Frank Jöricke: Mein liebestoller Onkel, …

joericke_onkel … mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage. Der Titel ist auch schon das Originellste am Buch. Das Buch ist eine Ansammlung von kurzen, anekdotischen Erzählungen um die Figuren einer Familie. Jede Erzählung ist mit einer Jahreszahl von 1967 bis 2003 überschrieben und viele mit einem spezifischen Ereignis des Jahres eingeleitet. Allerdings ist der Zusammenhang mit dem Rest des Erzählten oft eher zufällig, so dass sich die vorgebliche Struktur als ebenso oberflächlich erweist wie der Rest des Buches.

Der Humor des Buches lebt ausschließlich von der Überzeichnung alltäglicher Ereignisse und normaler Verhaltensweisen. Deshalb geraten nahezu alle Figuren zu Karikaturen und der Ich-Erzähler zu einem überheblichen Zyniker. Mancher mag das lustig finden; mir sprach mehr der Satz

Ich mag dieses altkluge Gewäsch nicht hören. [S. 156]

aus der Seele. Aber das ist eine Geschmacksfrage. Dass der Autor durchaus Potenzial zu Besserem hat, zeigt sich vereinzelt in der Zeichnung der Mutter, die ihm hier und da beinahe zu einer wirklichen Figur gerät (etwa auf S. 115 f.). Dass er dies bemerkt und den stilistischen Bruch gerade noch verhindert, in dem er in sein übliches Geschwätz zurückwechselt, beweist, dass er besser zu schreiben versteht, als er es in diesem Buch zeigt. Nur macht es eben dieses Buch nicht besser.

Wer schlichte Unterhaltung sucht, bei der er seinen Kopf nicht groß gebrauchen und seine Aufmerksamkeitsspanne acht Seiten nicht übersteigen muss, wird sicherlich gut bedient. Wer allerdings nicht liest, um seine Zeit zu vertun, sollte auf ein späteres Buch des Autors hoffen. Positiv erwähnt werden sollte vielleicht noch der Schutz- umschlag von Cornelia Niere, der ein echter Blickfang ist.

Frank Jöricke: Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage. Münster: Solibro-Verlag, 2007. Pappband, Lesebändchen, 248 Seiten. 19,90 €.

Martin Walser: Ein liebender Mann

Das Buch ist vortrefflich inszeniert worden: Bereits Monate vor der Veröffentlichung trat Walser in Interviews mit großer Attitüde auf und verkündet, es wieder einmal allen zeigen zu wollen: Jene Ulrike von Levetzow, die die Germanisten zu zeichnen pflegen, sei keinen Schuss Pulvers wert, jedenfalls nicht der Liebe eines Goethe. Er im Gegensatz dazu habe Goethe eine Ulrike gemacht, die sich vor dem Angesicht und der Liebe eines solchen Mannes sehen lassen könne. Als habe sie darauf gewartet; als habe sie das nötig gehabt.

Dann die offizielle Vorstellung des Buches in Weimar, was allein einer unbesehenen Erhebung in den literarischen Adelsstand gleichkommt, und zudem noch der Coup, dass der Bundespräsident der Veranstaltung beiwohnt. Und prompt überschlägt sich das Feuilleton mit Vorschusslorbeeren – Tasso gekrönt und hofiert, bevor auch nur einer eine Zeile des großen Werks gelesen hat; von Tassos Bescheidenheit aber bei Walser keine Spur.

Geschrieben ist das Buch in jener hölzernen Prosa, die auch schon frühere Bücher Walsers ausgezeichnet hat. Auch dieses Buch ist eher monologisch, repetitiv und eintönig geraten. Es scheint Walser nicht mehr groß darauf anzukommen, worüber er schreibt, er ergießt seine Sprache über alles und ebnet mit ihr alle Differenzen ein: In allen Teilen des Buches herrscht derselbe überspannte und überhöhte Ton, selbst dort, wo Entspannung oder Intimität behauptet wird. Mancher mag das für Stil halten, es ist aber nicht mehr als eine steife Manier, die jegliche Beweglichkeit, jede Angemessenheit an den verhandelten Gegenstand oder die konkrete Situation vermissen lässt und stets nur sich selbst setzt und niemanden und nichts zu Wort kommen lässt. Wie weit Walsers Sprache – trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen – von der Goethes entfernt ist, kann man exemplarisch an dem durchgehend verwendeten, hässlichen Wort „kriegen“ (im Sinne von „bekommen“) ablesen, das in diesem Buch wohl ungefähr sooft verwendet wird wie im Gesamtwerk Goethes – um von der Variante „mitkriegen“ ganz zu schweigen.

Inhaltlich ist das Buch so spekulativ, wie es angesichts der Quellenlage sein muss. Man kann Walsers Einfälle schätzen, seine Erfindungen glücklich finden; ebenso gut kann man die konkrete Fabel als albern, lärmend und langatmig bezeichnen. Ob es nötig ist, die einzige ausführliche authentische Quelle – die Aufzeichnungen der alternden Ulrike von Levetzow – Lügen zu strafen, mag ebenfalls eine Geschmacksfrage sein. Bezeichnender ist, dass Walser zum zentralen Goetheschen Text, der Marienbader Elegie, die vollständig abgedruckt wird, nichts als Allgemeinplätze und Phrasen mitzuteilen hat. Die besten Urteile sind noch die, die er aus den zeitgenössischen Quellen abschreibt – der Rest ist Schweigen. Dass die Marienbader Elegie entstanden ist, wird wahrheitsgemäß berichtet, wie sie aber möglich gewesen ist, bleibt demjenigen, der nur Walsers Goethe kennt, gänzlich unverständlich. Trotz des gewaltigen Aufwands an vorgeblicher Einsicht in die Goetheschen Gedanken bleibt Goethe dem Leser wesentlich fremd. Es ist schlicht falsch, dass Goethe in den Wochen und Monaten nach der Trennung in Karlsbad nichts als Getriebensein, Verzweiflung, Neigung zum Suizid erlebt und empfunden habe und ihm jene bei ihm stets vorhandene zweite, distanzierte und objektive Ebene der Reflexion unzugänglich geblieben wäre. Dass sie Walser fehlt, dokumentiert der Roman; dass und wie sehr sie Goethe zugänglich war, dokumentieren die vorhandenen Quellen. Dies als „Entsagungstheater“ oder „kulturellen Firnis“ denunzieren zu müssen, ist ein mehr als deutliches Indiz dafür, wie fremd Walsers Lamentieren dem Goetheschen Wesen geblieben ist.

Dass der Roman auch mit den historischen Tatsachen flüchtig und oberflächlich umgeht, ist bereits an einem Beispiel aufgezeigt worden. Es ist nicht das einzige. Offensichtlich war es sowohl dem Autor als auch dem Lektorat zu lästig, das Buch einmal gründlich anzuschauen. Mag auch sein, dass Walser wenigstens mit einem Satz Recht behalten hat:

Ich hatte nur den Eindruck, Ihnen sei in Ihrem Leben zu wenig widersprochen worden.

Das würde einiges erklären.

Bestürzend aber ist einmal mehr, als wie weit entfernt von Goethe sich ein Großteil des deutschen Kulturbetriebs gerade in den Momenten beweist, wo er ihn angeblich feiert. Goethe verkommt den Deutschen bei jedem Durchgang mehr zur Phrase.

Martin Walser: Ein liebender Mann. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband, Lesebändchen, 287 Seiten. 19,90 €.

Ian McEwan: Zwischen den Laken

mcewan_laken Sammlung von sieben routiniert und gekonnt erzählten Geschichten McEwans, von denen drei (Zwei Fragmente, Hin und Her und Psychopolis) bereits zuvor bei Diogenes veröffentlicht worden sind. Der Band hat kein wirklich einheitliches Thema, wenn sich auch die meisten mehr oder weniger zentral um das Thema Sexualität drehen. Sie umfassen stilistisch eine deutliche Bandbreite, so dass kein geschlossenes Bild der Sammlung entsteht. Die Übersetzungen scheinen – soweit sich das vom deutschen Text ablesen lässt – anspruchsvoll und sorgfältig gearbeitet zu sein.

Pars pro toto hier ein paar inhaltliche Hinweise: Pornographie erzählt von einem jungen Mann, der im Sexshop seines Bruders arbeitet. Nebenher hat er Verhältnisse zu mindestens zwei Frauen, die aber nichts voneinander wissen. Nun zwingt ihn eine Geschlechtskrankheit, sich für einige Zeit zurückzuziehen, und als er wieder Kontakt zu seinen Damen aufnimmt, erwartet ihn eine Überraschung …

Der kleine Tod erzählt von einem sehr erfolgreichen Londoner Geschäftsmann, der sich eines Tages in eine Schaufensterpuppe verliebt und mit ihr einige glückliche Wochen verbringt. Dann allerdings schöpft er Verdacht, dass sie ihn mit seinem Fahrer betrügen könnte und verfällt einer zunehmend tiefen Verzweiflung. So absurd die Grundkonstellation auf der einen Seite zu sein scheint, so realistisch gerät die aus ihr entwickelte Beziehungsgeschichte. Diese Erzählung stellt sicherlich das humoristische Prunkstück der Sammlung dar.

Die Titelerzählung erzählt von einem geschiedenen Schriftsteller, den die beginnende Pubertät seiner bei seiner Frau lebenden Tochter in einige Verwirrung stürzt. Der Titel In Betwen the Sheets stammt übrigens aus dem Rolling-Stones-Song Live With Me, der in der Erzählung auch zitiert wird.

Ian McEwan: Zwischen den Laken. Erzählungen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Bernhard Robben. detebe 21084. Zürich: Diogenes Verlag , 2008. 224 Seiten. 8,90 €.

Hartmut Lange: Der Therapeut

lange_therapeut Im Rahmen der Vorbereitung für einen Vortrag über Geschichte und Begriff der Novelle habe ich zum ersten Mal auch Hartmut Lange gelesen, der sich von den lebenden deutschsprachigen Autor wahrscheinlich am intensivsten mit der Form auseinandersetzt. Der Therapeut enthält drei Texte, die alle in Berlin spielen und in deren Zentrum jeweils ein alleinstehender, älterer Mann steht. In allen drei Texten bleibt ein wesentliches Element vom direkten Erzählen ausgespart und lässt sich nur vage aus dem Erzählten erschließen.

So erzählt Der Hundekehlesee vom Berliner Kunstprofessor Wernigerode und seiner arabischen Lebensgefährtin Alima, die allerdings zu Beginn der Erzählung verschwindet oder bereits verschwunden ist. Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto unklarer wird die Geschichte um Alima, so dass am Ende bezweifelt werden kann, ob es eine Beziehung zwischen Wernigerode und Alima überhaupt je gegeben oder Wernigerode sie sich nur eingebildet hat, ob Alima Selbstmord am Hundekehlesee begangen oder zu ihrer Familie nach Tunesien zurückgekehrt ist, oder ob Wernigerode sie gar umgebracht und die Tat mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hat.

Der von Der Hundekehlesee angeschlagene Ton setzt sich auch in den Erzählungen Der Therapeut und Die Kränkung fort, wenn diese beiden Erzählungen auch thematisch deutlich anderes gelagert sind. Insgesamt steht dieser Novellen-Band Langes klar in der Erzähltradition, deren hervorragende Protagonisten Heinrich von Kleist, dessen Erzählungen sich dadurch auszeichnen, dass sie umso unklarer werden, je genauer man sie anschaut, oder Franz Kafka sind. Alle drei Novellen Langes lohnen die Lektüre, nur darf man als Leser eben keine glatten und abgeschlossenen Texte erwarten.

Hartmut Lange: Der Therapeut. Drei Novellen. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 148 Seiten. 18,90 €.

Jesu sahniger Same

sananda_galilaa 1. Es ist nicht einfach, dieses Buch richtig einzuordnen: Die Gattungsbezeichnung „Biographie“ im Untertitel „Die Biographie Jesu“ könnte einen verleiten, es für einen nicht fiktionalen Text zu halten. Auch die Webseite des Verlages legt unter der Überschrift „Wie dieses Buch entstand“ nahe, dass es der Autor für eine Schilderung von Tatsachen hält. In diesem Fall wäre das Buch nicht zu rezensieren, da es dann kein Artefakt wäre, sondern Symptom für eine Psychose des Autors. Statt einer Rezension sollte daher die Empfehlung gegeben werden, dass sich der Autor rasch in fachkundige Behandlung begibt. Sowas kann böse enden, wenn man das schleifen lässt.

2. Gehen wir aber davon aus, dass der Autor nur ein wenig Schwierigkeiten mit dem Konzept der Fiktionalität hat, so behauptet die Einführung des Buches, dass einem Erzähler, der zufällig denselben Namen trägt wie sein Autor, im Rahmen eines therapeutischen Verfahrens Erzählungen zahlreicher wiedergeborener Seelen zugänglich wurden, die alle unmittelbar mit Jesus von Nazareth zu tun hatten. Das Buch erzählt anschließend die Lebensgeschichte Jesu aus den wechselnden Perspektiven dieser Seelen. Geschrieben ist das Buch in etwas, das der Autor wohl für einen Stil hält. Und das sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass Nebensätze mit einem Punkt abgetrennt werden. Was im Deutschen eher unüblich ist.

Die Erzählung steht inhaltlich in eklatantem Widerspruch zu den ältesten vorliegenden Quellen zum Leben Jesu und deutet den spirituellen Gehalt dieser Quellen grundlegend um. Jesus ist ein Mensch, von Menschen gezeugt und von Menschen – scheinbar – getötet. Er überlebt die Kreuzigung, weil ihm der Apostel Markus im legendären Essig-Schwamm ein Gift verabreicht hat, das ein vorzeitiges Ableben simulierte. Nach der Auferstehung reist Jesus nach Zypern und von dort aus nach Samarkand, wo er noch rasch ein paar Buddhisten den Buddhismus erklärt, bevor seine Seele in die Arme des Herrn zurückkehrt.

Insoweit ist das Buch unerheblich, da es den spirituellen Gehalt der christlichen Legende weitgehend ignoriert und verflacht. Der Autor wäre wahrscheinlich besser beraten gewesen, seine Geschichte frei zu erfinden, wäre dann allerdings Gefahr gelaufen, dass der Leser sie rasch als so unerheblich durchschaut hätte, wie sie ist. Da ist es dann schon cleverer, sie der Legende von Jesus aufzupfropfen, was nicht zuletzt durch die Tatsache bewiesen wird, dass ich das Buch hier bespreche.

Herzlich gelacht habe ich nur an zwei Stellen: Eine wurde im Titel oben schon paraphrasiert. Während nämlich Maria Magdalena als erfahrene Gunstgewerblerin Jesus in verschiedene Sexualpraktiken einweist, findet sich bei der Lektion zum Oralsex auch Gelegenheit, die Qualität des Samens des Heilands positiv zu vermerken:

Schließlich konnte er es nicht mehr halten. Und kam in meinen Mund. Sein Samen war sahnig und fein.

Na, wenn das kein Abendmahl ist! Die andere überaus spaßhafte Bemerkung entschlüpft dem Autor, als Jesus nach der Auferstehung gern etwas zu trinken hätte:

»Liebste.«, sagte er heiser. »Ich habe Durst.«
In der Nacht hatten uns Josephs Leute versorgt. Ich sah am Eingang des Grabes Krüge stehen. Und Tonbecher. »Ich habe Wein.«
»Dann gib mir bitte Wein. Unvermischt. Ich hatte einen schlechten Tag. Und einen noch schlechteren Morgen.«

„Liebling, bin wieder da! Hast Du einen Wein für mich? Ich hatte heute einen echt schweren Tag am Kreuz!“ – So lieben wir unsere Götter!

3. Der Grund, warum ich das Buch überhaupt rezensieren wollte, war, dass es als Sachbuch beworben wurde, in dem es um die Datierung der Geburt von Jesus von Nazareth gehe. Dazu ist das Buch allerdings unergiebig. Nur eine Fußnote gibt trocken und ohne weitere Erklärungen folgende Daten:

Die Geburt fand am 9. Feb. 15 n. d. Zw. um 15:26 Uhr Ortszeit statt.
Sechs Tage später, also am 14. Feb., stand Mars genau zwischen Jupiter und Saturn.

Sehen wir davon ab, dass der 14. nicht sechs, sondern fünf Tage nach dem 9. liegt: Angehängt ist diese Fußnote an einen Satz, der dem gerade geborenen Jesuskind zugeschrieben wird: „Durch die Tür sah ich Mars, wie er rückwärts zwischen Saturn und Jupiter lief.“ Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass sich Mars rückläufig am Himmel bewegt haben soll. Die Rückläufigkeit von Planeten ist ein optisches Phänomen, das den Astronomen der Antike große Erklärungsschwierigkeiten bereitet hat. Es entsteht dadurch, dass die Erde an einem der oberen Planeten vorbeiläuft und dieser Planet dabei optisch vor der Fixsternsphäre zurückbleibt. Diese Rückläufigkeit ist bei Mars besonders auffällig, da Mars der Erde bei diesem Überholvorgang astronomisch relativ nahe ist und so ein erheblicher optischer Effekt entsteht. Nun kann man leider in einem Blick nicht erfassen, ob ein Planet gerade rückläufig ist, sondern kann dies nur aus Beobachtungen an mehreren Tagen oder wenigstens zu verschiedenen Stunden erkennen.

Nun wäre Jesus nicht Jesus, wenn er nicht – und das kurz nach seiner Geburt, wenn bei normalen Babys das Sehvermögen noch gar nicht so ausgebildet ist, dass sie ein weit entferntes Objekt wie den Mars sehen könnten – sofort erkennte, dass Mars rückläufig ist. Nun wäre Jesus aber leider auch dann nicht Jesus, wenn er sich dabei irrte, und das tut er, zumindest, wenn er – wie der Autor angibt – am 9. Februar 15 geboren sein soll. Denn im Jahr 15 wurde Mars um den 22. Juli herum rückläufig, und sowas geschieht höchstens einmal in einem Jahr. So ein Pech aber auch!

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

Das Jahr 15 ist ansonsten kein origineller Einfall des Autors, sondern eines der bekannten Spekulationsdaten eben aufgrund der erwähnten nahen Konstellation von Mars, Jupiter und Saturn, die astronomisch selten ist und für astrologisch bedeutsam gehalten wurde und wird. Da die Amtszeit des Pontius Pilatus aus anderer Quelle gesichert ist, muss Sananda seinen Jesus spätestens am Passah-Fest im Jahre 36 kreuzigen lassen, so dass er bei ihm zu diesem Zeitpunkt erst 21 ist. Auch dies ist ein eher ungünstiger Widerspruch zu den biblischen Quellen, die das Wirken Jesu in sein 30. bis 33. Lebensjahr verlegen. Zwischen einem 20- und einem 30-Jährigen werden auch die Apostel recht sicher haben unterscheiden können. Aus diesem Grund steht das Jahr 15 in der biographischen Forschung zu Jesus von Nazareth auch kaum ernsthaft zur Debatte.

Aber Schwamm drüber! Reden wir nicht weiter davon!

Uwe Sananda: Galiläa Zeitenwende. Die Biographie Jesu. Weingarten: Next-Books.de, 2008. Broschur, 184 Seiten. 12,50 €.

(geschrieben für Literaturwelt)

Stendhal: Rot und Schwarz

stendhal-rot Die Neuübersetzung von Elisabeth Edl präsentiert den Roman in weiten Teilen in einer nüchternen, manchmal sogar lakonischen Sprache und hebt sich damit von allen früheren Übersetzungen ab. Vertraut man der Übersetzungskritik im Anhang (S. 724–726), so liegt mit dieser Neuübersetzung erstmals eine dem Original adäquate deutsche Ausgabe vor. Ob dies – unabhängig von der Frage der früheren Übersetzungen – tatsächlich der Fall ist, müssen andere beurteilen, da mir die dafür notwendigen Sprachkenntnisse fehlen. Allerdings macht die Übersetzung insgesamt einen sorgfältigen und ausgewogenen Eindruck. Sie liegt inzwischen auch schon im Taschenbuch bei dtv vor.

Der schon erwähnte Anhang enthält sowohl einen klugen und zur historischen Einordnung des Buches hilfreichen Essay als auch umfangreiche Anmerkungen zu Einzelstellen, die nicht nur sachliche Erläuterungen liefern, sondern in Auszügen auch Stendhals spätere Selbstkritik des Romans dokumentieren. Ich hätte es für die Erst-Lektüre wohl hilfreicher gefunden, wenn man diese beiden Ebenen getrennt hätte; aber das ist eine Kleinigkeit.

Insgesamt kann die Ausgabe zur Erst- oder erneuten Lektüre des Romans unbedingt empfohlen werden. Überhaupt ist er nicht nur an sich ein Lesevergnügen, sondern stellt auch eine wichtige Stufe in der Entwicklung des modernen Romans dar. Julien Sorel ist fraglos ein Vorläufer Frédéric Moreaus, wenn Flaubert auch auf äußerere Dramatik weitgehend verzichtet. Dabei ist Stendhal sowohl gesellschaftlich als auch politisch deutlich reicher als Flaubert, ohne dabei die Psychologie und innere Dynamik seiner Figuren zu vernachlässigen. Um Julien Sorel entsteht ein erstaunlich reiches und detailliertes Bild der französischen Gesellschaft der Restauration am Fuße der Juli-Revolution 1830.

Für alle, die den Roman noch nicht kennen, eine echte Empfehlung, wenn man an der Literatur und/oder an der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert ist.

Stendhal: Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2004. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 872 Seiten. 29,90 € (nur für Mitglieder der BG).

Johannes Willms: Balzac

willms_balzacJohannes Willms legt eine sehr lesbare, detaillierte und kenntnisreiche Biographie dieses in Deutschland immer noch als zweitrangig betrachteten Autors vor. Im Gegensatz zu vielen Schriftstellerbiographien akademischen Ursprungs handelt es sich tatsächlich um eine Lebensbeschreibung, nicht um eine Einführung ins Werk. Auch im Gegensatz zu den akademischen Gepflogenheiten verzichtet Willms auf Fußoder Endnoten oder ein ausführliches Verzeichnis der benutzten Sekundärliteratur, was ihm die meisten Leser wahrscheinlich danken werden. Was allerdings schmerzlich fehlt sind Abbildungen; besonders Reproduktionen der an einigen Stellen erwähnten zahlreichen Karikaturen Balzacs habe ich vermisst.

Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Klatsch und Tratsch auf hohem Niveau. Balzac hat Zeit seines Lebens mit seinen ständig wachsenden Schulden und seinen Gläubigern gerungen, was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, seinen luxuriösen Lebensstil fortzuführen, ja den Luxus entgegen besserer finanzieller Einsicht immer noch weiter zu steigern. Rettung erhoffte sich Balzac stets durch irgendwelche wundersamen Geschäftsgewinne – alle Versuche in dieser Richtung endeten bereits nach kurzer Zeit im nächsten finanziellen Desaster – oder durch eine vorteilhafte reiche Heirat, die ihn auf einen Schlag aller Sorgen entledigen sollte. Mehr der Not gehorchend als der Neigung sah er sich gezwungen, sich auf sein einziges wirkliches Talent, das Schreiben, zu stützen, um wenigstens den dringendsten Luxus finanzieren zu können. So erwähnt Willms häufiger strohgelbe Glacéhandschuhe, von denen Balzac scheint’s immer ein oder zwei Dutzend Paar zur Verfügung haben musste, um sich wohl zu fühlen.

Willms Biographie zeichnet sich durch ihren Stil und ihre Aufrichtigkeit aus. Wie schon für seinen »Napoleon« wertet Willms umfangreich Briefzeugnisse aus, um ein möglichst genaues und persönliches Bild zu erreichen. Dabei weicht er den unangenehmen Seitens Balzacs nicht aus: nicht dem gespannten und oft wahnverpflichteten Verhältnis zur Mutter, nicht seiner rücksichtslosen Ausnutzung von Menschen, die ihn offensichtlich schätzen oder gar lieben, nicht seiner Verlogenheit sich und anderen gegenüber, nicht seiner Neigung, die Verantwortung für seine Misere auf andere zu übertragen, nicht der gänzlich blauäugigen Naivität in Geld- und Geschäftsangelegenheiten. All dies wird von Willms mit der nötigen Neutralität dargestellt, ohne ein moralisches Urteil zu fällen, ohne aber auch zu behaupten, dies alles sei notwendig so geschehen, wie es geschehen ist. Willms bewahrt eine objektive, aber zugleich empathische Distanz, die man sich in der biographischen Literatur häufiger wünschen würde. Hinzukommt, dass Willms über eine eingängige und sehr gut lesbare Sprache verfügt, die das Buch zu einem wirklichen Lektürevergnügen macht. – Allen »guten Lesern« ans Herz gelegt!

Johannes Willms: Balzac. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 367 Seiten. 24,90 €.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters

widmer_vater In Der Geliebte der Mutter spielte der Vater des Erzählers eine marginale, rein funktionale Rolle: Die Mutter, enttäuscht von ihrem Geliebten Edwin, heiratet den ersten besten Mann, der ihr über den Weg läuft, hat mit ihm ein Kind und verfällt dann langsam, aber sicher ihrer großen Krise. Nach Hochzeit und Zeugung wird der Vater wohl nur noch ein- oder zweimal erwähnt, er scheint aber weder für sich noch für die Mutter irgend eine Bedeutung zu haben.

Dieses Manko behebt Widmer nun mit diesem Buch, das die Geschichte des Vaters erzählt. Im Buch heißt der Vater zwar Karl, aber zahlreiche Lebensdetails dürften direkt der Biographie des Romanisten und Übersetzers Walter Widmer entnommen sein, was das Buch wesentlich reichhaltiger und spannender werden lässt als seinen Vorgänger. Widmer macht aber deutlich, dass es sich nicht um den Versuch einer Biographie seines Vaters handelt, sondern er im Gegenteil eine Figur erfindet, die sein Vater hätte sein können. Auch darf man nicht erwarten, dass beide Bücher naht- und bruchlos ineinandergreifen; sie widersprechen einander sogar in wesentlichen Details, da es sich in beiden Fällen um fiktionalisierte und erzählerisch idealisierte Biographien handelt, die auf die eine Strukturierung und Intensivierung der biographischen Wirklichkeit abzielen. Man sollte sie also zugleich und gleichwertig als Pendants und jeweils für sich stehend lesen.

Das Buch des Vaters beginnt mit der Feststellung: »Mein Vater war ein Kommunist.« Im Gegensatz zu diesem Auftakt folgt aber nun gerade keine politische Biographie, sondern die Politik spielt eher eine Nebenrolle. Indem der Erzähler dann den Tod des Vaters vorwegnimmt, führt er das zentrale Motiv des Buches ein, das auch den Titel des Buches bedingt: Der Vater verfügt über ein Lebensbuch, das er an seinem zwölften Geburtstag in einer märchenhaften, feierlichen Zeremonie im Heimatdorf seines Vaters überreicht bekommen hat und in dem er von da an täglich Ereignisse und Gedanken seines Lebens notiert. Allerdings ist Das Buch des Vaters nicht mit diesem Lebensbuch identisch; aber da soll nicht zuviel verraten werden.

Was Das Buch des Vaters deutlich angenehmer als Der Geliebte der Mutter macht, ist sein größerer Humor, was aber in der Hauptsache stoffliche Gründe haben dürfte. Während Der Geliebte der Mutter die Geschichte eines Liebeswahns ist, von dem sich die Mutter bis an ihr Lebensende nicht wirklich zu befreien versteht, erinnert Das Buch des Vaters eher an einen Schelmenroman, den Roman eines beinahe romantischen Taugenichts, der sein Leben weitgehend sorglos treiben lässt, seiner Leidenschaft für französische Literatur und hier und da auch die Frauen lebt und ansonsten den Lieben Gott einen guten Mann sein lässt. In einem gewissen Sinne ist er noch weltverlorener als die Mutter, was wiederum einen wichtigen Reflex auf das Buch der Mutter wirft, da es verständlich macht, warum der Vater in ihm eine so marginale Rolle spielt.

Erst zusammen mit diesem Buch wird Der Geliebte der Mutter richtig rund, und es ist, wie bereits gesagt, zu empfehlen, beide Bücher als Passepartouts für einander zu lesen.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters. detebe 23470. Zürich: Diogenes Verlag, 2005. Pappband, 209 Seiten. 8,90 €.

Frank Herbert: Dune

“From time to time a real man has to scratch his arse!” Muad’Dib pondered.
—from the litter bin of the Princess Irulan

herbert_dune Zweite Lektüre, nach etwa 30 Jahren, diesmal zum ersten Mal im Original, in der Hauptsache von der Neugier motiviert, was ich heute wohl von dem Buch halte, das mich damals – ich hatte zwar viel Science-Fiction gelesen, aber erst wenige ordentliche Bücher – recht beeindruckt zurückgelassen hatte. Zwar fand ich schon damals die Aufregung um den Zyklus etwas aufgesetzt, konnte der ersten Trilogie aber nicht meine Bewunderung versagen. Den vierten Band der Trilogie habe ich nicht mehr gelesen und bin dann überhaupt in andere literarische Gefilde abgedriftet.

Inhalt, Personal und Besonderheiten dieses Buchs sind so weitläufig bekannt bzw. leicht nachzuschlagen, dass ich mir ein erneutes Nacherzählen hier erspare. Was mir heuer zuerst aufgefallen ist, ist die durchgehende Militarisierung dieser Welt, die mit starken positiven Werten besetzt ist: Selbstdisziplin, Überlegenheit im Kampf Mann gegen Mann, taktisches und strategisches Denken, asketischer Lebensstil und eine gewisse, alles grundierende Lebensverachtung bestimmen den Ton des Buches. Daneben stehen Mystizismus und Gottgläubigkeit, Prophetentum und religiöser Fanatismus, immer fundiert in der Machtbesessenheit durchgehend aller Figuren. Es gibt auch nicht einen einzigen Moment des Ausweichens in dieser Welt; selbst die einzige Stelle, an der so etwas wie Kunstfertigkeit sichtbar wird, in den die Kapitel einleitenden Zitaten aus den diversen Schriften der Prinzessin Irulan (ein im übrigen erzähltechnisch bemerkenswerter Trick, eine Person im Buch kontinuierlich präsent zu machen, die ansonsten nur auf den letzten Seite eine kleine, aber entscheidende Rolle spielt), ist durchtränkt vom unsäglich weisen Gesülze des Protagonisten über Gott und die Welt.

Auch der zu Beginn recht faszinierende Einfall, die Gedanken seiner Figuren als Kommentare zum Geschehen zu benutzen und auf diese Weise langatmige Erklärungen oder Einleitungen unnötig zu machen, fällt dem Leser im weiteren Verlauf unschwer auf die Nerven. Insbesondere Jessicas Gedanken erscheinen immer banaler je weiter der Roman fortschreitet:

“He is healthy and happy, my mother,” Chani said. “I left him with Alia in the care of Harah.”
My mother, Jessica thought. Yes, she has the right to call me that in the formal greeting. She has given me a grandson.

Hier wird im Gedankenkommentar nichts mitgeteilt, was der Leser nicht schon viele Seiten lang wüsste. Selbst, wenn er sich wundern würde, warum Chani Jessica als ihre Mutter anredet – was er im Normalfall nicht tun wird –, so kann er leichthin selbst darauf kommen, auch ohne dass ihm der plappernde Autor auch das noch vorsagt. Vieles von dem, was uns der Autor in der zweiten Hälfte des Romans an Gedanken mitteilt, ist von ähnlicher Qualität. Noch schlimmer wird es, wenn der Autor selbstverliebt via Jessica seine eigene Findigkeit lobt:

Hearing her son, Jessica marveled at the awarness in him, the penetrating insight of his intelligence.

Überhaupt wird das Buch in der zweiten Hälfte weitgehend redundant und erzählt sein dünnes Fähnchen ein über das andere Mal neu, bis dann auf einmal und innerhalb von wenigen Seiten doch wieder eine Handlung ausbricht und der exilierte Held im Handumdrehen Herrscher des Universums wird. Aber so leben Helden nun einmal, da kann auch der beste Autor nichts machen!

Frank Herbert: Dune. New York: ACE, 1990. Broschur, 537 Seiten. Ca. 6,– €.

P.G. Wodehouse: Reiner Wein

wodehouse-reinerwein Das Bändchen präsentiert so etwas wie eine Autobiographie Wodehouses, angeregt angeblich durch das Schreiben eines Journalisten, der Wodehouse im Jahr 1957 eine Reihe von Frage zugesandt habe, die der Befragte unerwartet ausführlich beantwortet. Eine wirkliche Autobiographie entsteht dabei natürlich nicht, wenn auch Wodehouse recht ausführlich über seine Anfänge als Autor plaudert. Aber Wodehouse ist zu verspielt und nimmt sich selbst nicht ernst genug, um tatsächlich eine Selberlebensbeschreibung zu liefern. Stattdessen wimmelt das Buch von Anekdoten, Witzen, Wortspielen. Selbst wenn konkrete Ereignisse im Leben des Autors geschildert werden, gerät alles rasch zur Posse:

Seinerzeit wurden Hollywood-Autoren in kleinen Käfigen gehalten. Diese beherbergten, in Reihen angeordnet, je einen Autor mit einem langfristigen Vertrag auf Wochenlohnbasis. Jedermann konnte sehen, wie ihre Gesichtchen bang durch die Gitterstäbe guckten, und hören, wie die Bedauernswerten winselnd darum baten, auf einen Spaziergang mitgenommen zu werden. Der Anblick ließ nur ganz Abgebrühte kalt.

Ich will nicht gerade behaupten, man habe die Autoren mißhandelt. In den besseren Studios war bei Einführung des Tonfilms Freundlichkeit die Regel. Oft blieb einer der Mogulen stehen und steckte einem der Betroffenen ein Salatblatt zu. Und das gleiche galt für die menschlicheren Regisseure, ja, zwischen Regisseur und Autor entwickelte sich oft eine schon fast rührende Freundschaft. Ich erinnere mich an eine Episode, die mir ein Regisseur einst erzählte und welche dies glänzend illustriert:

Eines Morgens war er unterwegs ins Büro – gedankenverloren wie immer, wenn er sich den Tagesablauf durch den Kopf gehen ließ –, als er plötzlich spürte, wie etwas an seinen Frackschößen zerrte. Er sah hinunter und erblickte seinen Lieblingsautor Edgar Montrose (»Autor des Monats«) Delamere. Das Bürschchen hielt ihn mit eisernem Griff fest und schaute mit Augen zu ihm hoch, in denen eine fast menschlich wirkende Warnung lag.

Auch Wodehouses Betrachtungen zum Boxen, Fernsehen, Landleben, seinen Arbeitsstil usw. usf.  geraten rasch auf ähnliche Pfade.

Zur Qualität dieser Wodehouse-Ausgabe und der hervorragenden Übersetzungen von Thomas Schlachter ist an anderer Stelle schon das Nötigste gesagt worden. Auch dieses Bändchen ist für Wodehouse-Freunde ein Muss, für alle anderen Leser eine wärmste Empfehlung.

P.G. Wodehouse: Reiner Wein. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2007. Pappband, Fadenheftung, 215 Seiten. 19,95 €.