessoa bestimmt hat, nach Brasilien ausgewandert, sondern sei aufs Land gezogen und habe sein Leben als Provinzarzt verbracht. Warum Tabucchi versucht, Reis als Angeber hinzustellen, wird aus der Erzählung heraus nicht klar; ich bezweifle auch sehr, dass er erhebliche Gründe dafür hat.
Wie in vielen Fällen von biografischen Fiktionen überzeugt auch diese am Ende nicht. Das beginnt mit der immer problematisch bleibenden Notwendigkeit, die Voraussetzungen der geschilderten Situation in den personal gehaltenen Text einzuflechten, was dazu führt, dass man den Protagonisten lauter Sachen denken und sagen lässt, die normalerweise in seinem Kopf nichts zu suchen hätten. Und das endet nicht bei der Frage, für wen – außer dem Autor – eine solche Erzählung eigentlich gedacht sein soll: Der uniformierte Leser versteht den Witz nicht, der informierte zuckt mit den Schultern und vergisst es gleich wieder.
Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1998. Broschur, 67 Seiten. 9,90 €.
Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa?
Kleine, aber höchst nützliche Aufsatzsammlung zu Fernando Pessoa, die auch zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit diesem Autor sehr geeignet ist. Die meist kurzen Aufsätze sind thematisch vom Allgemeinen zum Besonderen hin sortiert: Es beginnt mit einer recht ausführlichen Darstellung von Pessoas Leben und Werk, gefolgt von einer Übersicht über die Heteronyme und ihre Werkanteile, Porträts einiger der Dichterpersönlichkeiten, die Pessoa in sich erzeugt hat, und geht schließlich zu spezielleren Fragen über. Und obwohl Tabucchi Literaturwissenschaftler ist, sind diese Aufsätze frei von Jargon und theoretischem Gehabe. Ergänzt wird das Büchlein durch eine kleine Auswahl von Texten Pessoas, auf die in den Aufsätze Tabucchis Bezug genommen wurde.
Alles in allem ein musterhaftes kleines Büchlein, das einen schnellen und kompetenten Zugang zum Werk dieses anspruchsvollen, portugiesischen Schriftstellers eröffnet.
Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa? Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1992. Broschur, 156 Seiten. 14,90 €.
Helmut Siepmann: Kleine Geschichte der portugiesischen Literatur
Eine für eine kleine Geschichte schon recht umfangreiche und, soweit ich das beurteilen kann, vollständige Darstellung der portugiesischen Literatur mit dem üblichen Schwergewicht auf dem 20. Jahrhundert. Alle wichtigen Autoren werden ausführlich behandelt, zentrale Werke sowohl inhaltlich referiert als auch kultur- und geistesgeschichtlich verortet. Eine gute Einführung, die aber deutlich für Studenten der Romanistik geschrieben wurde, so dass der Laie vielleicht für einzelne Begriffe den Übersetzer von Google zur Hilfe nehmen muss.
Dass dieses Buch weit und breit die einzige umfangreiche Darstellung zur Geschichte der portugiesischen Literatur ist und offensichtlich nach dem Erstdruck nicht noch einmal aufgelegt wurde, zeigt einmal mehr, welch stiefmütterlichen Platz die Literatur Portugals im Bewusstsein der sonst so weltoffenen deutschen Leser immer noch einnimmt.
Helmut Siepmann: Kleine Geschichte der portugiesischen Literatur. Beck’sche Reihe 1547. München: C. H. Beck, 2003. 320 Seiten. Zurzeit nur antiquarisch lieferbar.
Ángel Crespo: Fernando Pessoa
Crespos Buch ist die umfangreichste Biografie des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa, die auf Deutsch vorliegt. Sie ist erstmals 1988 in Barcelona erschienen und wurde 1996 auf Deutsch vorgelegt, wohl schon mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse 1997, bei der Portugal Gastland war. Die von mir gelesene deutsche Erstausgabe ist sprachlich an einigen Stellen sehr mangelhaft; ob und wie weit das in der »korrigierten« Taschenbuchausgabe bei Fischer 1998 behoben wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.
Das Buch ist für einen deutschen Leser, der sich nicht schon zuvor mit der portugiesischen Literatur auseinandergesetzt hat, keine leichte Kost, da Crespo einige literarhistorische Kenntnisse schlicht voraussetzt. So werden Begriffe wie z. B. Saudosismus oder Paulismus weitgehend als bekannt vorausgesetzt. Dem gemeinen deutschen Leser empfehle ich daher, sich durch die Lektüre einer portugiesischen Literaturgeschichte (etwa der von Helmut Siepmann) etwas vorzubereiten. An anderen Stellen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass auch Crespo nicht so genau weiß, worüber Pessoa gerade redet, was ihn allerdings nicht hindert, sich seitenweise darüber auszulassen.
Auch was die Darstellung des Werks Pessoas angeht, wünschte man sich an vielen Stellen weniger abgehobenes Palaver und mehr konkrete Information. So findet sich an keiner Stelle eine systematische Darstellung aller von Pessoa verwendeten Heteronyme. Der Leser würde gerne erfahren, welche Heteronyme Pessoa überhaupt verwendet hat, in welcher Reihenfolge sie wahrscheinlich entstanden sind, welche biografischen Daten über sie vorliegen und welche Charakteristika ihre Werke voneinander unterscheidet. Ich will nicht sagen, dass sich nicht ein bedeutender Teil dieser Informationen im Buch finden lässt, nur eben hier und da, so wie es dem Autor gerade in den Sinn gekommen ist.
Wie schon angedeutet, verbessert sich diese Lage auch dadurch nicht, dass zumindest die deutsche Erstausgabe sehr flüchtig übersetzt und produziert worden ist. Es finden sich zahlreiche schlicht ungrammatikalische Sätze, die weder dem Übersetzer noch dem Lektorat hätten entgehen dürfen.
Insgesamt ein recht schlechtes Buch, das aber leider im deutschen Sprachraum konkurrenzlos geblieben zu sein scheint. Beide Ausgaben sind inzwischen lange vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.
Ángel Crespo: Fernando Pessoa. Das vervielfältigte Leben. Aus dem Spanischen und Portugiesischen von Frank Henseleit-Lucke. Zürich: Ammann, 1996. Pappband, 496 Seiten, davon 16 mit Abbildungen.
Volker Hage (Hg.): Max Frisch
Umfangreiche Bild-Biografie anlässlich des 100. Geburtstags Frischs. Der Band enthält rund 300 Fotos, großteils in Schwarz-Weiß, die die gesamte Lebensspanne Frischs dokumentieren. Begleitet werden die Fotos durch sparsame, aber informative Texte, die einmal mehr Hages Kennerschaft belegen. Außerdem findet sich im Anhang drei umfangreiche Interviews, die Hage 1981 und 1982 mit Frisch geführt hat.
Im Gegensatz zu den üblichen Biografien, die in einem Jubiläumsjahr erscheinen, erschöpft sich dieses Buch nicht in der Wiederholung des längst anderswo schon Gesagten, sondern liefert einen kurzen und präzisen Überblick über das Leben Frischs.
Volker Hage (Hg.): Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. Pappband, Fadenheftung, 259 Seiten Kunstdruckpapier mit rund 300 Abbildungen. 24,90 €.
Zum 100. Geburtstag von Max Frisch
WASHINGTON SQUARE
die Schachspieler an den öffentlichen Steintischen mit dem wetterfesten Schachmuster, darüber Grün mit Vogelzwitschern. Oft bleibe ich lange da stehen, aber immer nur stehen; ich setze mich nicht. Heute hat mich einer gefragt, ein Schwarzer, ob ich Lust habe zu einer Partie. Kein sehr guter Spieler, wie ich vorher bemerkt habe, und trotzdem wage ich’s dann nicht. Kann ich mir keine Niederlagen leisten? Oder keinen Sieg? weil er nichts bewirkt; im Gegenteil, nachher klafft das Bewußtsein meines häuslichen Versagens –
Montauk
GW 6, 629
Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten
Sönke Neitzel hat im Jahr 2005 unter dem Titel »Abgehört« einen ersten Band mit Abhörprotokollen des britischen Militärgeheimdienstes veröffentlicht, die während des 2. Weltkrieges in der Hauptsache im Gefangenenlager Trent Park in der Nähe Londons erstellt worden waren. In Trent Park war eine handverlesene Gruppe höherer Offiziere interniert, von denen sich der Geheimdienst besonders ergiebige Erkenntnisse erwartete. Bei »Soldaten« handelt es sich um eine Erweiterung dieses ersten Bandes. Diesmal werden auch Abhörprotokolle von Mannschaftsdienstgraden ausgewertet. Im Vergleich zu »Abgehört« wurde die Gewichtung zwischen Dokumentation und Interpretation bei diesem neuen Band deutlich zu Ungunsten der Dokumentation verschoben. Die Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer führt dazu, dass der Textanteil des deutenden Zugriffs in diesem Buch den der eigentlichen Protokolle deutlich überwiegt. Das Buch ist daher offensichtlich eher für den historischen Laien gedacht.
Das leitende Interesse der Autoren ist das Phänomen der Gewalt, wobei sie von der oft diskutierten Frage ausgehen, wieso Wehrmachtsangehörige während des Krieges Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt haben und darüber hinaus aus auch an offenbar verbrecherischen Aktionen, selbst wenn sie diese Aktionen aus moralischen oder anderen Gründen innerlich abgelehnt haben. Dabei wird die Erklärung zurückgewiesen, dass durch das Kriegsgeschehen eine Verrohung der Soldaten eintritt, sondern Welzer vertritt die Auffassung, dass der militärische Bezugsrahmen bereits genügt, um ausreichende Bedingungen für Gewaltexzesse zu schaffen. Ausführlich wird dabei untersucht, wie und in welchem Umfang die Ideologie und der Rassebegriff des Nationalsozialismus Einfluss auf Selbstverständnis und Handeln der Soldaten hatten.
Die grundsätzlich vertretene These ist, dass Gewalt nicht als eine Ausnahmeerscheinung der menschlichen Existenz angesehen werden sollte:
Der Krieg und das Handeln der Arbeiter und Handwerker des Krieges sind banal, so banal, wie es das Verhalten von Menschen unter heteronomen Bedingen – also im Beteib, in einer Behörde, in der Schule oder in der Universität – immer ist. Gleichwohl entbindet diese Banalität die extremste Gewalt der Menschheitsgeschichte und hinterlässt mehr als 50 Millionen Tote und einen in vielerlei Hinsicht auf Jahrzehnte verwüsteten Kontinent. (S. 409)
Soldaten lösen ihre Aufgaben im Krieg mit Gewalt; das ist auch schon das Einzige, was ihr Tun systematisch von dem anderer Arbeiter, Angestellten und Beamten unterscheidet. Und sie Produzieren andere Ergebnisse als zivile Arbeitende: Tote und Zerstörung. (S. 439)
Wenn man aufhört, Gewalt als Abweichung zu definieren, lernt man mehr über unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert, als wenn man ihre Illusionen über sich selbst weiter teilt. Wenn man also Gewalt in ihren unterschiedlichen Gestalten in das Inventar sozialer Handlungsmöglichkeiten menschlicher Überlebensgemeinschaften zurückordnet, sieht man, dass diese immer auch Vernichtungsgemeinschaften sind. Das Vertrauen der Moderne in ihre Gewaltferne ist illusionär. Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil das ihre Aufgabe ist. (S. 445)
Ich kann mich dieser Sicht nur schwer entziehen, muss aber kritisch feststellen, dass das im Buch vorgeführte Material diese Grundauffassung zwar überzeugend illustriert, aber letztlich nicht beweist. Was das Autorenteam zwar immer mit reflektiert, letztlich aber nicht ernsthaft bei der Bewertung der Protokolle berücksichtigen kann, ist, dass diese Gespräche zwischen Soldaten in Gefangenschaft auch immer gruppendynamischen Zwängen unterliegen:
… gewiss ist er der Kommunikationssituation geschuldet, die eine Infragestellung des militärischen Wertekanons auch und vielleicht gerade in der Gefangenschaft nicht zuließ. (S. 357)
Oder:
… möglicherweise hat er aber auch schlicht gelogen, um seinen Gesprächspartner zu beeindrucken. (S. 362)
Dieser prinzipielle Zweifel ist natürlich nicht auszuräumen, doch wie schon Aristoteles betonte, darf man von jedem Urteil nur den Grad an Genauigkeit erwarten, den der vorliegende Gegenstand erlaubt.
Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt: S. Fischer, 2011. Pappband, 520 Seiten. 22,95 €.
Émile Zola: Nana
Nach dem doch etwas schwächelnden achten Band der Rougon-Macquart trumpft Zola im neunten Band auf: Mit »Nana« liefert er einen ersten Höhepunkt des Zyklus, der nicht nur als Skandalbuch bereits bei der Auslieferung der ersten Auflage komplett verkauft war, sondern sich bis heute als einer der bekanntesten Romane Zolas durchgesetzt hat. Die Erzählung schließt direkt an »Der Totschläger« an: Nana ist die Tochter des Ehepaars Coupeau, deren Niedergang dieser siebte Band des Zyklus thematisiert hatte. Die Handlung setzt im Jahr 1867 ein; Nana ist – so behauptet es wenigstens der Roman – achtzehn Jahre alt (gemäß der inneren Chronologie der Romane dürfte sie allerdings erst 15 sein, da sie 1852 geboren wurde) und feiert einen Skandalerfolg auf der Bühne des Théâtre des Variétés in einer etwas wirren Parodie auf Offenbachs »Orfeus in der Unterwelt«, allerdings nicht aufgrund ihrer schauspielerischen oder sängerischen Begabung, sondern weil sie als Venus beinahe nackt auf der Bühne erscheint.
Den aus diesem Skandal folgenden Ruhm nutzt sie allerdings vorerst nur für kurze Zeit, denn sie verliebt sich in einen Kollegen, für den sie zeitweilig alle anderen Männer ignoriert und mit dem sie eine gemeinsame Wohnung bezieht. Nachdem allerdings ihr Geld aufgebraucht ist, erweist sich dieser Liebhaber rasch als tyrannischer und meistens schlecht gelaunter Patron, der Nana zudem auch noch betrügt. Als von ihr finanziell nichts mehr weiter zu erwarten ist, setzt er sie von jetzt auf gleich vor die Tür.
Nana kehrt noch einmal kurz und erfolglos auf die Bühne zurück, wo sie sich vergeblich als ernsthafte Schauspielerin in der Rolle der Dame von Welt zu etablieren versucht, vom Publikum aber schlicht ausgelacht wird. Allerdings gelingt es ihr zugleich, sich einen neuen, finanzkräftigen Verehrer zu sichern: Graf Muffat, ein bislang tugendhafter und gut katholischer Spießer verfällt Nana komplett:
Jeder Kampf in ihm hatte aufgehört. Eine Woge von neuem Leben ertränkte seine Vorstellungen und seine Glaubenssätze von vierzig Jahren. Während er die Boulevards entlangging, dröhnte ihm beim Rollen der letzten Wagen Nanas Name in den Ohren, ließen die Gaslampen nackte Stellen, die geschmeidigen Arme und die weißen Schultern Nanas, vor seinen Augen tanzen; und er fühlte, daß er ihr verfallen war; er hätte alles verleugnet, alles verkauft, um sie noch an diesem Abend eine Stunde lang zu besitzen. Seine Jugend war es, die endlich erwachte, eine gierige jünglinghafte Pubertät, die plötzlich in seiner Kälte eines Katholiken und in seiner Würde eines reifen Mannes brannte.
Mit dem Vermögen des Grafen und einiger anderer Männer tritt Nana nun ihren gesellschaftlichen Siegeszug an: Dem Stand nach immer noch eine Prostituierte wird sie innerhalb weniger Monate durch eine maßlose Verschwendung zum Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft. Als schließlich auch noch ein auf ihren Namen getauftes Pferd unerwartet den Großen Preis von Paris gewinnt, steigt sie zu einer bis dahin unbekannten Prominenz auf. Sie betrügt nun den Grafen in aller Offenheit, nimmt ihn und seine Nebenbuhler systematisch aus, wobei ihr das Geld von einem Augenblick zum anderen zwischen den Fingern verrinnt – so ist sie in einer Sequenz nicht in der Lage, einem Bäcker seine Rechnung über 133 Francs zu bezahlen, obwohl sie gleichzeitig zehntausende für ein neues Bett ausgibt – und treibt ihr Spiel aus Gier und Langeweile am Ende soweit, dass sie nicht nur mehrere der ihr zu Füßen liegenden Herren komplett ruiniert hat, sondern von dem ihr hörigen Grafen auch noch beim Geschlechtsakt mit seinem Schwiegervater, einem musterhaften Adeligen alter Schule, überrascht wird.
Gleich jenen antiken Ungeheuern, deren gefürchteter Bereich mit Gebeinen bedeckt war, setzte sie die Füße auf Schädel; und Katastrophen umgaben sie: der wilde Flammentod Vandeuvres, die Schwermut Foucarmonts, der in den Meeren Chinas umherirrte, der völlige Bankrott Steiners, der gezwungen war, als ehrbarer Mensch zu leben, der befriedigte Schwachsinn La Faloises, der tragische Zusammenbruch der Muffats und der weiße Leichnam Georges, an dem Philippe, der gestern aus dem Gefängnis gekommen war, Wache hielt. Ihr Zerstörungs- und Todeswerk war vollbracht; die vom Unrat der Vorstädte aufgeflogene Fliege, die den Gärungsstoff der gesellschaftlichen Fäulnis mit sich führte, hatte alle diese Männer durch ihre bloße Berührung vergiftet. Das war gut, das war gerecht; sie hatte ihre Welt, die Bettler und die Verlassenen, gerächt. Und während ihr Geschlecht in einem Glorienschein emporstieg und gleich einer aufgehenden Sonne, die die Stätte eines Blutbades bescheint, über seinen hingestreckten Opfern strahlte, bewahrte sie, stets gutmütig, ihre Ahnungslosigkeit eines prächtigen Tieres, das nichts von dem weiß, was es angerichtet hat. Sie blieb dick, sie blieb fett, bei guter Gesundheit und strahlender Heiterkeit. Das alles zählte nicht mehr, ihr Haus erschien ihr blöde, zu klein und voller Möbel, die sie behinderten. Eine Erbärmlichkeit, gerade gut genug für den Anfang. So träumte sie denn auch von etwas Besserem; und sie brach in großer Toilette auf, um Satin ein letztes Mal zu küssen, sauber, kräftig, ganz frisch aussehend, als sei sie völlig unverbraucht.
Doch ist dies der letzte Höhepunkt vor dem Untergang. Nana verkauft all ihren Besitz und verschwindet aus Paris, nur um im Juli 1870, am Fuß des deutsch-französischen Krieges zurückzukehren, sich bei ihrem in Paris zurückgebliebenen Kind mit Blattern anzustecken und binnen Kurzem das Zeitliche zu segnen. Mit ihrem Tod geht auch das Zweite Kaiserreich seinem Ende entgegen: Während Nana in einem Hotelzimmer umgeben von ihren alten Kolleginnen mit dem Tod kämpft, erschallen unten auf der Straße die Rufe »Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«
Ohne jede Einschränkung ist dieser bitterböse Gesellschaftsroman ein Meisterstück zu nennen. Er verfügt trotz seiner beinahe 500 Seiten über ein furioses Tempo, ist von einer brillanten Konstruktion und einer bis dahin wohl unerreichten Wahrhaftigkeit in der Darstellung der gutbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Es ist daher kein Wunder, dass selbst Gustave Flaubert, der alles andere als leicht zu beeindrucken war, diesen Roman in den höchsten Tönen gelobt hat. Oder um es mit Lichtenberg zu sagen: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«
Übersichtsseite zur Rougon-Macquart
Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.
Robert Louis Stevenson: St. Ives
Einer der letzten Romane Stevensons, den er nicht hat zu Ende schreiben können. Wie unentdeckt Stevenson insgesamt im deutschen Sprachraum noch ist, zeigt sich auch daran, dass der Verlag weitgehend ungestraft behaupten darf, es handele sich hier um eine deutsche Erstausgabe des Textes. Das trifft nur in einem sehr speziellen Sinne zu: Für den Erstdruck 1896/1897 aus dem Nachlass heraus versuchte man den Roman für den normalen Leser zu retten, indem man die letzten sechs Kapitel von einem anderen Autor, A. T. Quiller-Couch, ergänzen ließ, um der Handlung einen Abschluss zu geben. Dabei handelt es sich immerhin um gute 20 % des Textes. In der Tat handelt es sich allein bei diesem nicht von Stevenson stammenden Nachklapp um eine deutsche Erstausgabe; den Text Stevensons hatte bereits Curt Thesing Anfang der 30er Jahre übersetzt. Ich habe auf die Lektüre des Nachklapps gänzlich verzichtet, da ohnehin klar ist, was geschehen wird, und die zusammengeklapperte Handlung durch eine Verlängerung sicherlich nicht besser wird.
Das Buch erzählt die Abenteuer eines französischen Adeligen, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege in Edinburgh auf der Festung inhaftiert ist. Er verliebt sich, wie es sein muss, in eine mitleidige junge Schottin, kann fliehen, sucht seinen in England im Exil lebenden Onkel auf, der ihm sein Vermögen vermachen will, gerät darüber in Streit mit seinem als Doppelspion arbeitenden Cousin, geht unter Gefahr für Leib und Leben zurück nach Edinburgh, wo er, kurz bevor der Text abbricht, knapp einer Verhaftung entgeht. Dass es am Ende alles gut ausgehen, der etwas eitle und leichtlebige Protagonist sich zum Besseren bekehren und sein Mädchen bekommen wird, ist daher so klar, wie die sprichwörtliche Kloßbrühe.
Stevenson, der damals schon schwer krank war, hat diesen Roman diktiert und wohl nicht mehr abschließend redigieren können, was besonders im ersten Teil einige Verwerfungen erzeugt hat. Ansonsten hangelt sich die Handlung sehr konventionell von Abenteuer zu Abenteuer, und es ist mehr als verständlich, dass sich bis dato niemand entschließen konnte, an diesen Text die Mühe einer erneuten Übersetzung zu wenden. Dass es nun gerade Andreas Nohl ist, der uns zuletzt mit einem glatt gehobelten »Huckleberry Finn« beglückt hat und nun versucht, dieses etwa dünne Fähnchen in den Rang eines bedeutenden Spätwerks zu heben, passt zumindest in mein Bild.
Gesamturteil: Eher enttäuschend. Hervorgehoben werden muss allerdings einmal mehr die exzellente Buchausstattung des Hanser Verlages: ein flexibler Leinenband, Dünndruckpapier mit Fadenheftung, ein passendes Lesebändchen! So sollten alle Bücher aussehen! Wenn nur der Inhalt etwas besser wäre …
Robert Louis Stevenson: St. Ives. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2011. Leinen, Lesebändchen, 520 Seiten Dünndruckpapier. 27,90 €.
