Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

978-3-446-23634-9Ein Buch vom Sterben des Vaters. Arno Geiger erzählt von der Entwicklung der Demenzerkrankung seines Vaters und von seinem langsam Schwinden aus der Welt. Es ist zugleich eine berührende Liebeserklärung an den Vater, den Arno Geiger schon fast für sich verloren geglaubt hatte, zu dem aber aber durch die Krankheit einen Weg zurück findet. Was die Krankheit des Vaters den Sohn lehrt, ist Geduld zu haben und die Bereitschaft zu entwickeln, in der Welt des Vaters zu leben, da der nicht mehr in die des Sohnes wechseln kann. Der Schriftsteller lernt die aus der Demenz heraus entwickelte neue Sprache des Vaters schätzen, findet in ihr schließlich auch den ursprünglichen Charakter des Vaters wieder, den er schon verloren geglaubt hatte. Ja, es ist sogar so, dass die Familie, die sich schon weit auseinandergelebt hatte, aufgrund der Krankheit des Vaters wieder näher zusammenrückt.

Nebenbei fallen natürlich auch einige Betrachtungen über Krankheit und Tod im allgemeinen ab:

Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.

Oder:

In der Zeitung heißt es, dass Kakerlaken auf dem Bikini-Atoll Atombombentests überlebt haben und dass sie am Ende auch die Menschheit überleben werden. Schon wieder etwas, das mich überleben wird. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mich der Wein und die Mädchen überleben werden. Aber dass es Kakerlaken geben wird, die sich ihres Lebens erfreuen, während ich habe abtreten müssen, das schmerzt ein wenig.

Ein berührendes Buch, das die Vorwürfe, die ihm in einigen Feuilletons gemacht wurden, durchaus nicht verdient hat.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser, 2011. Pappband, 189 Seiten. 17,90 €.

Aus meinem Poesiealbum (X) – Frühling

Beckett’s life and work taught others the lesson he said he learned from Joyce: the meaning of artistic integrity. His vision never yielded. Even on a sunny day in London, as he strolled through a park in evident pleasure, when a friend remarked that it was a day that made one glad to be alive, Beckett turned and said, “I wouldn’t go that far.”

William A. Henry III

100 100-Seiter

Der Umblätterer hat ein sehr schönes Projekt gestartet: Es soll ein Kanon von 100 kurzen Büchern vorgestellt werden und das natürlich möglichst kurz und knapp. Dass dabei die Rezensionen auf Bonaventura als ausdrückliches Vorbild genannt werden, freut den Nachtwächter natürlich. Ich werde mich wahrscheinlich auch aktiv am Projekt beteiligen.

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter

978-3-15-010807-9Eine gut lesbare Überblicksdarstellung zur Geschichte des Rittertums von seinen Anfängen bis zum Aufgehen des Standes in der Reichsritterschaft. Der Autor wertet sowohl literarische als auch historische Quellen im engeren Sinne aus, um jeweils Ideal und Wirklichkeit der einzelnen Entwicklungsphasen einander gegenüber zu stellen. Ergänzt wird der Text durch zahlreiche, gut ausgewählte Abbildungen. Ich hätte mir die Darstellung des literarischen Nachlebens des Motivs umfangreicher gewünscht, aber man kann nicht alles haben. Alles in allem zur ersten Orientierung ausgezeichnet geeignet!

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter. Stuttgart: Reclam, 2011. Pappband, 298 Seiten. 22,95 €.

Statt einer Besprechung

Anlässlich meiner ich weiß nicht wievielten Lektüre von »Don Karlos« statt einer Besprechung dies:

»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles …«, sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons, die sie bei Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennig erstanden hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich ›Don Carlos‹ von Schiller … Ich leihe es dir, wenn du willst …«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »daß laß nur, Tonio, das paßt nicht für mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir. Es sind Augenblicks- photographien, und man sieht die Gäule im Trab und im Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht …«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber ›Don Carlos‹ betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt, daß es gleichsam knallt …«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen … »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist … aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonio’s Gesicht, und irgend etwas in diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonio’s und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und Flandern …«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.

Thomas Mann
Tonio Kröger

Zum 100. Geburtstag von Tennessee Williams

Morgens, in der Straßenbahn, sieht man deutlich die Verheerungen, die die Schriftsteller unter uns anrichten; wie sie uns ihre Gedankengänge, die verruchtesten Gebärden, aufzwingen. Gestern hob der junge Mensch mir gegenüber – er ist Student an der Technischen Hochschule, und las einen mir übrigens unbekannten ‹Tennessee Williams› (so hießen in meiner Jugend allenfalls die exotischen Verbrechertypen, ‹Alaska=Jim› und ‹Palisaden=Emil›!) – also der hob den Kopf, und besah mich mit so unverhüllter Mordgier, daß ich mir davor bebend den Hut tiefer in die Stirn zog; auch eine Station früher ausstieg (beinah wär ich zu spät ins Geschäft gekommen. Wahrscheinlich hatte er mich langsam von unten herauf in Scheiben geschnitten; oder in einen Sack gebunden, und mich von tobsüchtigen Irren mit Bleischuhen zertanzen lassen!).

Arno Schmidt
Was soll ich tun?

Aus meinem Poesiealbum (IX)

»Man gewöhnt sich quasi daran«, wiederholte er. »Fünfzig Prozent der Tröstungen der Philosophie in fünf Wörtern. Und die restlichen fünfzig Prozent lassen sich in acht ausdrücken: Bruder, wenn du tot bist, bist du tot. Oder wer es vorzieht, kann neun daraus machen: Bruder, wenn du tot bist, bist du nicht tot!«

Aldous Huxley
Das Genie und die Göttin

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe

978-3-423-19511-9Nicht die aktuelle Lektüre, sondern eine neue Ausgabe des Buches ist der Anlass für diesen Artikel, und auch nicht der Inhalt, sondern mehr die Aufmachung. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat eine sehr schön gestaltete Jubiläumsreihe herausgebracht: Flexible, bedruckte Leineneinbände schmücken Klassiker und Erfolgsbücher des Verlags. Darunter in der Sachbuch-Reihe eben auch Weischedels inzwischen betagte, aber dennoch ungebrochen beliebte Einführung in die Philosophie.

Allerdings scheinen mit dem Buchhersteller in diesem Fall die visuellen Pferde durchgegangen zu sein, denn wie oben zu sehen ist, ist ihm die Hintertreppe doch etwas pompös geraten. Wenn das, was auf dem Umschlag zu sehen ist, tatsächlich die Hintertreppe sein sollte, was muss das für ein gargantueskes Gebäude sein und wie muss man sich erst das Haupttreppenhaus denken?

Andererseits könnte man hier einen Fall von subtilem Humor vermuten. Vielleicht hat er sich gedacht, dass das Gebäude der Philosophie, über mehrere Jahrtausende gewachsen, tatsächlich mittlerweile ein so pompöser und stilistisch heillos ruinierter Bau sein muss, dass es doch sein könnte, dass dieser prachtvolle und ehemals repräsentative Zugang schon seit langem als Hintertreppe dient. Dann könnte hier sogar eine kleine Erkenntnis versteckt sein, dass nämlich die allermeisten Leser philosophischer Einführungen niemals über diese hinauskommen. Sie lesen dann von Zeit zu Zeit mit immer größerer Ratlosigkeit eine Einführung um die andere, aber jedes Mal wenn sie dann endlich zur eigentlich Türe hinein wollen, finden sie sie so verschlossen wie beim letzten Versuch. So optimistisch einen solche Einführungen auch immer stimmen mögen, kaum eine von ihnen führt tatsächlich ins Gebäude hinein. Das gilt leider auch für Weischedels nette und durchaus anspruchsvolle »Hintertreppe«. Nachdem man auf ihr hinauf gestiegen ist, findet man, dass das Gebäude der Philosophie zwar eine Hintertreppe haben mag, aber keinen Dienstboteneingang.

In diesem Sinne sei das Buch wärmstens empfohlen!

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. dtv 19511. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011. Bedrucktes Leinen, 336 Seiten. 10,– €.

Matthias Matussek: Wir Deutschen

978-3-596-17151-4Ein Buch von einer so guten Laune, dass man sich gleich übergeben möchte. Matussek ist ein unerträglicher Aufschneider, der lauter tolle Leute kennt, die auch wie er der Meinung sind, dass es aufwärts und vorwärts und überhaupt am besten und schönsten deutschwärts geht. Endlich ist der Deutsche wieder stolz, und das mit gutem Recht. Denn Beethoven und Goethe, Heine und Thomas Mann, damit kann man sich doch sehen lassen, oder? Dass der eine nach Wien gegangen ist, der andere nur in Rom erfahren konnte, was Glück ist, dass der dritte nach Paris fliehen musste, weil man ihn in Deutschland als Autor in den Kerker geworfen hätte und der vierte nach der Flucht vor den Nationalsozialisten dann doch lieber in der Schweiz geblieben ist, muss man ja nicht allzu sehr betonen.

Dass Matussek sich dem Leser als Nachfolger, wenn nicht gar als letzter legitimer Erbe Heines präsentiert und das in einem Kapitel, das nur so von Fehlern wimmelt, von halb Gewusstem und schlecht Erinnertem, das ist die eine Sache. Dass sich die Herrschaften des deutschen Feuilletons nicht entblöden, ihm das nachzuquatschen, ist die andere. Es ist sehr, sehr schade, dass uns heutzutage ein Karl Kraus fehlt, der eine aufgepumpte Schweinsblase wie Herrn Matussek einmal öffentlich zum Platzen bringen könnte.

Für die Engländer ist Nation etwas so Selbstverständliches, dass die »Encyclopaedia Britannica« dem Begriff »Nation« keine einzige Zeile widmet […].

Erstens ist die EB ein US-amerikanisches Lexikon, zweitens weiß jeder, der mit der EB umgehen kann, dass man in den Index schauen muss, um feststellen zu können, ob über irgend etwas tatsächlich keine Zeile in der EB steht. Und natürlich steht mehr als eine Zeile über den Begriff »Nation« in der EB, nur eben nicht an der Stelle, wo Herr Matussek nachgeschaut hat; falls er nachgeschaut hat. Und so ist das ganze Buch; nun, wenigstens die erste Hälfte, denn darüber hinaus habe ich mir diesen Schwachsinn nicht angetan. Das Übrige ist aber sicher ganz toll!

Matthias Matussek: Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können. Fischer Taschenbuch 17151. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 22009. 352 unerträgliche Seiten. 9,95 €.