Der elektronische Goethe

Goethe_DigibibDie Digitale Bibliothek hatte schon sehr früh zwei umfangreiche Textsammlungen zu Johann Wolfgang von Goethe herausgebracht: Bd. 4 enthielt eine umfangreiche Werkauswahl und Bd. 10 versammelte die Briefe und Tagebücher in der Fassung nach der sogenannten Sophienausgabe sowie eine frühe Fassung der Sammlung der Gespräche Goethes durch Woldemar von Biedermann. Nun bringt die Digitale Bibliothek einen Sonderband, der die beiden Bände zusammenfasst und so die umfassendste elektronische Quelle zu Goethe darstellt.

Da Goethe ohne Frage nicht nur für das 19., sondern auch noch für das 20. Jahrhundert einer der einflussreichsten deutschsprachigen Schriftsteller ist, bedarf eine elektronische Fassung seiner umfangreichen Schriften kaum einer Rechtfertigung. Was ist Goethe nicht alles zu Recht und zu Unrecht zugeschreiben worden, wer hat sich in den vergangenen 250 Jahren nicht alles auf Goethe berufen. Das Internet ist eine neue, reiche Quelle sogenannter zugeschriebener Zitate für die keinerlei Beleg angeführt werden und in vielen Fällen auch nicht anzuführen sind. Eine elektronische Ausgabe in dem Ufang, wie die Digitale Bibliothek jetzt anbietet, ist da eine solide Grundlage zur Überprüfung und Recherche.

Sie wird aber auch für den einen oder die andere Leser/in eine sinnvolle Ergänzung zur gedruckten Werkauswahl in seinem bzw. ihrem Bücherschrank sein. Denn wer hat schon vor, die Briefe Goethes in ihrer Gesamtheit zu lesen? Da braucht man eine durchsuchbare Quelle, in der man effizient nach Stichwörtern suchen und die Fundstellen vergleichen kann. Das alles bietet die seit vielen Jahren gut ausgereifte Software der Digitalen Bibliothek. Ähnliches gilt natürlich auch für die Sammlung der Gespräche, die zwar in der reproduzierten Sammlung von 1889 ff. nicht auf dem neusten Stand ist, für die allermeisten Belange auber vollständig ausreichen dürfte.

Grundlage der Werkauswahl sind in der Hauptsache die etwas ältliche aber recht umfangreiche Berliner Ausgabe der Werke Goethes und die immer populäre Hamburger Ausgabe. Auch dies ist nicht ideal, für praktische Zwecke völlig ausreichend. Die Briefe und Tagebücher werden – wie bereits erwähnt – nach der grundlegenden Sophien-Ausgabe präsentiert.

Abgerundet wird die umfangreiche Zusammenstellung durch den Text der kurzen Goethe-Biographie von Anja Höfer – gedruckt in der Reihe »dtv-portrait« – und dem sehr nützlichen »Who’s who bei Goethe« von Michael Lösch (ebenfalls im Druck bei dtv), einem ausführlichen Figurenlexikon zu den Werken Goethes. Insgesamt umfasst die CD-ROM mehr als 46.000 Bildschirmseiten, was in etwa 23.000 Buchseiten entsprechen dürfte. Der Preis von 19,90 € ist bei einem solchen Angebot kaum der Rede wert.

Johann Wolfgang von Goethe – Leben und Werk. Digitale Bibliothek Sonderband 30. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) – MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 19,90 €.

Software für Mac- und Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Katharina Hacker: Die Habenichtse

habenichtseNun waren die Preisrichter mit ihrem Urteil doch rascher fertig als ich mit meiner Lektüre. Katharina Hackers Roman »Die Habenichtse« ist mit dem Deutschen Buchpreis 2006 ausgezeichnet worden. Die Auswahl der Shortlist im Jahr 2005 war von erstaunlicher Qualität gewesen und das Buch, das den Preis schließlich erhielt, Arno Geigers »Es geht uns gut«, war eine durchweg positive Überraschung. Das ließ für dieses Jahr viel hoffen.

»Die Habenichtse« beginnt mit drei Erzählsträngen, die sich nach etwas mehr als einem Drittel des Buches miteinander vereinen:

1. Die Geschichte von Jakob und Isabelle beginnt in Berlin, wo sich die beiden nach vielen Jahren wieder begegnen. Sie kennen einander aus ihrer Studienzeit in Freiburg, haben damals eine einzige Nacht miteinander verbracht, die Jakob offenbar so einprägsam war, dass er – inzwischen Jurist in Berlin – für viele Jahre darauf wartet, ob ihm das Schicksal Isabelle noch einmal über den Weg führt. Isabelle arbeitet als Graphikerin in Berlin für eine kleine Werbeagentur. (Wer erstellt einmal eine Bibliografie all jener Romanen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, in denen wenigstens eine der Hauptfiguren in der Werbung arbeitet?) Und sie begegnen einander auf einer Feier am Abend jenes unvergesslichen 11. September 2001. Jakob und Isabelle heiraten rasch, und Jakob geht im Auftrag seiner Berliner Firma nach London, in Vertretung eines Kollegen, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen ist – auch dies schicksalhaft, wie Jakob meint, denn eigentlich wäre er an jenem Tag im WTC gewesen, hätte er nicht, um Isabelle sehen zu können, seine Reise vorverlegt.

2. Jim ist ein Londoner Kleinkrimineller und Dealer, der mit Leidenschaft an Mae hängt, einer labilen und drogensüchtigen jungen Frau, die früh aus dem Roman verschwindet, nachdem Jim einmal mehr seine Gewalttätigkeit nicht unter Kontrolle hatte. Jim sucht nach Mae, versucht dem Einfluss seines Bosses zu entkommen und nistet sich in der Wohnung eines entfernten Bekannten ein, der sich für längere Zeit nicht in London aufhält. Jims Geschichte steckt voller Klischees, sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher, und sein Milieu wird ungefähr so geschildert, wie sich ein deutscher »Tatort«-Zuschauer die Verbrecherwelt vorstellen mag. Jim bleibt als Figur mager und ohne rechten Hintergrund; wir verstehen nur, dass er ein Umhergetriebener ist, aber wir verstehen nicht, warum. Eine schlimme Kindheit wird angedeutet, das frühe Ausreißen von Zuhause, das diesen Mann »hart« gemacht hat etc. Aber das alles bleibt vage und eher entworfen als erzählt.

3. Sara ist ein kleinwüchsiges und vielleicht auch geistig zurückgebliebenes kleines Mädchen, das mit ihrem älteren Bruder Dave und ihren Eltern in derselben Straße Londons wohnt, in die auch Jakob und Isabelle einziehen werden und in der Jim seine Fluchtwohnung hat. Sara lebt in einem zerrütteten Elterhaus: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter gänzlich willenlos, der Bruder die einzige Person, die sich um Sara kümmert. Die Eltern halten Sara im Haus, lassen sie nicht in die Schule gehen, ob aus Scham, aus Bequemlichkeit oder aus Gedankenlosigkeit wird letztendlich nicht klar, weil Saras Eltern recht schemenhaft bleiben. Sara wird von ihrem Vater geschlagen, eine Stelle des Romans deutet auch einen sexuellen Missbrauch an, sie muss oft mehrere Tage hungern, wenn beide Eltern aus dem Haus sind und auch ihr Bruder den häuslichen Missständen zu entfliehen versucht.

Alle diese Personen und einige Neben- und Randfiguren werden in den beiden hinteren Dritteln des Buches miteinander in Beziehung gesetzt. Genauso aseptisch, wie das klingt, ist es auch. Der größte Mangel des Buches scheint mir zu sein, dass es sich bei allen Figuren um Gedankenkonstrukte, um Platzhalter in einer Installation der Autorin handelt: Keine der Figuren hat Geist, keine der Figuren hat Leben, selbst ihre inneren Widersprüche sind konstruiert und erzeugen keine Spannung. Jim steht für die Gewalt, Isabelle für die Sexualität, Jakob für Weltflucht und Konfliktscheu, Sara für das geschundene, unschuldige Opfer usw. usf. Katahrina Hacker schiebt diese Figuren auf dem Schachbrett ihres Romans 300 Seiten lang herum, ohne dass dabei irgendetwas Relevantes oder auch nur Überraschendes herauskommen würde. Und tatsächlich spielt sie mit all dem bloß: Nichts hat tatsächlich ernsthafte Konsequenzen in diesem Roman – zwei Katzen sterben, das ist aber schon das Ärgste, obwohl die Allgegenwart von Gewalt immer wieder behauptet wird – und von der Gnadenlosigkeit der Zerstörung eines Shakespeares, dessen »King Lear« Katharina Hacker kokett zitiert, hat der Roman auch nicht einen Schimmer. Alles bleibt papieren und – und das ist das Schlimmste überhaupt – langweilig. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch über weite Strecken gänzlich humorfrei zu sein scheint.

Nur hier und da blitzt einmal auf, dass das auch ein spannendes Buch hätte werden können: Wenn Jakob sich etwa im Auftrag eines Klienten mit Wolf-Heinrich Graf von Helldorf beschäftigt, bekommt man plötzlich eine Seite lang einen Eindruck davon, was die Autorin alles hätte erzählen können. Hier und da sind Wirklichkeitsdetails genau recherchiert und punktgenau getroffen. Aber das geht rasch vorbei und wieder zieht Katharina Hacker seitenlang ihre Figuren übers Brett. Ich jedenfalls habe mich herzlich gelangweilt bei der Lektüre.

Katharina Hacker: Die Habenichtse. Frankfurt: Suhrkamp, 2006. Pappband, 309 Seiten. 17,80 €.

Das witzigste Buch der Welt

shandy

Anlässlich der stark beworbenen Neuausgabe der Übersetzung von Michael Walter beim Eichborn Verlag möchte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, auf eines der witzigsten Bücher der Weltliteratur hinzuweisen: Laurence Sternes »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman«. Es gibt nicht viele Bücher, die man in seinem Leben immer und immer wieder lesen kann, ohne dass sie ihren Reiz und Witz irgendwann einmal verlieren; der »Tristram Shandy« gehört sicherlich dazu.

Denn ungewöhnlich ist das Buch in beinahe jeder Hisicht. Aber langsam! Fangen wir mit dem an, was sich ohne zu große Verwirrung zu stiften, sagen lässt: »Tristram Shandy« ist zwischen 1759 und 1767 in neun Bänden in London erschienen. Sein Autor, Laurence Sterne (1713–1768), entstammte einer englischen Offiziersfamilie, war in Irland geboren worden, und zu dem Zeitpunkt, als er seinen Roman schrieb, seit 20 Jahren Geistlicher. Die ersten beiden Bände des »Tristram Shandy« machten den Autor über Nacht berühmt und zu einem gefeierten und gesuchten Gast der Londoner Salons. Auch in Paris, das er Ende 1762 auf dem Weg nach Südfrankreich besuchte, wurde er triumphal empfangen und gefeiert. Er war einer der Literaturstars seiner Zeit. Neben dem »Tristram Shandy« existiert noch eine Sammlung von Predigten und im Todesjahr 1768 erschien »A Sentimental Journey through France and Italy« in zwei Bänden. Damit ist Sternes Werk auch schon so gut wie ausgeschöpft.

Der Ich-Erzähler und Held des »Tristram Shandy« ist wahrscheinlich einer der ungewöhnlichsten, sicherlich aber der unordentlichste Erzähler der Weltliteratur. Von jedem Gedanken, jedem Einfall lässt er sich ablenken, immer fällt ihm noch etwas ein, das er noch kurz erzählen muss, bevor er mit seiner Geschichte weiterkommen kann, wobei er in der Abschweifung gleich die nächste Abschweifung beginnt und so weiter und so fort. Den Anfang seiner Lebensgeschichte macht er mit einem Bericht, beinahe schon einer Klage über seine eigene Zeugung:

Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide – denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet – hübsch bedacht hätten, was sie vornahmen, als sie mich zeugten! Hätten sie geziemend erwogen, wieviel von dem abhinge, was sie damals taten – daß es also nicht nur die Erzeugung eines vernünftigen Wesens galt, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und ausgiebige Wärme des Körpers, daß vielleicht des Menschen Geist und seine ganze Gemütsbeschaffenheit, ja sogar – denn was wußten sie vom Gegenteile? – das Wohl und Geschick seines ganzen Hauses durch ihren damals vorherrschenden Seelen- und Körperzustand bestimmt werden konnte; – wenn sie, wie gesagt, das alles getreulich erwogen und überdacht hätten und dementsprechendvorgegangenwären, sowürde ich nach meiner Uberzeugung eine ganz andere Figur in der Welt gemacht haben als die, in welcher mich fortan der Leser dieses Buches erblicken wird.

(Übers. v. Rudolf Kassner)

Und nachdem er im Folgenden die Umstände seiner Zeugung mit einiger Sorgfalt »ab ovo« – um wie Tristram Shandy selbst mit Horaz zu sprechen – dargelegt hat, braucht der Erzähler immerhin bis ins dritte Buch hinein, um überhaupt bis zu seiner Geburt und zugleich Nottaufe vorzudringen. Im Weiteren erfahren wir, warum nach Auffassung der Kirche Kinder nicht mit ihren Müttern verwandt sind, was für eine geheimnisvolle Bewandnis es mit Nasen und Namen hat, wie und – im doppelten Sinne – wo Tristrams Onkel Toby in Flandern bei der Belagerung von Namur verletzt wurde und was diese Verletzung für Folgen zeitigte, wir kommen an der berühmten schwarzen und der noch berühmteren bunten Seite des Buches vorüber – jene ein Symbol der Trauer, diese ein Symbol der Buntscheckigkeit des Buches und des Lebens –, vermissen ein ganz und gar aus dem Buch herausgerissenes Kapitel, werden vom Erzähler zum Kapitelanfang zurückgeschickt, weil wir beim Lesen nicht gut genug aufgepasst haben, und was der Leseabenteuer mehr sind. »Tristram Shandy« ist eine solch übersprudelnde Quelle von Einfällen, Pointen, nichtsnutzigen Verweisen, falschen und richtigen Zitaten, philosophischen Weis- und Dummheiten, dass es eine reine Freude ist. In diesem Buch kann man versinken, die Welt vergesssen und sie wiederfinden. In jeglicher Hinsicht ein Zauberbuch.

Das Buch war im 18. Jahrhundert ein solch grandioser Erfolg, dass es nicht nur rasch in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt wurde, sondern dass es eine ganze Reihe von Nachahmern gefunden hat: Die Sterneiana sind auch in Deutschland eine wichtige Literaturtradition, die sich bis ins zwanzigste Jahrhundert fortgesetzt hat; aber davon müssen wir ein andermal erzählen.

Die nun bei Eichborn wieder aufgelegte Übersetzung Michael Walters ist die späteste und modernste Übersetzung des Textes. Die erste deutsche Übersetzung stammt von dem bedeutenden Verleger und Übersetzer Johann Christoph Bode und erschien 1774. Später ist das Werk noch des öfteren übersetzt worden; die Eindeutschungen von Seubert (1880) und Kassner (1937) dürften auch heute noch bedeutsame Alternativen darstellen. Dass sich schließlich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer der besten deutschen Übersetzer – Michael Walter – daran gemacht hat, den »Tristram Shandy« neu ins Deutsche zu übertragen, hatte seine erste Ursache in einem Aufsatz Arno Schmidts. Der hatte in »Alas, poor Yorick!« (1963) nicht nur eine der damals noch im Druck befindlichen Überarbeitungen der Bodeschen Übersetzung auf gut irokesisch massakriert, sondern verstärkt auch auf den seiner Meinung nach weitgehend ignorierten sexuellen Grundbass des Buches hingewiesen.

Michael Walter machte es sich nun zur Aufgabe, eine Übersetzung zu liefern, die gerade diesen Basso continuo sexueller Anspielungen und Wortspiele deutschen Lesern sichtbar machen sollte. Dabei ist ihm dieser Klang zum Teil recht deutlich geraten, hier und da sicher auch deutlicher als im Original. Aber wenigstens eines kann der deutsche Leser der Walterschen Übersetzung nur mit Mühe: Ignorieren, dass es sich bei »Tristram Shandy« auch um ein Buch des sexuellen Witzes handelt.

Ohne jede Frage ist die Waltersche Eindeutschung grandios und virtuos geraten. Aber vielleicht ist es doch besser, das Buch zuerst einmal – mehrmals lesen wird man es ohnehin, wenn man es denn einmal mit Genuss gelesen hat – in der Übersetzung von Rudolf Kassner zu lesen (Diogenes Taschenbuch 20950). Auch Kassner hat die sexuelle Ebene des Textes durchaus wahrgenommen und mitübersetzt, ist aber deutlich dezenter als Walter. Und so mag es der einen oder dem anderen eher gelingen, auch auf die anderen Töne zu hören, die bei Walter manchmal drohen im allzureichen Glockenklang unterzugehen. Aber ganz gleich, welchen Zugang man auch wählt, für »Tristram Shandy« gilt der alte Satz Lichtenbergs: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Laurence Sterne: Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys. Aus dem Englischen von Rudolf Kassner. Zürich: Diogenes, 1982. (detebe-Klassiker 20950). Broschiert, 810 Seiten. 14,90 €.

Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Ins Deutsche übertr. u. hrsg. v. Michael Walter. Neuausgabe Frankfurt: Eichborn, 2006. 852 Seiten. 39,90 €.

Die gänzlich »Andere Bibliothek«

Kann sich noch jemand außer mir erinnern, wie alles angefangen hat? Ende 1984 flutete der noch junge Greno Verlag die Buchhandlungen mit zwei Werbebroschüren: Eine zur Ankündigung einer neuen Buchreihe, der »Anderen Bibliothek«, die zweite speziell für den ersten Band der Reihe, Lukian von Samosatas »Lügengeschichten«. Und im Januar 1985 erschien dieser erste Band: Blauer Einband und ein Pappschuber, rotes Rückenschildchen, Fadenheftung und rotes Lesebändchen und – wichtigster handwerklicher Punkt der Ideologie der Reihe – im Bleisatz gesetzt; Preis: 25 Deutsche Mark (so hieß bei uns das Geld damals). Und ein Wunder geschah: Lukian von Samosata, der seit vielen Jahrzehnten nur noch einige Altphilologen zu einem zurückhaltendem Grinsen gebracht hatte, verkaufte sich so gut wie vielleicht niemals zuvor in der Geschichte des Buchhandels. Ein weiterer Sieg des Marketings über die Trägheit des Publikums!

Nun meldete Spiegel online, dass der Eichborn Verlag die »Andere Bibliothek« auch nach dem Bruch mit Hans Magnus Enzensberger fortsetzen wird. Es wurden zwei neue Herausgeber gefunden: Michael Naumann – ehemaliger Staatsminister für Kultur und Medien und jetziger Mitherausgeber der »Zeit« – und Klaus Harpprecht – ehemaliger Redenschreiber Willy Brandts und heute in Frankreich ansässiger Publizist – werden für die Reihe verantwortlich zeichnen.

Das bedeutet, dass alles seinen Gang so gehen wird, wie seit vielen Jahren: Das Lektorat des Eichborn Verlags würfelt die 12 Bände im Jahr aus dem zusammen, was ihm so unterkommt, und hier und da wird mal einer der Herausgeber einen Vorschlag machen, was man noch bringen könnte. Das wird dann gemacht und damit haben auch die Herausgeber ihr Scherflein beigetragen. Den Rest regelt der Markt.

Sagen wir es offen: Nachdem Eichborn die Reihe zur Buchmesse 1989 übernommen hatte, hat sie mit der Zeit jegliches Profil und alle ihre alten Qualitäten beinahe komplett eingebüßt. Man hätte die »Andere Bibliothek« damals zusammen mit dem Greno Verlag sterben lassen sollen, aber einerseits war es verständlich, dass der insolvente Franz Greno froh war, wenigstens aus dem Verkauf seines einzigen Renommierprojekts noch einiges Geld schlagen zu können, andererseits war es für Eichborn, der mit der Vermarktung von Cartoons und Witzen groß geworden war, eine Chance sich endgültig als literarischer Verlag zu etablieren.

Doch mit der Reihe ging es bergab: Hatte schon Greno die Preise erst langsam, dann immer heftiger ansteigen lassen müssen, fiel die »Andere Bibliothek« jetzt unter die Controller: Für einige Jahre wurden wenigstens noch die Erstauflagen im Bleisatz – auch weiterhin in der Nördlinger Druckerei Grenos – hergestellt, dann stellte man auch das ein. Am Preis hat das nicht viel geändert: Ein Band der anderen Bibliothek, der heute handwerklich weit unter dem Standard der Anfangsjahre liegt, kostet inzwischen mehr als das Doppelte des Preises im ersten Jahr.

Hans Magnus Enzensberger wandte sich wieder eigenen Büchern zu und überließ Eichborn seinen Namen für die Reihe, in der dann immer noch hier und da ein Band erschien, der offenbar seine Handschrift trug – die Montaigne-Übersetzung Hans Stiletts etwa oder der monumentale Humboldtsche »Kosmos«, recht besehen übrigens nichts als eine obsolete Wortwüste –, aber insgesamt verlor die »Andere Bibliothek« innerhalb kurzer Zeit weitgehend ihr Profil.

Im Jahr 2004 sah Enzensberger dann die Chance für einen Neuanfang, als die F.A.Z. anfragte, ob er nicht Herausgeber einer »F.A.Z. Bücherei« werden wolle. Enzensberger kündigte daraufhin einseitig und vertragswidrig die Herausgeberschaft bei Eichborn auf – was die »Andere Bibliothek« nicht daran hindert, auch weiterhin monatlich treulich zu erscheinen –, wurde aber von seinem alten Verlag gerichtlich daran gehindert, zusammen mit der F.A.Z. ein Konkurrenzprojekt zu starten. Der Vertrag, der Enzensberger bindet, läuft nun 2007 aus, die beiden Nachfolger sind designiert, die »Andere Bibliothek« wird auch davon gänzlich unbeeindruckt weiterhin erscheinen. Und wenn sich ihr Ruf eines Tages soweit abgeschliffen haben wird, dass es auch Eichborn einsieht, wird sie sang- und klanglos verschwinden, und dann wird vielleicht einer seine Zeitung aufschlagen, eine entsprechende Kurznotiz lesen und ein wenig überrascht sagen: »Was, die gab es noch?«

Die Meuterei auf der Bounty

34908Am 28. April 1789 kam es auf der HMAV Bounty unweit der Küste der Südseeinsel Tofua zu einer Meuterei, in deren Folge der Kapitän des Schiffes, Leutnant William Bligh, zusammen mit 18 weiteren Mitgliedern der Besatzung im Longboat der Bounty auf See ausgesetzt wurde. Das Schiff übernahm einer seiner Unteroffiziere, Fletcher Christian, der sich mit diesem Akt der Auflehnung einen ewigen Platz in der Geschichte der britischen Navy sicherte. Der Fall erregte in England viel Aufsehen, sowohl nach der Rückkehr Blighs und seiner Leute, die dieser beinahe vollzählig in einem seemännischen Bravourstück über eine Strecke von 5.800 Meilen in einen sicheren Hafen brachte, als auch bei dem Prozess gegen eine Gruppe von Meuterern, die 1791/92 ebenfalls auf abenteuerlichste Weise nach England zurückgebracht wurden.

Zahlreiche Beteiligte an den Vorgängen um die Meuterei auf der Bounty haben ihre Version der Ereignisse zu Papier gebracht und veröffentlicht, allen voran Kapitän William Bligh, der immer neue Varianten seines Berichtes drucken ließ, die alle reißenden Absatz fanden. Bereits 1791 übersetze Georg Forster, der ebenso wie Bligh, wenn auch nicht auf derselben Reise, mit Cook die Südsee bereist hatte, einen ersten Bericht Blighs ins Deutsche. Auch sonst sorgte die Meuterei in ganz Europa lange Zeit für Gesprächsstoff.

Im 20. Jahrhundert wurde der Stoff in der Hauptsache durch drei Verfilmungen prominent: 1935 unter der Regie von Frank Lloyd – bereits die dritte Verfilmung des Stoffs, aber die erste bleibende – mit Charles Laughton in der Rolle William Blighs und Clark Gable als Fletcher Christian, 1962 ein operettenhaftes Remake von Lewis Milestone mit Trevor Howard (hat sich stets bemüht) und einem dandyhaften Marlon Brando und schließlich 1984 von Roger Donaldson mit Anthony Hopkins und Mel Gibson in den Hauptrollen.

Den ersten beiden der angeführten Verfilmungen liegt ein Buch zugrunde, das 1932 zu ersten Mal erschien. Geschrieben hat es das amerikanische Autorenteam Charles B. Nordhoff (1887–1947) und James N. Hall (1887–1951), die Anfang der 20er Jahre zusammen nach Tahiti ausgewandert waren. Dem ersten Band »Meuterei auf der Bounty« folgten im Jahresabstand zwei weitere, die die Nachgeschichte der eigentlichen Meuterei noch einmal ausführlich erzählten: »Meer ohne Grenzen«, das die Fahrt des ausgesetzen Bligh nach Kupang thematisiert, und – in Deutschland selten gedruckt – »Die Insel Pitcairn«, das die weiteren Schicksale Fletcher Christians und seiner Meuterer in der Südsee beschreibt.

Der Insel Verlag hat nun den ersten Band dieser Trilogie wieder einmal im Taschenbuch nachgedruckt, und es ist sehr zu hoffen, dass auch die beiden anderen Bände dort in einer preiswerten und leicht erreichbaren Ausgabe aufgelegt werden. »Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen« wird von einem von den Autoren zur Besatzung der Bounty hinzuerfundenen sechsten Midshipman (Seekadetten) erzählt und umfasst die gesamte Geschichte der Meuterei von der Ausfahrt der Bounty über die Erlebnisse auf Tahiti, die eigentliche Meuterei, das Schicksal Blighs und den späteren Prozess gegen die Meuterer, ja es holt in einem Epilog sogar die Nachgeschichte Fletcher Christians noch ein. Es ist offensichtlich, dass Nordhoff und Hall sich nicht sicher waren, ob das Buch überhaupt ein Erfolg werden würde und sie dazu in der Lage wären, für die beiden Nachfolgebände einen Verleger zu interessieren.

Sie konnten nicht ahnen, wie sehr dieser erste Band und die auf ihm basierenden Verfilmung von 1935 den Stoff für das 20. Jahrhundert ausprägen sollten. Dabei versuchten Nordhoff und Hall durchaus keinen reißerischen Abenteuerroman zu schreiben, sondern sie näherten sich im Ton und der Art der Darstellung ganz bewusst den Reiseberichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an. Sicherlich waren sie hier und da etwas deutlicher und direkter als Bligh und seine Zeitgenossen, doch insgesamt ist der Roman von einer seltenen Dezenz. Aber die beiden Autoren prägen in diesem Buch das Bild von der Meuterei als Akt des Widerstands gegen einen ungerechten und tyrannischen Kapitän, für den der Stoff bis heute einen Archetypus bildet, obwohl inzwischen ein weit differenzierteres Bild von den tatsächlichen Vorgänge vorliegt.

Wer also einmal zur Quelle des Mythos von der Bounty zurückgehen will, der greife zu diesem Buch.

Charles B. Nordhoff und James N. Hall: Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen. Aus dem Amerikanischen von Ernst Simon. Insel Taschenbuch 3208 (2006). 370 Seiten. 11,00 €.

Das Buch vom schlechten Leser

barbey_antigoethe»Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen«, schreibt der sehr große Lichtenberg, »und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?« Dieser kleine Satz sollte allen Literaturkritikern ganz zu Anfang in ihr Stammbuch geschrieben werden, denn die Grundannahme der Literaturkritik ist im Normalfall, dass es sich um ein schlechtes Buch handeln muss, wenn der Kritiker mit dem Werk nichts Rechtes anzufangen weiß. Dass es aber – auch unter Kritikern! – prozentual mindestens ebenso viele schlechte Leser wie schlechte Bücher gibt, wird selten mitbedacht und noch seltener thematisiert. Nur hier und da erscheint einmal ein Beweis solcher Ignoranz, und es müssen schon ganz besondere Umstände zusammenkommen, damit nach über 100 Jahren ein solches Dokument noch einmal veröffentlicht wird.

Im Jahr 1873 erschien eine Reihe von Essays des damals in Frankreich hoch geschätzten Autors und Literaturkritikers Jules Barbey d’Aurevilly (1808–1889), die Goethe gewidmet sind und jetzt bei Matthes & Seitz in Berlin unter dem Titel Gegen Goethe zum ersten Mal auf Deutsch vorliegen. Barbey d’Aurevilly beginnt seine ausführliche Polemik gegen das Gesamtwerks Goethes mit einer skurrilen Szene:

Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe. Die Librairie Hachette hatte mir vor der Belagerung eine Ubersetzung seiner Sämtlichen Werke geschickt, damit ich sie in einer Zeitung bespräche, und zwischen zwei Wachen las ich immer wieder darin.

Dies ist eine Momentaufnahme aus dem Deutsch-französischen Krieg von 1870/71, den die Deutschen mit der Krönung Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles abschließen sollten – einer bewussten Provokation und Demütigung der Franzosen, die dies bis zum Vertrag von Versailles im Jahr 1918 auch nicht vergessen würden.

Und auch Barbey d’Aurevilly nimmt auf seine Weise Rache für diese Schmach: Er verreißt Goethe! Und das in aller Aufrichtigkeit: Er muss sich durchaus nicht zwingen, Goethe schlecht und – was ihm unverzeihlicher zu sein scheint – unerträglich langweilig zu finden, seine dramatischen Figuren hölzern, seine Gedichte von des Gedankens Blässe angekränkelt, die Romane unmoralisch oder dumm oder auch beides. Und überhaupt mangele es Goethe an Gefühl, Phantasie und Erfindungsgabe; sein Versuch, diese Mängel durch Gelehrsamkeit auszugleichen, ende in einem Fiasko wie dem zweiten Teil des »Faust«, hinterlasse aber auch sonst überall verhängnisvolle Spuren.

Nun höre ich ringsum schon ein allgemeines Aufatmen: »Endlich sagt es mal einer!« – »Recht so! Immer feste druff!« – »Ich habe es ja immer schon gewusst, nur zu sagen habe ich es mich nicht getraut.« ––– Nein, ich muss alle Erleichterten enttäuschen: Barbey d’Aurevilly hat einfach Unrecht; er war im Grunde genommen nichts weiter als ein schlechter Leser Goethes. Dass er ein solch ausgezeichnet schlechter Leser des Weimarer Klassikers wurde, hatte gleich mehrere Wurzeln, die das kluge Nachwort von Lionel Richard detailliert vorführt und analysiert: Barbeys Konkurrenz zu Sainte-Beuve, Goethes hohes Ansehen bei den Anti-Romantikern Frankreichs und eben nicht zuletzt auch die nationale Konfrontation des gerade verlorenen Krieges. Barbey d’Aurevilly wollte Goethe schlechtfinden, koste es, was es wolle. Sein Unverständnis ist oft einfach nur grotesk zu nennen und selbst da, wo er sich genötigt sieht, wenigstens Teilaspekte des Werkes zu loben, kritisiert er das übrige nur um so heftiger.

Und nun in unsern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irrtum durch den Druck sogleich allgemein predigen zu können! Mag ein solcher Kunstrichter nach einigen Jahren auch besser denken, und mag er auch seine bessere Überzeugung öffentlich verbreiten, seine Irrlehre hat doch unterdes gewirkt und wird auch künftig gleich einem Schlingkraut neben dem Guten immer fortwirken.

Goethe zu Eckermann, 13. Februar 1831

Warum wird ein solch weitgehend unbekanntes Buch noch einmal aufgelegt und der Irrtum erneut verbreitet? Nun muss man zuerst einmal natürlich auch Barbey d’Aurevilly und seinen Lesern eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn dieses Buch hat auch ganz unabhängig vom Ziel der Polemik seine Berechtigung und seinen Platz im Werk Barbeys. Dann mag die eine oder andere auch Vergnügen an der Form der Polemik und Barbeys Eifer haben, an den Brotkugeln, die er auf den Adler schießt in der festen Überzeugung, es seien Kanonenkugeln, die einem Spatzen gölten. Und es ist zudem keine kleine Kunst, in einem so schmalen Band gleich so viele Irrtümer, Fehler und Vorurteile zu versammeln. Und ganz zum Schluss ist das Büchlein eben auch das oben genannte Dokument eines schlechten Lesers, eine Mahnung an alle Kritiker – sie werden sie nicht lesen oder, wenn sie sie lesen, nicht verstehen oder, wenn sie sie verstehen, gleich wieder vergessen. Aber vielleicht bleibt es ja als Gewinn bei den guten Lesern übrig, immer mitzubedenken, dass ein Verriss seinen Grund nicht immer darin haben muss, dass das besprochene Buch nichts taugt.

Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last;
Ich hatt just mein gewöhnlich Essen,
Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu räsonieren:
»Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.«
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

Johann Wolfgang von Goethe

Jules Barbey d’Aurevilly: Gegen Goethe. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Matthes & Seitz, 2006. Pappband mit Schutzumschlag, fadengeheftet, Lesebändchen. 142 Seiten. 19,80 €.

Die Britannica lesen …

britannicaIn der westlichen Welt, dem Gebiet der sogenannten christlich-abendländischen Kultur wird man heute schon als Ausnahme-Erscheinung angesehen, wenn man die Bibel, das Buch der Bücher, komplett gelesen hat. Aber es gibt ein Buch, bei dem es noch weitaus ungewöhnlicher ist, es komplett gelesen zu haben: Die Enzyclopædia Britannica! Die Britannica oder die EB, wie Ihre Benutzer sie liebevoll abkürzen, ist das umfangreichste moderne Lexikon der westlichen Welt. Und sie ist nicht nur umfangreich, sie ist auch gut! Der amerikanische Journalist A. J. Jacobs hat es unternommen, die rund 33.000 Seiten der Britannica zu lesen. Und er hat ein Buch darüber geschrieben! Nun wird manch einer denken, was soll schon dabei herauskommen, wenn einer über eine so langweilige Sache wie das Lesen eines Lexikons ein Buch schreibt. Sie werden sich wundern, was für ein erstaunlich lebendiges und witziges Buch dabei herausgekommen ist!

Die Geschichte, die Jacobs von seiner Lektüre erzählt, ist von Anfang an eine sehr persönliche: Er versucht nämlich mit seiner Lektüre der Britannica seinen Vater zu übertreffen, einen erfolgreichen Anwalt, der auch einmal damit begonnen hatte, die EB zu lesen, aber früh schon stecken geblieben war. Außerdem versuchen Jacobs und seine Frau seit einiger Zeit ein Kind zu bekommen und angesichts der von seinem Sprößling zukünftig zu erwartenden Fragen will Jacobs dringend etwas für seine Bildung tun. Er arbeitet als Journalist beim New Yorker Magazin »Esquire«, und wie viele Menschen fürchtet er, langsam zu verblöden, nachdem er mit dem aktiven Lernen aufgehört hat. Und last not least will er mit seinem neu erworbenen Wissen auch ein wenig angeben und auftrumpfen – aber das legt sich mit der Zeit.

All dies führt dazu, dass er sich die aktuelle Ausgabe der EB (2002) bestellt und einfach bei A mit dem Lesen beginnt. Dazu muss man denjenigen, die nie in die EB hineingeschaut haben, erklären, dass die EB grob gesprochen in zwei Teile gegliedert ist (eigentlich sind es mehr, aber das soll uns hier nicht interessieren): Von den 29 Lexikon-Bänden sind nur die ersten zwölf so aufgebaut, wie man es von einem »normalen« Lexikon kennt: Viele Stichwörter und zu jedem eine mehr oder weniger kurze Erklärung, eventuell einige Hinweise zur weiteren Lektüre – fertig, nächstes Stichwort. Diese Bände 1–12 heißen Micropædia, durchlaufen das gesamte Alphabet und umfassen gut 13.000 Seiten. Auf sie folgen 17 weitere Bände (13–29), die Macropædia, etwa 20.000 Seiten (jede Seite der Britannica umfasst dabei den Text von mehr als vier (!) Schreibmaschinenseiten), die nur durch etwa 600 Stichwörter gegliedert sind. Zu jedem dieser Stichwörter bietet die Macropædia einen umfassenden Einführungstext. Um das in diesen umfangreichen Texten enthaltene Wissen sinnvoll aufzuschlüsseln, verfügt die EB über zwei zusätzliche Indexbände.

Durch diesen Aufbau ist die EB wie kein anderes Lexikon für eine vollständige Lektüre geeignet, denn die Nutzer bekommen in der Macropædia große Wissensgebiete in systematischer Darstellung präsentiert. Und so liest Jacobs sich durch beide Teile der EB zugleich, immer dem Alphabet folgend. Das Glück für die Leser des Buches ist nun, dass Jacobs ein witziger Kopf ist, der uns nicht nur an ausgewählten Stichwörtern seiner 15 Monate dauernden Wissens-Odysee teilnehmen lässt, sondern der uns auch erzählt, wie seine Frau, seine Verwandten und Bekannten, nicht zuletzt seine Kollegen auf sein Projekt reagieren, wie ihn das Wissen verändert, was ihn betroffen macht, was ihm merkwürdig vorkommt usw. usf. Jacobs kümmert sich überhaupt um die Kultur und den Kult der Information: Er interviewed den Moderator von »Jeopardy!« und wird Kandidat beim amerikanischen »Wer wird Millionär?«, nur um an der 32.000-$-Frage zu scheitern, weil sein Gedächtnis und sein »allwissender« Telefonjoker versagen. Und schließlich besucht er die Redaktion der Britannica in Chicago und macht unmittelbare Bekanntschaft mit der mühsamen Arbeit der Lexikon-Recherche.

Und nebenher versöhnt er sich mit seinem Vater, zeugt mit seiner Frau endlich ein Kind, lernt lauter Sachen, die er vorher nicht wusste, erinnert sich an Dinge und Zusammenhänge, die er schon einmal vergessen hatte, und behält zugleich seine Distanz zu all dem, was er da liest. Mit der Zeit kennt er den Jargon der Britannica und benennt ihn auch, er lernt ihre Vorlieben und Idiosynkrasien (gleich mal im Lexikon nachschlagen, was das nun wieder bedeutet!) erkennen, schärft seinen Blick für Skuriles, Absurdes und Erschreckendes. Und das wichtigste: Er hält durch! Nach 15 Monaten kommt er tatsächlich beim Stichwort »Żywiec« an und hat es geschafft. Er gibt zu, nicht jedes Wort und nicht jede Seite stets mit der gleichen Aufmerksamkeit studiert zu haben, aber er hat alle Seiten gelesen. Was er tatsächlich davon behalten hat und wird, wird keiner – auch er selbst nicht – jemals wirklich wissen.

Das Buch ist vom Verlag List sorgfältig und liebevoll ausgestattet worden: Es hat einen Goldschnitt (sogar an allen drei Schnitten, wo sich die EB mit einem vergoldeten Kopfschnitt begnügt), ein Lesebändchen, trägt das Markenzeichen der EB, die schottische Distel, auf dem Umschlag und am Fuß jeder Seite, hat lebende Kolumnentitel, die das jeweilige Stichwort, bei dem man sich gerade befindet, anführen und – natürlich! – ein Register. Einzig Kunstledereinband und Fadenheftung fehlen, aber die hätten das Buch nur unvernünftig teuer gemacht. Ein Reiseabenteuer durch die Wissenskreise, eine äußerst vergnügliche und intelligente Unterhaltung zwischen Sachbuch und Autobiographie. Ich habe mich lange nicht mehr so vergnügt mit einem Buch unterhalten!

A. J. Jacobs: Britannica & ich. Von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. List, 2006. Pappband mit Schutzumschlag und Lesebändchen. 427 Seiten. 19,95 €.

Das Unheil, das in den Kulissen wartet

everymanSpätestens seit dem Erfolg von »Der menschliche Makel« sind Neuveröffentlichungen von Philip Roth auch in Deutschland ein Ereignis. In den USA ist Roth inzwischen fraglos ein Klassiker geworden: Die »Library of America« hat mit einer Roth-Werkausgabe begonnen. Und es gibt weltweit eine wachsende Schar von Roth-Lesern, die jedes Jahr darauf warten, dass das Nobelpreis-Komitee endlich ein Einsehen hat und Roth ehrt, solange es noch möglich ist. Nun hat der große alte Mann der amerikanischen Literatur ein Buch über den Tod geschrieben, seine Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen.

Das Buch beginnt mit der Beerdigung des namenlosen Protagonisten, um auch nicht einen Moment lang einen Zweifel daran zu lassen, wie die Geschichte ausgehen wird. Am Grab von Roth’ Jedermann versammelt sich eine kleine Schar Verwandter und Bekannter: Seine Tochter Nancy – die einzige Personen, zu der er zuletzt noch eine engere Beziehung gehabt hatte –, die mittlere seiner drei Ex-Frauen, sein Bruder, die beiden Söhne aus erster Ehe, die ihn gehasst haben, ein paar ehemalige Kollegen und einige Mitbewohner des Seniorendorfs, in dem er zuletzt gelebt hatte. Der Friedhof ist trist und heruntergekommen, aber ›Jedermanns‹ Eltern liegen dort begraben und seine Tochter hatte sich gedacht, er würde vielleicht gern dort liegen, wo er nicht so gänzlich alleine sei.

Nachdem die Trauergemeinde auseinander gegangen ist, setzt die Erzählung vom lebenslangen Sterben des Toten ein: von seiner ersten Operation eines Leistenbruchs in seinen Kinderjahren über einen Blinddarm-Durchbruch, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte über eine schwere Herz-Operation, in der im fünf Bypässe gelegt werden bis hin zur Verstopfung einer Nierenarterie, mit der im eigentlichen Sinne das Alter des Protagonisten beginnt.

Roth erzählt in kurzen Abschnitten, und beinahe alles, was er erzählt, handelt von Verlust, Scheitern und Tod im Leben seines Helden. Selbst dort, wo für einige Zeit etwas zu gelingen scheint, ist es nur Vorspiel für eine weiteren Niederlage, den nächsten Schritt zum Untergang hin. Roth’ Protagonist nimmt nicht leicht Abschied, er blickt mit Trauer und Reue auf sein Leben zurück; nur seine Tochter Nancy scheint ohne Abstriche auf der Haben-Seite seiner Lebensbilanz zu stehen, alles andere erscheint gemischt aus Lust und Leid: Seine drei Ehen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, seine Leidenschaft für die Malerei, die sich nicht als die späte Erfüllung seines Lebens erwiesen hat, auf die er gehofft hatte, seine innige Beziehung zu seinem Bruder, die er aus Neid und Eifersucht auf dessen anscheinend unerschütterliche Gesundheit langsam in die Brüche gehen lässt.

Roth erspart seinem Helden nicht die Einsamkeit des Sterbens und die Härten des Abschieds: Kurz nachdem sein Jedermann noch einmal aus einer Laune heraus vergeblich versucht, ein sexuelles Abenteuer mit einer jungen Frau zu initiieren, bekommt er die Nachricht, dass seine zweite Frau Phoebe – Nancys Mutter – eine Schlaganfall erlitten hat und dass von drei Kollegen, mit denen er eng und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, einer verstorben ist und zwei ernsthaft erkrankt sind. Zu all dem kommt hinzu, dass er sich selbst einmal mehr einer Operation unterziehen muss, eigentlich ein leichter Eingriff, der ihn aber nichtsdestotrotz in Todesangst versetzt.

Das Buch findet seinen grandiosen Abschluss in einem Friedhofsbesuch: Auf dem Friedhof, mit dem das Buch beginnt, unterhält sich Roth’ Jedermann bei einem Besuch am Grab seiner Eltern mit dem lokalen Totengräber, selbst schon ein alter Mann, der das Gewerbe zusammen mit seinem Sohn betreibt. In diesem sachlichen Gespräch über das Handwerk des Totengräbers erlangt der Namenlose plötzlich Ruhe. Er trifft einen Menschen, für den der Umgang mit dem Tod alltäglich ist, der die Toten seines Friedhofs und ihre Geschichten kennt. Diese Alltäglichkeit des Todes und die Sorgfalt, mit der der Totengräber seine Arbeit verrichtet, versöhnen den Protagonisten mit einem Mal – nur wenige Seiten später ist er tot.

Roth’ »Jedermann« schließt sich nur sehr locker an die Tradition des Jedermann-Stoffs an. Der auffälligste Unterschied dürfte sein, dass Roth Gott explizit aus seinem Buch ausschließt: Sein Jedermann wird nicht von einem Gott vor Gericht zitiert, sein Held ist sicher, dass der Tod bloß der Tod ist »– sonst nichts.« Dieser »Jedermann« ist eine sehr säkularisierte Fassung des alten »Spiels vom Sterben des reichen Mannes«. Einzig bei der abschließenden Begegnung mit dem Totengräber meint man einen Hauch von Mysterium zu spüren, als unterhalte sich Jedermann hier auf einmal mit dem Tod selbst, als räsoniere Hamlet noch einmal mit dem alten Totengräber über Yoricks Schädel. Aber vielleicht gilt auch hierfür das Wort Horatios: »Die Dinge so betrachten, hieße sie allzugenau betrachten.«

Philip Roth: Jedermann. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser, 2006. 172 Seiten. 17,90 €.

Vladimir Nabokov: Lolita

lolita

Als Vladimir Nabokov im Sommer 1953 begann, seinen Roman »Lolita« zu schreiben, war er ein unbekannter russischer Emigrant, der an der Cornell University in New York Literatur unterrichtete und Romane in englischer Sprache schrieb, die zwar Kollegen und Kritiker schätzten, die aber sonst kaum gelesen wurden. Als im November 1959 der englische Generalstaatsanwalt bekannt gab, dass er gegen die Publikation und den Vertrieb des Romans »Lolita« in England nicht vorgehen würde, war der Weltruhm Nabokovs endgültig gesichert: Es war von staatlicher Seite anerkannt worden, dass es sich bei »Lolita« um Kunst, nicht um Pornographie handelt.

Vladimir Nabokov ist in den Augen einer breiten Öffentlichkeit der Autor eines einzigen Buches: »Lolita«. Mit dem Skandal um dieses Werk ist Nabokov in die Weltliteratur eingegangen, und das, obwohl es sich für die meisten bei »Lolita« wohl eher um ein Gerücht als um ein Buch handeln dürfte. Viele haben sicherlich inzwischen eine der beiden Verfilmungen gesehen: Die frühe von 1962, die den Regisseur Stanley Kubrick zu einer Marke machte, und die spätere von 1997, die – wenn auch nur unwesentlich freizügiger als die 35 Jahre ältere – auch heute noch in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern keine Jugendfreigabe besitzt.

Lolita erzählt die Geschichte einer Obsession. Erzählt wird sie vom Protagonisten des Romans – einem Professor für romanische Literatur – aus der Ich-Perspektive als Erinnerung und Rechtfertigung für die Tat, wegen der er im Gefängnis sitzt und auf seinen Prozess wartet: Er hat einen Mann erschossen und versucht nun sich selbst, der Jury und der Welt begreiflich zu machen, was zu diesem Mord geführt hat. Als das Buch erscheint, ist sein Held bereits tot: Gestorben in der Untersuchungshaft an einem gebrochenen Herzen – »Koronarthrombose« nennt es der Totenschein –, nur einen guten Monat bevor das Objekt seiner Begierden und Sehnsüchte, seine geliebte Lolita stirbt.

Humbert Humberts – so der obskure Name des Erzählers, der aber nur ein Pseudonym sein soll – Geschichte beginnt aber nicht damit, dass er Lolita kennenlernt, sondern mit der Erzählung von einer Jugendliebe: Als er 13 Jahre alt ist verliebt er sich im Hotel seines Vaters an der Riviera in die Tochter eines Gastes, eine kurze, leidenschaftliche Sommerliebe zweier Kinder, die damit endet, dass Annabel vier Monate später auf Korfu an Typhus stirbt. Humbert hat diesen Verlust nie verwunden.

Und so ist er sich selbst weitgehend wehrlos ausgeliefert, als er sich viele Jahre später – inzwischen amerikanischer Staatsbürger – für den Sommer in das kleine Städtchen Ramsdale begibt, um dort an einem Buch zu arbeiten, und dabei auf Lolita, die Tochter seiner alleinstehenden Wirtin trifft.

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Humbert verliebt sich rettungslos in das kokette Mädchen, dem es Spaß macht, mit dem etwas weltfremden Kauz zu flirten und ihre Macht über ihn auszuspielen. Humbert geht soweit, ihre Mutter zu heiraten, bloß um in Lolitas Nähe bleiben zu können. Als ein »glücklicher Zufall« zum Tod der Mutter führt, beginnt Humbert eine ziellose Fahrt mit Lolita durch Amerika, von Motel zu Motel, immer in der Furcht entdeckt, verfolgt, verhaftet zu werden.

Die Geschichte endet wie sie enden muss: Humberts Eifersucht – die nicht unbegründet ist, wie sich herausstellt – führt zu Streit und Entzweiung, und schließlich verschwindet Lolita eines Tages mit dem Mann, den Humbert Jahre später erschießen wird, weil er ihm Lolita geraubt hat.

»Lolita« ist wesentlich ein trauriges Buch, das Buch eines Sentimentalen, der auf sein gescheitertes Leben zurück- und einem Todesurteil entgegenblickt. »Lolita« ist alles andere als ein erotisches Buch – auch wenn sein Thema die sexuelle Beziehung eines alten Mannes zu einem minderjährigen Mädchen ist – und nichts in dem Buch rechtfertigt auch nur den den Verdacht, es können sich um ein pornographisches Werk handeln. »Lolita« ist allerdings ein herausragendes Buch, geschrieben von einem der lesenswerten Autoren des 20. Jahrhunderts, der ohne den Skandal um das Buch sicherlich auch weiterhin eine Randexistenz im Literaturbetrieb seiner Zeit hätte führen müssen.

Ich rate all denen, die das Buch noch nicht kennen, »Lolita« auf die Leseliste zu setzen und dadurch vielleicht einen Autor kennen zu lernen, der über dieses eine Buch hinaus ein Gesamtwerk geschaffen hat, das zu den intelligentesten und literarischsten des 20. Jahrhunderts gehört!

Vladimir Nabokov: Lolita. Aus dem Englischen von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich M. Ledig-Rowohlt und Gregor Rezzori bearb. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. 8,90 €.

»Nachtwachen« von Bonaventura

nachtwachen

Im Jahr 1804 erscheint unter dem Titel »Nachtwachen« ein kleines Büchlein, das kaum die Bezeichnung Roman verdient, und dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym Bonaventura verbirgt. Es hat bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gedauert, bis man den Autor des Bändchens endlich identifiziert hatte: Ernst August Friedrich Klingemann, ein Theaterintendant und Bühnenautor, dessen sonstige Werke heute beinahe vollständig vergessen sind, hatte mit den »Nachtwachen« sein Meisterstück geliefert.

Erzählt werden die 16 Nachtwachen des Büchleins vom Nachtwächter Kreuzgang, einem Außenseiter, den die bürgerliche Gesellschaft für ebenso verrückt hält wie er sie. Seinen Namen hat er von dem Ort erhalten, an dem er als Waise gefunden worden ist. Bereits durch seine Herkunft von der guten Gesellschaft isoliert, lebt er nun sein Leben im Dunkel der Nacht und läßt die schlafenden Bürger wissen, was die Stunde geschlagen hat. Von den Spießbürgern seiner Stadt wird er wohl als ein Verrückter angesehen, dem man aus Mitleid und weil er sonst zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen war, den Posten des Nachtwächters überlassen hat. So verschläft er denn den Großteil des Tages, und man hat braucht sich mit ihm nicht weiter herumzuärgern.

Die Geschichten, Gedanken, Betrachtungen, mit denen Kreuzgang seine Nächte füllt, sind weder kontinuierlich noch konsequent. Vieles bleibt abgerissen und hingeworfen, Fragment im Fragment eines Fragments. Als Nachtwächter schaut er von draußen in die erleuchteten Fenster hinein, sieht Ausrisse vom Leben und Sterben seiner Mitbürger, geht in Blitz und Donner durch die Nacht, spaziert über Friedhöfe und durch dunkle Kirchen, spricht mit Gott, dem Teufel und sich selbst. Und bei diesen Selbstgesprächen kommen viele und vieles nicht gut weg:

Sagt mir, mit was für einer Mine wollt ihr bei unserm Herrgott erscheinen, ihr meine Brüder, Fürsten, Zinswucherer, Krieger, Mörder, Kapitalisten, Diebe, Staatsbeamten, Juristen, Theologen, Philosophen, Narren und welches Amtes und Gewerbes ihr sein mögt; denn es darf heute keiner in dieser allgemeinen Nationalversammlung ausbleiben, ob ich gleich merke, daß mehrere von euch sich gern auf die Beine machen möchten um Reisaus zu nehmen.

Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt ihr vollbracht, das der Mühe werth wäre? Ihr Philosophen z. B. habt ihr bis jezt etwas Wichtigers gesagt, als daß ihr nichts zu sagen wüßtet? – das eigentliche und am meisten einleuchtende Resultat aller bisherigen Philosophien! – Ihr Gelehrten, was hat eure Gelehrsamkeit anders bezwekt als eine Zersezung und Verflüchtigung des menschlichen Geistes um zulezt mit Muße und einfältiger Wichtigkeit an das übriggebliebene caput mortuum euch zu halten. – Ihr Theologen, die ihr so gern zur göttlichen Hofhaltung gezählt werden möchtet, und indem ihr mit dem Allerhöchsten liebäugelt und fuchsschwänzt, hier unten eine leidliche Mördergrube veranstaltet und die Menschen statt sie zu vereinigen in Sekten auseinander schleudert und den schönen allgemeinen Brüder- und Familienstand als boshafte Hausfreunde auf immer zerrissen habt. – Ihr Juristen, ihr Halbmenschen, die ihr eigentlich mit den Theologen nur eine Person ausmachen solltet, statt dessen euch aber in einer verwünschten Stunde von ihnen trenntet um Leiber hinzurichten, wie jene Geister. Ach nur auf dem Rabensteine reicht ihr Brüderseelen vor dem armen Sünder auf dem Gerichtsstuhle euch nur noch die Hände und der geistliche und weltliche Henker erscheinen würdig neben einander! –

Was soll ich gar von euch sagen, ihr Staatsmänner, die ihr das Menschengeschlecht auf mechanische Prinzipien reduzirtet. Könnt ihr mit euern Maximen vor einer himmlischen Revision bestehen, und wie wollt ihr, da wir jezt in einen Geisterstaat überzugehen im Begriffe sind, jene ausgeplünderten Menschengestalten placiren, von denen ihr gleichsam nur den abgestreiften Balg, indem ihr den Geist in ihnen ertödtetet, zu benuzen wußtet. – O, und was drängt sich mir nicht noch alles auf über die einzeln stehenden Riesen, die Fürsten und Herrscher, die mit Menschen statt mit Münzen bezahlen, und mit dem Tode den schändlichen Sklavenhandel treiben. –

Die »Nachwachen« sind ein dunkles und wildes Buch, dessen abgerissene und befremdliche Gedanken auch heute noch den einen und anderen Blick auf die Nachtseite des Menschen in seiner bürgerlichen Verfassung erlauben. Es ist eines der seltenen Bücher, die in einer Epoche ganz für sich stehen und denen es deshalb gelingt, weit über ihre Zeit hinaus zu wirken.

Nachtwachen von Bonaventura. Im Anhang: Des Teufels Taschenbuch. Mit einem Nachwort v. Peter Küppers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Pappband, Fadenheftung, 223 Seiten. 22,90 €.