Anatol Stefanowitsch: Eine Frage der Moral

Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf.

Robert Musil

Anatol Stefanowitsch ist mit seinem Bremer Sprachblog einer der bekanntesten Blogger der Republik; er hat Anglistik studiert und ist heute Professor für Sprachwissenschaft am Institut für Englische Philologie der FU Berlin. In der Reihe von kleinen Büchlein der Duden-Redaktion ist gerade ein Statement von ihm zur Frage der Political Correctness erschienen, das gleich im Titel die Frage benennt, mit der sich Stefanowitsch auseinandersetzen will. Nun sind moralische Fragen in aller Regel von einer Komplexität, die nicht nur widerstreitende Antworten auf ein und die selbe Frage erlaubt, sondern seit deutlich mehr als 2500 Jahren in Theologie und Philosophie ganze Scharen von Theorien und Theorie-Ansätzen geliefert hat. Es ist daher etwas merkwürdig, dass im 21. Jahrhundert ein wissenschaftlich gebildeter Mensch versucht, auf eine moralische Frage auf weniger als 60 kleinen Seiten eine Antwort zu geben.

Dass es mit dem ethischen Wissen von Anatol Stefanowitsch nicht sehr weit her ist, findet sich auf Seite 23:

Fast jede praktische Moralphilosophie von Konfuzius bis Kant beruht mehr oder weniger direkt auf der sogenannten goldenen Regel. Als Sprachwissenschaftler und moralphilosophischer Außenseiter werde ich diesen Vorbildern folgen und es ebenso halten.

Zu Konfuzius kann ich nichts sagen, aber Kants Kategorischer Imperativ beruht weder mehr noch weniger auf der sogenannten Goldenen Regel (groß geschrieben, weil die Regel nicht goldfarben, sondern ‚Goldene Regel‘ ein Eigenname ist). Wer das Gegenteil glaubt, kennt den Kategorischen Imperativ, wenn überhaupt, nur als isolierten Satz, nicht aber seine Position innerhalb der Kantischen Ethik. Ist aber alles nicht schlimm, da im weiteren weder Konfuzius noch Kant irgendeine Rolle spielen, sondern Stefanowitsch sie ausschließlich dazu gebraucht, seiner Version der Goldenen Regel Autorität zu verleihen; und das hat sie auch dringend nötig.

Stefanowitsch erkennt rasch, dass mit der Goldenen Regel („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“; im folgenden GR) allein kein Land zu gewinnen ist. Doch zuerst einmal stellt er fest, dass sich die GR positiv oder negativ formulieren lässt. Positive Fassungen der GR können zu Schwierigkeiten führen: Ich erinnere mich an eine Zeichnung von F. K. Waechter, die einen Mann zeigt, der auf die Kacheln eines Badezimmers eine exotische Strandlandschaft malt, während an der Tür des Bads heftig geklopft wird. Auf einem Schild im Bad liest man: „Bitte verlassen Sie das Badezimmer so, wie Sie es vorzufinden wünschen!“ Auch Stefanowitsch hegt Bedenken gegen die positive Formulierung der GR und hält die negative Formulierung für „robuster“, was wohl „weniger anfällig für gewollte und ungewollte Missverständnisse“ bedeuten soll. Seine spezifisch für sprachliche moralische Probleme formulierte GR lautet also:

Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstellt. [Auch in diesem Buch herrscht die Unsitte, vorgeblich wichtige Passagen durch halbfetten Druck herauszuheben, als könne der Leser nicht selbst entscheiden, was er für bedeutend hält.]

Nun versteht auch Stefanowitsch, dass diese Regel nicht viel taugt, wenn man sie nicht um weitere Vorschriften ergänzt, was denn einer wollen darf, und wie einer an die Stelle eines anderen kommt. Er versucht diese Probleme anekdotisch zu lösen, was naturgemäß zu kurz greift. Das eine Problem ist, dass sich der Anwender der GR mit dem jeweiligen Gegenüber identifizieren muss, damit die Anwendung nicht fehl geht. Gelingt diese Identifikation nicht („Schimpansen sind von grundsätzlich anderer Art, also kann ich gar nicht in die Lage kommen, an ihrer Stelle zu sein. Von daher ist ihre Benutzung für pharmazeutische Experimente völlig in Ordnung und kein moralisches Problem.“), scheitert die Anwendung der GR. Dies Problem der Empathie ist nicht einfach zu lösen, da etwa der Rassist gerade deshalb Rassist ist, weil er sich mit der von ihm verachteten Gruppe von Menschen nicht identifiziert. Wie der Dichter schreibt:

Den Neger? Nein, den haß’ ich nicht,
den dummen schwarzen Mohr.
Ich haß’ doch keinen Stinkemann,
wie komm’ ich mir da vor?

Das andere Problem liegt offenbar darin, wie ich jemandem vorschreibe, was er wollen darf bzw. wollen soll. Die bewährtesten Methoden, die wir dafür kennen, sind Zivilisation, Erziehung und Gruppenzwang; allen dreien haben wir im 20. Jahrhundert bei ihrem grandiosen Versagen in Sachen der Moral zuschauen dürfen. Es steht daher zu befürchten, dass die GR das eigentliche Problem der Begründung moralischen Verhaltens nur um eine Drehung der dialektischen Schraube verschiebt, und wir uns, sobald wir ernsthaft versuchen, sie anzuwenden, erst vor die eigentlichen Probleme gestellt sehen.

Lassen wir also das Problem der Identifikation moralischen Handelns bei Stefanowitsch auf sich beruhen, denn wir können uns auch ohne die GR darauf einigen, dass es unerwünscht ist, andere Menschen zu beleidigen und in ihren Gefühlen zu verletzen. Auch können wir einer allgemeinen Regel zustimmen, dass eine ethnische Gruppe selbst bestimmt, wie sie genannt werden möchte, und dass es Bezeichnungen für ethnische Gruppen gibt, deren Bedeutung aus der Geschichte des Umgangs mit dieser Gruppe mit deren Herabsetzung fest verbunden ist. Ich selbst bin ein halber „Spaghettifresser“ und weiß wenigstens annähernd, was das bedeutet. Es lässt sich unter den Wohlgesinnten darüber leicht Einigkeit erzielen; die anderen erreicht man leider weder durch Appelle an ihre Menschlichkeit noch durch Mahnung an die GR.

Und genau hier haben wir einen Punkt, der leider bei Stefanowitsch nicht vorkommt: Es kann wohl bei der Betrachtung der meisten Kulturen festgestellt werden, dass sie eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz haben, sich gegen andere Gruppe abzugrenzen. Dies geschieht wohl in den meisten Fällen auch sprachlich: Für die Chinesen sind Europäer Langnasen und ob die nordamerikanische Urbevölkerung wirklich von uns als „Bleichgesichtern“ gesprochen hat, möchte ich ohne neutrale Belege lieber nicht behaupten. Ich bin ganz sicher, dass Deutsche nicht nur Krauts und Schweinefresser sind, sondern sie weltweit unter zahlreichen anderen farbigen Ausdrücken geführt werden. Weiße US-Amerikaner sind fett und dumm, Mexikaner faul und illegal eingereist … na, ich höre mal auf, bevor ich noch Ärger bekomme. Die Abgrenzung der eigenen Gruppe und die Verächtlichmachung anderer ist offensichtlich ein weltweites und durch die Geschichte konstantes Phänomen. Hier wäre, bevor man versucht, dies Phänomen als ein moralisches Problem zu behandeln, ethnologisch und psychologisch zu prüfen, ob es sich dabei nicht um ein notwendiges und unter gewissen Aspekten evolutionär nützliches Verhalten der Spezies Homo sapiens handelt. Dies öffnet ein weites Feld der Forschung, die dann von anderen Wissenschaftlern erfolgreich ignoriert werden kann.

Neben der von einer Lösung weit entfernten moralischen Frage sind da noch zumindest eine historische und eine ästhetische, die sich nicht nur untereinander, sondern auch mit der moralischen überschneiden. Was etwa ist mit Kants Ansichten über die Neger?

§. 2.
Einige Merkwürdigkeiten von der schwarzen Farbe der Menschen.

1. Die Neger werden weiß geboren außer ihren Zeugungsgliedern und einem Ringe um den Nabel, die schwarz sind. Von diesen Theilen aus zieht sich die Schwärze im ersten Monate über den ganzen Körper.
2. Wenn ein Neger sich verbrennt, so wird die Stelle weiß. Auch lange anhaltende Krankheiten machen die Neger ziemlich weiß; aber ein solcher durch Krankheit weiß gewordener Körper wird nach dem Tode noch viel schwärzer, als er es ehedeß war.
3. Die Europäer, die in dem heißen Erdgürtel wohnen, werden nach vielen Generationen nicht Neger, sondern behalten ihre europäische Gestalt und Farbe. Die Portugiesen am Capo Verde, die in 200 Jahren in Neger verwandelt sein sollen, sind Mulatten.
4. Die Neger, wenn sie sich nur nicht mit weißfarbigen Menschen vermischen, bleiben selbst in Virginien durch viele Generationen Neger.

Niemand kann einen oder zahlreiche Menschen auf der Welt daran hindern, sich durch diese Darstellung von Afrikanern zu Recht beleidigt und verletzt zu fühlen. Was sollen wir nun tun? Kants Schriften an allen Stellen, an denen das N-Wort und wahrscheinlich noch zahlreiche andere Wörter zu finden sind, ändern und damit einen historischen Stand des ethnischen Vorurteils auslöschen? Oder die entsprechenden Schriften in den bibliothekarischen Giftschrank sperren und nur noch bei berechtigtem Forschungsinteresse herausgeben? Und was geschieht mit all den Tausenden von Kopien in privaten Bücherschränken? (Nun gut, die liest keiner, aber immerhin …) Und was ist mit wirklichen Rassisten?

Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu wenig entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: Sie setzten unter ihrer Haut zu viele kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.

Hieße das Umschreiben solcher Schriften nicht, einen Dummkopf wie Rudolf Steiner und das gesamte Ausmaß seiner Blödheit zu verharmlosen? Und wie ist es hier um unsere wissenschaftliche Pflicht zur Wahrhaftigkeit bestellt? Wer soll und wie diese beiden Güter gegeneinander abwägen?

Und was ist mit dem Neger bei Kafka, der noch dazu aus der Zeitung zitiert ist? Und was mit all den Negern, auf die gereimt wurde:

»Wenn Sie ein Dichter sind, bin ich ein Neger.«
Das alles sagte ich dem Herrn Verleger.

Muss jetzt die deutsche Literatur großräumig durchforstet und umgeschrieben werden? All diese Probleme tauchen bei Stefanowitsch nur ganz am Rande an den Beispielen von Ottfried Preußlers „Die kleine Hexe“ (Negerlein wurden vom Autor zu Messerwerfern geändert) und Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ (Negerkönig wird durch Eingriff des Verlags zu Südseekönig)  behandelt, bei denen sich leicht mit der Schulter zucken lässt. (Nun gut, andere zucken bei Kant mit der Schulter, als ob es bei dem alten Zausel drauf ankäme, ob da nun Neger steht oder nicht.) Aber gelöst sind alle diese Probleme, die sich ebenso um die Frage der Wahrhaftigkeit drehen wie die Frage nach politisch korrekter Sprache, nicht; nicht einmal ernsthaft in Erwägung gezogen.

Wenn wir über Moral und Wahrhaftigkeit sprechen, wie Stefanowitsch das tut, dann müssen wir es auch moralisch und wahrhaftig tun. Und das beginnt wahrscheinlich mit dem Eingeständnis, dass man auf 63 kleinen Seiten die Komplexität des gesamten Feldes nicht einmal ankratzen kann. Anatol Stefanowitsch ist herzlich und aufrichtig zuzustimmen, dass man all diejenigen, die anders genannt werden wollen, unbedingt und jederzeit so nennen soll, wie sie sich das wünschen. Niemand soll beleidigt und verletzt werden, wenn es sich irgend vermeiden lässt. Aber wir wollen auch nicht die Geschichte unserer und der meisten anderen Kulturen umschreiben, weil eine bestimmte ethnische Gruppe berechtigte Einwände gegen ihre Darstellung in dieser Geschichte vorbringen kann. Hier setzten die Verpflichtungen der Erziehung, der Zivilisation und des Gruppenzwangs ein, zu denen ja oben schon eine grundsätzliche Einschätzung abgegeben wurde.

In guter Absicht leider reichlich zu kurz gesprungen.

Anatol Stefanowitsch: Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen. Berlin: Dudenverlag, 2018. Broschur, 63 Seiten. 8,– €.

Theodor W. Adorno: Minima Moralia

Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid.

Adorno-Digitale-BibliothekBei der Kleinen Ethik Adornos, die in der Hauptsache zwischen 1944 und 1947 entstanden ist, handelt es sich wahrscheinlich um sein meistgelesenes Buch überhaupt. Die Auflage liegt inzwischen bei über 120.000 Exemplaren, was für ein deutschsprachiges, ernsthaft philosophisches Buch des 20. Jahrhunderts beachtlich ist. Dabei ist zu betonen, dass es Adorno seinen Lesern durchaus nicht einfach macht: Seine Sprache befindet sich überall auf der Höhe der Reflexion, die behandelten Themen werden vor dem Hintergrund einer nirgends ausführlich ausgeführten Gesellschaftstheorie analysiert und viele dieser Analysen sind sehr knapp gehalten; einzig die Gliederung des Materials in 153 Abschnitte, die selten mehr als drei Seiten umfassen, kommt der Lektüre des philosophischen Laien entgegen.

Adorno Minima MoraliaJe nach Lektüre lassen sich unterschiedliche Zentren des Buches ausmachen. Adorno selbst hat später die Handreichung gegeben, die „Minima Moralia“ seien ein Buch über das falsche Leben; genau so könnte man behaupten, dass sie ein Buch über die Unmöglichkeit einer Ethik in einer auf den Tauschwert aller Erscheinung geeichten Gesellschaft ist. Man kann es auch als eine differenzierende Fortsetzung der „Dialektik der Aufklärung“ lesen. Neben spezifisch ethischen Themen behandelt Adorno auch Fragen der Ästhetik, insbesondere der Erscheinungen der Massenkultur – sein Lieblingsbeispiel ist der Hollywood-Film, wobei hier zu bedenken ist, dass er die volle Entwicklung dieser Form des Kunstgewerbes zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht einmal erahnen konnte.

Die bedeutendste Schwierigkeit, die sich einer angemessenen Auseinandersetzung mit Adornos Ethik entgegenstellen dürfte, ist sein eigentümliches Menschenbild, das den Individualismus nahezu vollständig als fehlerhaftes begriffliches Konzept behandelt und mit Ausnahme weniger widerständiger Intellektueller und Künstler nurmehr den bis auf verschwindende Reste mit seiner gesellschaftlichen Funktion identischen Massenmenschen kennt. Man wird unter diesen Massenmenschen auf Anhieb wahrscheinlich nur wenig Bereitschaft finden, diesem anthropologischen Entwurf beizutreten. Die Lebensform der Menschheit ist – wie bereits gesagt – die grundsätzliche Reduzierbarkeit aller Erscheinungen auf ihren Tauschwert, sprich der Kapitalismus, als dessen konsequenteste Form sich der Faschismus erwiesen hat. Angesichts solcher Verhältnisse ist an eine Ethik im emphatischen Sinn nicht zu denken. Was bleibt ist die dialektische Kritik, die stets fortzuentwickeln ist, da das falsche Weltverhältnis die prinzipielle Tendenz hat, jegliche Kritik in sich zu vereinnahmen und aufzuheben. Es wäre für Adorno ein verzweifelter Genuss gewesen, hätte er erleben dürfen, wie sehr er mit seiner Analyse Recht behalten sollte.

Unabhängig davon, ob man dem zugrunde liegenden Weltbild zustimmt oder nicht, bietet das Buch eine Überfülle von präzisen und auf den Punkt formulierten Details. Ich selbst habe Adorno zuletzt in meiner Studienzeit gelesen und bei der erneuten Lektüre einen nicht erinnerten Reichtum an Einzelbeobachtungen und -formulierungen gefunden, die für sich bestehen uneingedenk der konkreten dialektischen Bewegung, der sie entstammen.

Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen. Nichts aber ist vielleicht verhängnisvoller für die Zukunft, als daß im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wird daran denken können, denn jedes Trauma, jeder unbewältigte Schock der Zurückkehrenden ist ein Ferment kommender Destruktion. – Karl Kraus tat recht daran, sein Stück »Die letzten Tage der Menschheit« zu nennen. Was heute geschieht, müßte »Nach Weltuntergang« heißen.

Theodor W. Adorno: Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Digitale Bibliothek Band 97 (CD-ROM). Berlin: Directmedia Publishing, 2004. Digitale Lizenzausgabe der Gesammelten Schriften in 20 Bänden des Suhrkamp Verlages.

Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation

Ich habe mich daher entschieden, diese ganze Komplexität der Wirklichkeit selbst zuzuschreiben, obwohl es natürlich gut möglich ist, daß wir einfach nicht alles hinreichend gut verstehen, um die verborgene Einfachheit zu entdecken.

Überzeugender Entwurf einer evolutionären Genese der menschlichen Sprache: Tomasello geht von Beobachtungen an Schimpansen aus, die sowohl hinweisende Gesten verwenden als auch ein Verständnis dafür zu haben scheinen, dass es sich bei anderen Artgenossen um Wesen mit Intentionen und Wahrnehmungen handelt. Sie scheinen in Gefangenschaft außerdem einen Sinn dafür zu entwickeln, dass Menschen im Gegensatz zu ihren Artgenossen bereit sind, ihnen in altruistischer Absicht zu helfen. Was Schimpansen aber offenbar im Vergleich zum Menschen fehlt, ist die Fähigkeit zusammen mit anderen Individuen gemeinsame Ziele zu entwickeln und zu verfolgen. Kooperationen zwischen Schimpansen basieren demnach nur auf der Verfolgung individualistischer Ziele der Kooperierenden, während bereits menschliche Kleinkinder nicht nur die Fähigkeit zeigen, mit Erwachsenen und anderen Kleinkindern echte gemeinsame Ziele zu verfolgen, sondern ihnen in einigen Fällen die Kooperation selbst wichtiger zu sein scheint als die Erreichung des Zieles.

Tomasello argumentiert dafür, dass die Verwendung von Zeigegesten, die in der kindlichen Entwicklung der Sprache allem Anschein nach als früheste Stufe auftritt, nicht nur ontogenetisch, sondern auch phylogenetisch den Übergang zwischen der beschränkten Kommunikation der Schimpansen und der Kommunikation des Menschen markiert. Er vermutet, dass das relativ späte Auftreten des für die differenzierte Lautbildungsfähigkeit des Menschen verantwortliche Gens vor ca. 150.000 Jahren ein Indikator dafür ist, dass der gesprochenen Sprache eine lange Phase der Evolution gestischer Verständigung vorausgegangen ist. Er macht die Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit gestischer Kommunikation an der spontanen Entwicklung differenzierter gestischer Kommunikationssysteme bei gehörlosen Kindern einsichtig.

Tomasellos ergänzende Ausführungen zur Entstehung komplexer Grammatiken und zum Erzählen sind bewusst skizzenhaft gehalten und alles in allem weniger überzeugend als die Darstellung seiner Theorie der Sprachentstehung, was für den eigentlichen Gehalt des Buches aber nur wenig zur Sache tut. Der Hauptteil ist für den Laien verständlich und stilistisch gut geschrieben, wenn auch nicht frei von Redundanzen, was aber sicherlich ein Teil der Leserschaft bei der Differenziertheit mancher Argumentationsstränge nicht als nachteilig empfinden wird.

Spannend fände ich eine Anbindung dieser Theorie an die philosophische Ethik: Sollte sich tatsächlich aus evolutionsbiologischer Sicht argumentieren lassen, dass einer der grundlegenden Schritte der Menschwerdung in der Fähigkeit des Menschen zur Entwicklung altruistischer Konzepte und Zielsetzungen besteht, ließe sich damit wirkungsvoll gegen das Menschenbild aller sogenannten egoistischen bzw. egozentrischen Ethiken argumentieren.

Eine höchst fruchtbare Lektüre und die erste tatsächlich überzeugende Theorie der Sprachentstehung, die ich kennengelernt habe.

Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. stw 2004. Berlin: Suhrkamp, 2011. Broschur, 410 Seiten. 15,– €.

Richard Dawkins: Der Gotteswahn

dawkins_gotteswahnWieder einmal mehr ein Beleg dafür, dass es einem Autor gar nichts nützt, Recht zu haben. Dawkins, seit vielen Jahren einer der lautstarken Vertreter der Evolution als naturwissenschaftlicher Übertheorie – im Grunde lässt sich alles durch die Evolution erklären und sollte sich tatsächlich etwas nicht durch die Evolution erklären lassen, so lässt sich wenigstens diese Unmöglichkeit aus der Evolution erklären –, hat hier zu einer breiten Polemik gegen »die Religion« angesetzt, behandelt aber hauptsächlich die Auswüchse des Christentums und des Islams. Das ist besonders im zweiten Teil ganz witzig, wenn Dawkins seitenweise christlich-fundamentalistischen Unfug zitiert. Natürlich ist das alles pro domo geschrieben, wenn auch immer wieder behauptet wird, es gehe um »die Wahrheit«. Es geht im Gegenteil um Forschungsgelder und Projektmittel, die durch kreationistischen Blödsinn gefährdet sind, wenn christliche Fundamentalisten sich mit Politikern in wichtigen Schaltstellen verbünden.

Die Schwäche von Dawkins’ Standpunkt zeigt sich an einer Frage, die er selbst so formuliert:

Damit will ich nicht sagen, dass wir die Ansichten dieser Leute [der Religionsvertreter] um jeden Preis zensieren sollten, aber warum rollt die Gesellschaft ihnen den roten Teppich aus, als hätten sie eine ähnliche Fachkenntnis wie beispielsweise ein Moralphilosoph, ein Familienanwalt oder ein Arzt? [S. 36]

Ja, warum tut die Gesellschaft das? Diese Frage bleibt im Buch letztlich unbeantwortet, was Dawkins aber nicht groß zu stören scheint. Unverkennbar haben Religionen eine unverzichtbare Funktion in ihren Gesellschaften, da sie die Angriffe der Aufklärung in den letzten 300 Jahre ansonsten kaum so gut überstanden hätten, wie sie es getan haben. Sicherlich haben sie in der weitgehend säkularen Realität der westlichen Welt nicht mehr die Macht und den Einfluss, der sie einst ausgezeichnet hat, aber sie sind offenbar immer noch recht aktive Teilnehmer an den Diskursen um Moral, Menschen- und Weltbild. Zum Verständnis dieses Phänomens ist es wenig hilfreich, den entsprechenden Standpunkt gebetsmühlenartig immer erneut als »irrational« zu bezeichnen. Damit rennt man nur offene Türen ein: Selbstverständlich ist der Glaube an Gott als Schöpfer der Welt und an seine Vertreter auf Erden als moralische Instanzen irrational, aber was schadet das? Angesichts der Tatsache, dass es der Rationalität weder gelungen ist, eine rationale Letztbegründung der Moral zu leisten, noch sie in der Lage ist, dem Laien die Frage nach der Herkunft des Universums verständlich zu beantworten, ist es nur wenig verwunderlich, dass irrationale Konzepte der Religionen weiterhin weltweit erfolgreich sind.

Selbstverständlich ist Dawkins darin zuzustimmen, dass es am Ende nur den Wissenschaften gelingen wird, ein Weltbild zu erzeugen, das wenigstens in irgendeiner Weise eine Annäherung an die Wirklichkeit darstellt. Aber wozu soll das gut sein, wenn dieses Weltbild mehr als 99 Prozent aller Menschen – und darunter eben auch politische Entscheidungsträger – von einem Verständnis eben dieses Weltbildes ausschließt? Für den »normalen Menschen« heißt es schon heute, sich zu entscheiden zwischen zwei Glaubensrichtungen: Der der Religionen oder der der Naturwissenschaft – die eine ist ihm so rational oder irrational wie die andere. Und die Naturwissenschaften werden noch unverständlicher werden, sich immer noch weiter von einem alltäglichen Verstehen der Welt entfernen. Was geht uns der Urknall an? Was soll daran vorteilhaft sein, dass die Urknall-Theorie angeblich besser mit irgendwelchen »Tatsachen« und »Belegen« übereinstimmt als die Schöpfungsgeschichte? Sicherlich: Für diejenigen, die der Bruder- oder meinetwegen Schwesternschaft der Wissenschaft einmal beigetreten sind, liegt alles glasklar auf der Hand. Aber was ist mit denen, die außen vor stehen und immer außen vor stehen werden? Für sie ist es wenig hilfreich, wenn sie von Herrn Dawkins über vielen Seiten hinweg als Idioten beschimpft werden.

Insgesamt scheitert das Buch an seinem Thema, da es Dawkins nicht gelingt, ein ausreichendes Verständnis für die Funktion der Religion in der Gesellschaft zu entwickeln. Seine Polemik bleibt selbstverliebt und oberflächlich. Dawkins entwickelt keinen Sinn dafür, dass die Wissenschaften den meisten Menschen kryptischer und irrationaler erscheinen als die Religionen und dass eine andere große Gruppe heute an die Wissenschaft genau so glaubt, wie sie früher an eine Religion geglaubt hätte. Dawkins entwickelt keinen Sinn für die Grenzen und Mängel des wissenschaftlichen Weltbildes und für dessen nur mangelhafte Leistungen, wenn es darum geht, dem Leben des Einzelnen einen Sinn zu vermitteln. Natürlich gelingt das auch einer Religion nicht »wirklich«, aber es scheint vielen Menschen doch besser zu sein als nichts.

Dass aber auch das Denken so gar nichts helfen will!

Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Berlin: Ullstein, 2007. Pappband, 575 Seiten. 22,90 €.

Charles Dickens: Harte Zeiten

dickens_harte_zeiten Harte Zeiten ist 1854 im Anschluss an Bleakhaus entstanden. Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte des Geschwisterpaares Louisa und Tom Gradgrind, die von ihrem Vater nach einem streng rationalen Programm erzogen werden: Fantasie, Märchen, überhaupt Gefühle aller Art sind verpönt, stattdessen werden die Wissenschaften, insbesondere aber Mathematik – genauer: die Statistik – und Logik hoch gehalten. Die Kinder geraten dementsprechend: Louisa heiratet den Bankier und Webereidirektor Josiah Bounderby, der ihr gänzlich gleichgültig ist, weil sie hofft, damit ihrem Bruder Tom das Leben erleichtern zu können, der in Bounderbys Bank als Angestellter beschäftigt ist. Tom verfällt aber, sobald er dem väterlichen Regime entflohen ist, nahezu sofort der Spielleidenschaft und häuft rasch drückende Schulden an.

In dieser Situation kommt der weltgewandte, aber tief gelangweilte Dandy James Harthouse nach Coketown, einer kleinen, fiktiven Industriestadt, in der der Roman spielt, um sich um einen Parlamentssitz in der Gegend zu bewerben. Er wird als Parteifreund auch im Hause Bounderbys empfangen und entschließt sich gleich bei ihrer ersten Begegnung, Louisa zu verführen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, kümmert er sich um den haltlosen Tom, der gerade zu dieser Zeit einen Einbruch in die Bank vortäuscht, um seine eigene Veruntreuung zu vertuschen. Harthouse nimmt sich Toms als vorgeblicher Freund an, um sich das Vertrauen Louisas zu erwerben, die sich schließlich vor seinen Verführungskünsten, denen sie ebenso wenig entgegenzusetzen hat wie ihren eigenen Gefühlen für diesen Mann, verzweifelt ins elterliche Heim flüchtet. Am Ende scheitern beide Geschwister: Tom muss ins Ausland fliehen, wo er im Elend stirbt, und Louisa wird von ihrem scheinheiligen und angeberischen Ehemann verstoßen und geschieden.

Als Nebenstrang dient die Geschichte Stephen Blackpools, eines Coketowner Arbeiters, der vom Schicksal arg gebeutelt wird: Seine Frau ist Alkoholikerin, die Frau, die er liebt, Rachael, ist genau wie er selbst zu moralisch, um eine außereheliche Beziehung zu beginnen, er ist ein Außenseiter unter den Arbeitern, da er nicht bereit ist, sich ihrem Arbeitskampf anzuschließen und schließlich wird er von seinem Chef Bounderby auch noch entlassen, weil der Blackpools Einstellung nicht versteht. So verlässt Blackpool die Stadt, nicht ohne dass Tom zuvor durch einen kleinen Trick den Verdacht auf ihn lenkt, für den Bankraub verantwortlich zu sein. In dieser Nebenhandlung kommen nicht nur die nicht nur für Dickens typischen aufrechten, hoch moralischen und bitter armen Idealtypen vor, sondern sie wird von ihm auch dazu benutzt, ein erschreckendes Bild von der Industriearbeit seiner Zeit zu zeichnen. Ergänzt wird dieses Bild durch die Figur Slackbridge, der als gewerkschaftlicher Redner und Arbeiterführer an zwei Stellen zu Wort kommt. Dickens ist für die Figur Slackbridges zu Recht scharf kritisiert worden, da er mit seinen letztlich naiven Gutmenschen Blackpool und Rachael die soziale und gesellschaftliche Problematik seiner Zeit eindeutig unterläuft.

Besonders der erste Teil des Romans lebt von Dickens scharfer und witziger Satire gegen den Glauben an eine reine Rationalität, wie sie im Utilitarismus Jeremy Benthams oder John Stuart Mills zum Ausdruck kommt. Sicherlich spitzt Dickens Musterfamilie Gradgrind die Thesen der Utilitaristen polemisch zu, aber der Kritik, die aus den von Dickens aufgezeigten Konsequenzen einer seelen- und mitleidslosen Rationalität folgt, kann sich der Utilitarismus nur schlecht entziehen. Es ist schlicht falsch, zwischenmenschliche Beziehungen auf ein statistisches Rechenexempel reduzieren zu wollen, und wer dergleichen versucht, missversteht wesentlich, worum es im menschlichen Miteinander geht.

Insgesamt sicherlich nicht der gelungenste Roman von Dickens, aber gerade aufgrund seines polemischen Gehalts unterhaltsam und lesenswert. Die Übersetzung von Christiane Hoeppener ist recht korrekt – wenn es auch einzelne Unsicherheiten bei den verwendeten Anreden gibt –, macht aber insgesamt einen eher steifen Eindruck.

Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Christiane Hoeppener. Rowohlt Jahrhundert, Bd. 10. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1987. 382 Seiten. – Diese Übersetzung ist derzeit nur antiquarisch lieferbar.

Lieferbare Alternativ-Ausgabe: Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Paul Heichen. Insel Taschenbuch 955. Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1986 ff. 433 Seiten mit Illustrationen v. F. Walker u. Maurice Greiffenhagen. 11,50 €.